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E000 EU- Recht allgemeinNorm
AVG §56Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant und den Hofrat Dr. Sulzbacher als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des G C I in G, vertreten durch Mag. Anne Kessler, Rechtsanwältin in 8010 Graz, Kalchberggasse 6/1, gegen das am 15. Juli 2020 mündlich verkündete und mit 13. August 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, G311 2183916-2/12E, betreffend Aufenthaltsverbot (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein rumänischer Staatsangehöriger, hält sich jedenfalls seit September 2006 durchgehend im Bundesgebiet auf. Seit dem 13. November 2012 verfügte er über eine Anmeldebescheinigung.
2 Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts Linz vom 7. August 2017 wurde er wegen des am 14. August 2016 als Beitragstäter begangenen Verbrechens des Raubes zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt.
3 Im Hinblick auf diese Verurteilung erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen ihn - im zweiten Rechtsgang nach Aufhebung eines ersten Bescheides vom 15. Dezember 2017 und Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG - mit Bescheid vom 20. September 2018 gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Aufenthaltsverbot, erteilte gemäß § 70 Abs. 3 FPG keinen Durchsetzungsaufschub und erkannte einer Beschwerde gemäß § 18 Abs. 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung ab.
4 Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung insoweit statt, als die Dauer des Aufenthaltsverbotes auf vier Jahre herabgesetzt und gemäß § 70 Abs. 3 FPG ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat gewährt wurde. Im Übrigen wurde die Beschwerde mit der Maßgabe abgewiesen, dass hinsichtlich der Erlassung des Aufenthaltsverbots § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG iVm Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG anzuwenden sei.
5 In der Begründung ging das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass der Revisionswerber nicht die Voraussetzung eines zehnjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet im Sinn des § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG erfülle. Allerdings habe er bereits das Daueraufenthaltsrecht gemäß § 53a NAG erworben, weshalb auf ihn der Gefährdungsmaßstab des § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG anzuwenden sei. Diesen Gefährdungsmaßstab erfülle der Revisionswerbers auf Grund der von ihm begangenen Straftat. Er sei zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt worden, weil er als Beitragstäter an einem Raub an einer alten, wehrlosen Dame in deren Wohnung beteiligt gewesen sei, wobei die Frau und ihr Mitbewohner gefesselt, geknebelt und geschlagen worden seien. Der Raub sei geplant in den Nachtstunden verübt worden, um die Geschädigten möglichst zu überraschen. Der Revisionswerber habe Kontakte zwischen Mittätern hergestellt, sei an der konkreten Tatplanung beteiligt und in deren Kenntnis gewesen, habe für die unmittelbaren Täter Fahrdienste geleistet und diesen Unterkunft gewährt. Aus all dem ergebe sich jedenfalls eine erhebliche Gefahr für die Grundinteressen der Gesellschaft. Das beschriebene Fehlverhalten des Revisionswerbers lasse auf eine erhebliche kriminelle Energie schließen, weshalb davon auszugehen sei, dass der anzuwendende erhöhte Gefährdungsmaßstab erfüllt sei und eine relevante Minderung oder ein Wegfall der vom Revisionswerber ausgehenden Gefährdung erst nach einem längeren Zeitraum des Wohlverhaltens in Freiheit angenommen werden könne.
6 Auch die im Lichte des § 9 BFA-VG gebotene Abwägung der privaten und familiären Interessen des Revisionswerbers mit den entgegen stehenden öffentlichen Interessen habe eine Abstandnahme von der Erlassung des Aufenthaltsverbots nicht rechtfertigen können. Der Revisionswerber habe zu seinem in Österreich lebenden Bruder und dessen Familie sehr guten Kontakt. Er habe auch viele Jahre in Österreich gearbeitet und verfüge somit über wesentliche private Bindungen zu Österreich. Angesichts seines gravierenden Fehlverhaltens sei jedoch davon auszugehen, dass das Aufenthaltsverbot zur Erreichung von in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Zielen dringend geboten sei.
7 Es bedürfe im Hinblick auf die Art und Weise der gegenständlichen schweren Angriffe auf die körperliche Unversehrtheit und das Eigentum von Menschen eines ausreichenden Zeitraums des Wohlverhaltens des Revisionswerbers, um sicherzustellen, dass er nicht neuerlich ein derartiges Verhalten setzen werde. Angesichts dessen, dass er sich als Freigänger seit über einem Jahr wohlverhalten habe, des Umstands, dass er kein unmittelbarer Täter gewesen sei, seiner erheblichen privaten Bindungen zum Bundesgebiet und des Erwerbs des Daueraufenthaltsrechts sei die Dauer des Aufenthaltsverbots aber auf vier Jahre herabzusetzen gewesen.
8 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
9 Nach der genannten Verfassungsbestimmung ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird. Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich (u.a.) wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG „nicht zur Behandlung eignen“, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
10 An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen dieser in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
11 Unter diesem Gesichtspunkt wird in der Revision vorgebracht, dass das Bundesverwaltungsgericht zu Unrecht nicht den erhöhten Gefährdungsmaßstab nach § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG angewandt habe. Dies trifft jedoch nicht zu.
