TE Vwgh Erkenntnis 2021/1/7 Ra 2019/18/0451

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Veröffentlicht am 07.01.2021
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19103000
19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1
EURallg
MRK Art2
MRK Art3
32013L0033 Aufnahme-RL Art21

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2019/18/0473
Ra 2019/18/0474
Ra 2019/18/0475
Ra 2019/18/0476
Ra 2019/18/0477
Ra 2019/18/0478

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter, die Hofrätin Dr.in Sembacher und den Hofrat Mag. Tolar als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revisionen von 1. N S, 2. H S, 3. A N, 4. Z N, 5. M S, 6. A S, und 7. A S, alle vertreten durch Dr. Benno Wageneder, Rechtsanwalt in 4910 Ried/Innkreis, Promenade 3, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts jeweils vom 7. Oktober 2019, 1. W204 2208982-1/10E, 2. W204 2208976-1/12E, 3. W204 2219878-1/8E, 4. W123 2194845-1/12E, 5. W204 2208978-1/11E, 6. W204 2208979-1/7E und 7. W204 2208980-1/10E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision des Viertrevisionswerbers wird insoweit zurückgewiesen, als sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten und des Status eines subsidiär Schutzberechtigten sowie die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 Asylgesetz 2005 richtet.

Die weiteren Revisionen werden insoweit zurückgewiesen, als sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten wenden.

II. zu Recht erkannt:

Im Übrigen werden die von den erst- bis dritt- und fünft- bis siebtrevisionswerbenden Parteien angefochtenen Erkenntnisse wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften und das vom Viertrevisionswerber angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Der Bund hat der erstrevisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 und der viertrevisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1        Die revisionswerbenden Parteien sind Staatsangehörige Afghanistans aus Kabul. Die Fünftrevisionswerberin ist die Mutter der Erst- und der Zweitrevisionswerberin sowie des Sechst- und des Siebtrevisionswerbers. Der Viertrevisionswerber ist der Ehemann der Zweitrevisionswerberin sowie der Vater der Drittrevisionswerberin, ihrer gemeinsamen ehelichen Tochter. Die Eheschließung fand nach der Stellung des Antrages auf internationalen Schutz in Österreich, und zwar im Jahr 2018 nach islamischem Ritus und standesamtlich im Jahr 2019, statt.

2        Zum Verfahrensgang hinsichtlich der Erst- bis Dritt- und Fünft- bis Siebtrevisionswerber

3        Die Fünftrevisionswerberin und ihre damals minderjährigen Kinder (die Erst-, Zweit-, Sechst- und Siebtrevisionswerber) stellten am 17. Juli 2016 Anträge auf internationalen Schutz. Als Fluchtgrund brachten sie zusammengefasst einerseits vor, dass der (verschollene) Familienvater Kommandant gewesen sei und die Familie aus diesem Grund öfter von den Taliban bedroht worden sei. Andererseits würde den weiblichen Familienmitgliedern aufgrund ihrer westlichen Orientierung in Afghanistan Verfolgung drohen und eine Fortführung ihres Lebensstils nicht möglich sein.

4        Nach der Geburt der Drittrevisionswerberin stellte die Zweitrevisionswerberin als ihre gesetzliche Vertreterin am 2. April 2019 einen Antrag auf internationalen Schutz, wobei keine eigenen Fluchtgründe für die Drittrevisionswerberin angegeben wurden.

5        Mit Bescheiden jeweils vom 5. Oktober 2018 sowie vom 8. Mai 2019 (für die Drittrevisionswerberin) wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diese Anträge jeweils zur Gänze ab, gewährte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ Rückkehrentscheidungen und stellte jeweils fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Für die freiwillige Ausreise legte das BFA jeweils eine Frist von 14 Tagen fest.

6        Das BFA ging vom Nichtvorliegen einer persönlichen Bedrohung oder Verfolgung aus und erachtete eine Rückkehr in die Heimatprovinz für möglich, ohne dass es zu einer Verletzung der durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte kommen würde. Die Rückkehrentscheidungen gründete das BFA auf das Überwiegen des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung gegenüber den persönlichen Interessen der revisionswerbenden Parteien an einem Verbleib in Österreich.

7        Die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit in einer Urteilsurkunde ausgefertigten Erkenntnissen als unbegründet ab (jeweils Spruchpunkt A.). Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig (jeweils Spruchpunkt B.).

8        Das BVwG stellte - soweit für das vorliegende Verfahren relevant - fest, dass die Fünftrevisionswerberin in Afghanistan keine Schule besucht und keine Ausbildung absolviert habe. Sie habe in Kabul als Hausfrau gelebt. Die Familie habe in Kabul in einem zweistöckigen Eigentumshaus gelebt und keine finanziellen Probleme gehabt. Alle Kinder der Fünftrevisionswerberin, auch die Mädchen, hätten in Kabul den halbstündigen Fußweg zur Schule alleine zurückgelegt und wären auch spazieren oder Eis essen gegangen. Die Revisionswerberinnen hätten dort Punjabi oder ein langes Oberteil und Hosen, beim Verlassen des Hauses ein Kopftuch getragen. Der Ehemann der Fünftrevisionswerberin, dessen Aufenthaltsort nicht festgestellt werden könne, sei aufgrund seiner Arbeit oft nicht zuhause gewesen, weshalb die Fünftrevisionswerberin die täglichen Einkäufe erledigt habe. Zumindest die Zweitrevisionswerberin sei geschminkt gewesen und habe Nagellack getragen.

9        Die Familie habe in Afghanistan oft Besuch von der erweiterten Familie empfangen. In Kabul würden noch drei Schwestern und drei Brüder der Fünftrevisionswerberin leben. Die Brüder besäßen Läden und arbeiteten als Verkäufer. Die Fünftrevisionswerberin sei in Kontakt zu einer Schwester, die in Kabul in einem Mietshaus wohne, und könne über diese den Kontakt zu weiteren Familienmitgliedern herstellen. Den minderjährigen revisionswerbenden Parteien sei ein Schulbesuch in Afghanistan möglich. Bei einer Rückkehr könne die Familie vorübergehend bei den Familienangehörigen wohnen und würden die grundlegenden Bedürfnisse der revisionswerbenden Parteien durch ihre Angehörigen versorgt. Zudem würden sie finanziell und organisatorisch bei der Suche nach einer Wohnung sowie von Arbeit und Schulplätzen unterstützt werden. Die finanzielle Unterstützung sei auch bei einer Ansiedlung in Herat und Mazar-e Sharif anzunehmen.

10       Die Zweitrevisionswerberin leide unter der Augenkrankheit eines fortgeschrittenen Keratokonus, sei deswegen in Österreich operiert worden, verfüge ohne Kontaktlinsen über ein Sehvermögen von zirka 10 Prozent und mit Spezialkontaktlinsen von zirka 80 Prozent. In Afghanistan habe sie eine Brille getragen.

11       Die Erstrevisionswerberin leide ebenfalls an einem Keratokonus, trage deshalb eine Brille und sei in Afghanistan in Behandlung gewesen. Sie leide an einer mittelgradigen depressiven Episode, sei aber nicht suizidgefährdet. Alle im Entscheidungszeitpunkt volljährigen revisionswerbenden Parteien, somit die Zweitrevisionswerberin, die Fünftrevisionswerberin und der Siebtrevisionswerber, seien arbeitsfähig.

12       Der Siebtrevisionswerber besuche derzeit einen Pflichtschulabschlusslehrgang, habe einen Werte- und Orientierungskurs besucht und in einem näher genannten Zeitraum im Bauhof und Schulzentrum seiner Wohnsitzgemeinde gearbeitet. In seiner Freizeit spiele er Fußball und sei in der Schule und im Fußballverein gut integriert. In Kabul habe er neun Jahre lang die Schule besucht und daneben als Schneider gearbeitet.

13       Die Erst- bis Dritt- und die Fünftrevisionswerberinnen würden in Österreich kein Kopftuch und westliche Kleidung tragen, sie gingen gemeinsam schwimmen und würden dabei westliche Badekleidung tragen. Die Fünftrevisionswerberin habe einen Deutschkurs besucht, aber keine Prüfung abgelegt, lerne zuhause Deutsch, habe einen Werte- und Orientierungskurs absolviert, habe Putzarbeiten im Rahmen des Dienstleistungsschecks geleistet und arbeite einmal wöchentlich ehrenamtlich in einem Heim für beeinträchtigte Menschen. Sie sei kein Mitglied in einem Verein. Die Zweitrevisionswerberin habe einen Deutschkurs besucht und in ihrer Unterkunft gegen Entgelt gearbeitet sowie einen Werte- und Orientierungskurs besucht. Sowohl vor der Geburt ihrer Tochter als auch danach habe sie ihre Freizeit mit ihrer Familie verbracht. Die Erstrevisionswerberin besuche eine landwirtschaftliche Berufs- und Fachschule, habe einen Werte- und Orientierungskurs absolviert, verbringe ihre Freizeit im Wesentlichen mit ihrer Familie, spiele Volleyball mit ihrem Bruder und Freundinnen und verbringe Zeit mit einer „Leihoma“, die ihr beim Lernen helfe. Die Drittrevisionswerberin habe ihren Lebensmittelpunkt in ihrer Familie. Daran anknüpfend hielt das BVwG in der rechtlichen Würdigung fest, keine der Revisionswerberinnen hätte seit ihrer Einreise eine „westliche“ Lebensweise angenommen, die einen wesentlichen Bestandteil ihrer Identität und einen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde. Vielmehr würde ihre Lebensweise im Wesentlichen jener entsprechen, die sie bereits in Afghanistan gepflegt hätten und wegen der sie nie bedroht worden seien.

14       Zum subsidiären Schutz hielt das BVwG fest, dass trotz der besonderen Vulnerabilität der Familie, die das BVwG in der Minderjährigkeit der erst-, dritt- und sechstrevisionswerbenden Parteien erblickt, keine reale Gefahr einer Verletzung der Rechte nach Art. 2 und 3 EMRK drohe. Die Erstrevisionswerberin werde bald volljährig und sei dann nicht mehr vulnerabel, auch der Sechstrevisionswerber habe den Großteil seines Lebens in Afghanistan verbracht. Die zum Entscheidungszeitpunkt des BVwG minderjährigen revisionswerbenden Parteien würden im Familienverband zurückkehren. Zudem sei die Fünftrevisionswerberin auch schon vor ihrer Ausreise primär für die Versorgung ihrer Kinder zuständig gewesen, da ihr Mann aufgrund seiner Arbeit nicht zuhause gewesen sei. Die Familie verfüge über Verwandtschaft des Ehemanns bzw. Vaters in Kabul, auch der Viertrevisionswerber habe Verwandte in Kabul. Diese Verwandten würden auch Wohnmöglichkeiten zur Verfügung stellen, soweit die Familie nicht in das Eigentumshaus zurückkehren könne. In Afghanistan wären die minderjährigen Revisionswerber im Familienverband vor Übergriffen geschützt und könnten - wie bis zu ihrer Ausreise - für Afghanistan große Freiheiten genießen. Die minderjährigen Kinder seien auch nicht von Kinderarbeit bedroht. Der Siebtrevisionswerber sei ein gesunder Mann im erwerbsfähigen Alter, der am Erwerbsleben teilnehmen könne, er könne mit der Unterstützung der Geschwister seiner Mutter die Bedürfnisse der Familie decken. Zudem könne der Ehemann der Zweitrevisionswerberin ebenfalls zur Deckung der Grundbedürfnisse beitragen. Es lägen keinen gesundheitlichen Gefährdungen vor, auch die Augenkrankheiten der Erst- und Zweitrevisionswerberin seien bereits in Afghanistan behandelt worden. Aufgrund der guten wirtschaftlichen Situation der (weiteren) Familie sei damit zu rechnen, dass diese auch für die weitere Behandlung aufkommen werde. Die Krankheit sei nicht lebensbedrohlich.

15       Überdies stehe den revisionswerbenden Parteien eine innerstaatliche Fluchtalternative in Herat und Mazar-e Sharif offen. Die große Familie könne die revisionswerbenden Parteien finanziell unterstützen. Weiters sei der Fünftrevisionswerberin und dem Siebtrevisionswerber, auch wenn sie in Österreich nur über ein geringfügiges Einkommen verfügten, zuzumuten, einen Teil für die Wiederansiedlung in Afghanistan zu sparen, zumal ihnen bereits seit der negativen Entscheidung des BFA habe bewusst sein müssen, dass ihr Aufenthalt möglicherweise beendet würde. Auch der Viertrevisionswerber könne entweder selbst oder mit Unterstützung seines Vaters und dessen Verwandtschaft unterstützend eingreifen. Es sei kein Grund ersichtlich, warum die fünft-, die zweit- und die bald volljährige erstrevisionswerbende Partei sowie der Viertrevisionswerber nicht zum Familieneinkommen beitragen könnten. Die Parteien würden sich nicht als qualifiziert schutzbedürftiger als die übrige Bevölkerung erweisen.

16       Zum Verfahrensgang hinsichtlich des Viertrevisionswerbers

17       Der Viertrevisionswerber stellte am 22. Juli 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Als Fluchtgrund brachte er zusammengefasst vor, dass sein Vater für ein amerikanisches Unternehmen gearbeitet habe, weshalb seine Familie mehrmals von der Taliban bedroht worden sei.

18       Mit Bescheid vom 5. April 2018 wies das BFA den Antrag des Viertrevisionswerbers zur Gänze ab, gewährte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise fest.

19       Das BFA ging in seiner Entscheidung von der Unglaubhaftigkeit des Fluchtvorbringens aus und stützte sich dabei unter anderem auf Widersprüche in der Schilderung des Zeitpunkts sowie des Verlaufs der Ausreise.

20       Die dagegen erhobene Beschwerde wies das BVwG nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab (Spruchpunkt A.). Es erklärte die Revision für nicht zulässig (Spruchpunkt B.).

21       Das BVwG ging unter Verweis auf Widersprüche, Unstimmigkeiten und mangelnde Plausibilität von der Unglaubhaftigkeit des Fluchtvorbringens aus. Der Viertrevisionswerber könne, ohne dass dadurch eine Gefahr für ihn zu befürchten wäre, in seine Heimatprovinz Kabul bzw. alternativ nach Mazar-e Sharif zurückkehren und die Unterstützung von Familienangehörigen in der Region in Anspruch nehmen.

22       Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung eines Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - über die wegen ihres sachlichen, rechtlichen und persönlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Beratung und Beschlussfassung verbundenen - Revisionen erwogen:

23       Die Revisionen sind teilweise zulässig und insoweit auch begründet.

24       Zur Zurückweisung der Revision des Viertrevisionswerbers, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten und des Status eines subsidiär Schutzberechtigten sowie die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen wendet, und zur Zurückweisung der weiteren Revisionen, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten wenden

25       Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

26       Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen. Ein solcher Beschluss ist gemäß § 34 Abs. 3 VwGG in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.

27       Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

28       Soweit sich der Viertrevisionswerber gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten und des Status eines subsidiär Schutzberechtigten sowie gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 durch das ihn betreffende Erkenntnis des BVWG vom 7. Oktober 2019, W123 2194845-1/12E, wendet, wird die Zulässigkeit der Revision nicht dargetan.

29       Das Zulässigkeitsvorbringen der Revision enthält keinerlei Vorbringen, dass bzw. aufgrund welcher Umstände eine Fehlbeurteilung durch das BVwG hinsichtlich der Nichtgewährung von Asyl und subsidiärem Schutz sowie der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 an den Viertrevisionswerber vorliegen würde. Die Revision war daher, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten und des Status eines subsidiär Schutzberechtigten sowie gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 durch das Erkenntnis BVwG vom 7. Oktober 2019, W123 2194845-1/12E, wendet, mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.

30       Zur Zulässigkeit der weiteren Revisionen, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten wenden, wird vorgebracht, die Beweiswürdigung des BVwG zum Fluchtvorbringen sei unvertretbar und das BVwG habe die für die Frage der Asylgewährung relevanten Richtlinien des UNHCR und von EASO außer Acht gelassen.

31       Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten „westlich“ orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren (vgl. VwGH 22.3.2017, Ra 2016/18/0388, mwN).

32       Nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrechterhalten werden könnte, führt jedoch dazu, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (vgl. VwGH 23.1.2018, Ra 2017/18/0301).

33       Das BVwG hat schon in sachverhaltsmäßiger Hinsicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Asyl nach den zuvor genannten rechtlichen Vorgaben in den vorliegenden Fällen verneint. Soweit sich die Revision gegen die dazu angestellte Beweiswürdigung wendet, ist darauf hinzuweisen, dass der Verwaltungsgerichtshof nach ständiger Rechtsprechung als Rechtsinstanz tätig und im Allgemeinen nicht zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Einzelfall berufen ist. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. etwa VwGH 23.3.2020, Ra 2020/14/0084, mwN). Dass dies hier der Fall wäre, zeigen die Revisionen mit ihrem allgemein gehaltenen Vorbringen dazu nicht auf.

34       Ebenso wird von den Revisionen nicht dargetan, dass das BVwG von der oben zitierten Rechtsprechung zur Asylgewährung aufgrund „westlicher Orientierung“ abgewichen wäre. Soweit die Revisionen im Zusammenhang mit diesem Fluchtvorbringen darauf rekurrieren, dass einschlägige Richtlinien des UNHCR und Berichte der EASO zum Risikoprofil westlich orientierter Frauen außer Acht gelassen worden seien, wird unter Bedachtnahme auf den festgestellten Sachverhalt die Relevanz der behaupteten Verfahrensfehler nicht dargetan.

35       Es werden somit auch in den Revisionen der erst-, zweit-, dritt-, fünft-, sechst- und siebtrevisionswerbenden Parteien, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten richten, keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG dargelegt, weshalb auch diese Revisionen im genannten Ausmaß gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen waren.

36       Zur Aufhebung der angefochtenen Erkenntnisse im Übrigen

Zu den Revisionen der Erst-, der Zweit- und der Fünftrevisionswerberin sowie des Sechst- und des Siebtrevisionswerbers

37       Als zulässig und berechtigt erweisen sich die genannten Revisionen jedoch insoweit, als sie sich gegen die mangelnde Auseinandersetzung mit der besonderen Vulnerabilität der revisionswerbenden Parteien im Zusammenhang mit der Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz richten.

38       Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen hat, ist eine besondere Vulnerabilität bei der Beurteilung, ob den revisionswerbenden Parteien bei einer Rückkehr in die Heimat eine Verletzung ihrer durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte droht, im Speziellen zu berücksichtigen (vgl. etwa VwGH 6.9.2018, Ra 2018/18/0315, mwN).

39       Im vorliegenden Revisionsfall ist zu berücksichtigen, dass es sich nicht nur im Hinblick auf die Minderjährigkeit der erst-, dritt- und sechstrevisionswerbenden Parteien, sondern auch im Hinblick auf die Erkrankung der Erst- und der Zweitrevisionswerberin an einer Augenkrankheit (Keratokonus) um eine besonders vulnerable und besonders schutzbedürftige Personengruppe handelt (vgl. die Definition schutzbedürftiger Personen in Art. 21 der EU-Richtlinie 2013/33/EU, Aufnahmerichtlinie). Dies verlangt eine konkrete Auseinandersetzung damit, welche Rückkehrsituation die revisionswerbenden Parteien in Kabul tatsächlich vorfinden.

40       Das BVwG ist bei seiner Darstellung der zu erwartenden Rückkehrsituation insbesondere davon ausgegangen, dass (auch) der Erst- und der Zweitrevisionswerberin zuzumuten sei, eine ihrem Bildungsstand entsprechende Tätigkeit auszuüben und beispielsweise durch Näharbeiten zum Familieneinkommen beizutragen. Das BVwG belässt dabei jedoch die Frage, ob ihre Augenkrankheiten solche Erwerbstätigkeiten zulassen, ungeprüft. Es begnügt sich damit, festzuhalten, dass diese Krankheiten nicht lebensbedrohlich, bereits in Afghanistan behandelt worden und auch weiterhin in Afghanistan behandelbar seien, wobei aufgrund „der guten wirtschaftlichen Situation der (weiteren) Familie“ auch die dafür nötigen Kosten bestritten werden könnten. Allerdings lässt das bekämpfte Erkenntnis konkrete Sachverhaltsfeststellungen zur Behandelbarkeit dieser Augenkrankheiten in Afghanistan und zu den Kosten solcher Behandlungen vermissen. Festgestellt wird diesbezüglich nämlich lediglich, bereits in Afghanistan seien wegen dieser Krankheiten Brillen verschrieben worden. Die weitere Feststellung, dass die Zweitrevisionswerberin wegen dieser Krankheit („fortgeschrittener Keratokonus“) in Österreich bereits an einem Auge operiert worden sei und ohne Kontaktlinsen über eine Sehleistung von 10 %, mit Spezialkontaktlinsen von 80 % verfüge, lässt die in Afghanistan erfolgte bloße Verschreibung von Brillen nicht ohne Weiteres als sachgerechte Behandlung dieser offenbar fortschreitenden Krankheit erscheinen.

41       Ausgehend davon bedarf es im gegenständlichen Fall einer genaueren, auf aktuellen Berichten beruhenden Auseinandersetzung mit der Frage, ob den (vulnerablen) revisionswerbenden Parteien bei einer Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere in Kabul, eine Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte droht. Zwar setzt sich das BVwG mit einigen Aspekten der Art. 3 EMRK-Prüfung auseinander, jedoch lässt das angefochtene Erkenntnis eine ganzheitliche Bewertung der möglichen Gefahren, insbesondere in Anbetracht der bereits ausgeführten besonderen Schutzbedürftigkeit der minderjährigen bzw. an einer Augenkrankheit leidenden revisionswerbenden Parteien, vermissen.

42       Die von den o.g. revisionswerbenden Parteien angefochtenen Erkenntnisse waren daher in Bezug auf die Abweisung der Beschwerden gegen die Nichtgewährung von subsidiärem Schutz und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

43       Zur Revision des Viertrevisionswerbers, soweit sie sich gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und die darauf aufbauenden Aussprüche wendet:

44       Soweit sich die Revision des Viertrevisionswerbers gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung (und die davon rechtlich abhängenden Aussprüche) wendet, erweist sie sich ebenso als zulässig und berechtigt:

45       Beim Viertrevisionswerber handelt es sich um den Ehemann der Zweitrevisionswerberin und den Vater der Drittrevisionswerberin. Es besteht nach den Ausführungen des BVwG unbestritten ein Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK. Aufgrund der zu den Revisionen der Ehefrau und der Tochter zuvor getroffenen Entscheidung treten gemäß § 42 Abs. 3 VwGG diese Rechtssachen in die Lage zurück, in der sie sich vor Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses befunden haben. Vor diesem Hintergrund ist jenen im Rahmen der Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK maßgeblichen Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts, wonach ein Eingriff in das Familienleben nicht stattfinde, weil gegen sämtliche Familienmitglieder aufenthaltsbeendende Maßnahmen ergingen, der Boden entzogen.

46       Das vom Viertrevisionswerber angefochtene Erkenntnis war daher, soweit das BVwG die Beschwerde gegen die Erlassung der Rückkehrentscheidung gegen den Viertrevisionswerber abgewiesen hat, ebenso wie die rechtlich darauf aufbauenden Aussprüche wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

47       Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. In kostenrechtlicher Hinsicht ist das Familienverfahren der erst- bis dritt- und fünft- bis siebtrevisionswerbenden Parteien einerseits und das Verfahren des Viertrevisionswerbers andererseits zu unterscheiden. Für die Bekämpfung der diese beiden Verfahren betreffenden Erkenntnisse gebührt jeweils ein einfacher Kostenersatz. Das Mehrbegehren war hingegen abzuweisen.

Wien, am 7. Jänner 2021

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2019180451.L00

Im RIS seit

08.03.2021

Zuletzt aktualisiert am

08.03.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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