12 Gegen einen Unionsbürger, der sich unter (potentieller) Inanspruchnahme seines unionsrechtliches Freizügigkeitsrechtes in Österreich aufhält oder aufgehalten hat, kann nach § 67 Abs. 1 erster und zweiter Satz FPG ein Aufenthaltsverbot erlassen werden, wenn aufgrund seines persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist, wobei das persönliche Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen muss, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Hinsichtlich Unionsbürgern, die - gemäß § 53a Abs. 1 NAG nach einem fünfjährigen rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalt im Bundesgebiet - das Daueraufenthaltsrecht erworben haben, muss für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes der in § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG vorgesehene Gefährdungsmaßstab, der jenem in Art. 28 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) entspricht, erfüllt sein, nämlich dass der (weitere) Aufenthalt des Unionsbürgers eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Hält sich der Unionsbürger allerdings bei Erlassung des Aufenthaltsverbotes schon zehn Jahre rechtmäßig und ununterbrochen in Österreich auf, so verlangt der fünfte Satz des § 67 Abs. 1 FPG für die Zulässigkeit dieser Maßnahme, dass aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden könne, die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich werde durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet. Dieser Maßstab entspricht jenem des Art. 28 Abs. 3 lit. a der Freizügigkeitsrichtlinie (vgl. zum Ganzen unter Hinweis auf Vorjudikatur zuletzt VwGH 26.11.2020, Ro 2020/21/0013, Rn. 5).
13 Der Genuss des verstärkten Schutzes nach Art. 28 Abs. 3 lit. a der Freizügigkeitsrichtlinie, der mit § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG im innerstaatlichen Recht umgesetzt wurde, ist davon abhängig, dass sich der Betroffene in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisung im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufgehalten hat. Dieser Aufenthaltszeitraum von zehn Jahren muss grundsätzlich ununterbrochen gewesen sein und ist vom Zeitpunkt der Verfügung der Ausweisung des Betroffenen an zurückzurechnen. Zeiträume der Verbüßung einer Freiheitsstrafe finden für die Zwecke der Gewährung des verstärkten Schutzes nach der genannten Bestimmung keine Berücksichtigung und diese Zeiten können die Kontinuität des Aufenthalts im Sinne dieser Bestimmung grundsätzlich unterbrechen. Diesbezüglich ist eine die Gesamtheit der im Einzelfall relevanten Umstände berücksichtigende umfassende Beurteilung vorzunehmen, ob die zuvor mit dem Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsverbindungen durch die Verbüßung einer Freiheitsstrafe abgerissen sind. Dabei kommt es unter anderem darauf an, wie lange sich der Fremde vor dem Freiheitsentzug im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat sowie auf die Gesamtdauer der Unterbrechungen und deren Häufigkeit (siehe dazu unter Bedachtnahme auf EuGH [Große Kammer] 23.11.2010, Tsakouridis, C-145/09, und EuGH 16.1.2014, M. G., C-400/12, neuerlich VwGH 26.11.2020, Ro 2020/21/0013, nunmehr Rn. 10/11).
14 Das Bundesverwaltungsgericht hat die Anwendbarkeit des Gefährdungsmaßstabs des § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG im Wesentlichen mit dem Argument verneint, dass der Revisionswerber bereits Anfang 2016 mit den Tatplanungen begonnen habe. Bis zur Tatausführung im August 2016 habe er sich nicht veranlasst gesehen, sein Verhalten zu überdenken und von einer Teilnahme am Raub Abstand zu nehmen, vielmehr seien die Tatplanungen intensiviert worden. Seine nicht unerheblichen „Integrationsbande“ zum Bundesgebiet seien auf Grund der detaillierten Tatplanung und der konkreten Ausführung „jedenfalls abgerissen“.
15 Damit scheint das Bundesverwaltungsgericht die oben wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes misszuverstehen. Nach dieser Rechtsprechung wird der zehnjährige Aufenthaltszeitraum nicht generell dann unterbrochen, wenn die Integrationsverbindungen mit dem Aufnahmemitgliedstaat in irgendeiner Form (etwa durch die Begehung von Straftaten) abgerissen sind; vielmehr muss dies durch eine Abwesenheit vom Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates bzw. die einer solchen Abwesenheit grundsätzlich gleichzuhaltende Verbüßung einer Haftstrafe erfolgt sein. Unter dieser Voraussetzung kann es freilich eine Rolle spielen, ob die zuvor erreichte Integration durch die Begehung von Straftaten bereits als relativiert anzusehen war.
16 Im Ergebnis ist die Beurteilung des Bundesverwaltungsgerichts, dass der Revisionswerber nicht auf einen ununterbrochenen zehnjährigen Aufenthaltszeitraum vor der Verfügung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme verweisen konnte, aber nicht unvertretbar. Er befand sich nämlich vom 12. November 2016 bis zum 27. Juni 2017 sowie vom 2. Juli 2017 bis zum 7. August 2017 in Untersuchungshaft und sodann ab dem 7. August 2017 in Strafhaft zur Verbüßung einer sechsjährigen Freiheitsstrafe. Im Fall einer derart langen Freiheitsstrafe könnte - unabhängig davon, wie weit der Vollzug der Strafe schon fortgeschritten ist, und selbst unter Berücksichtigung einer möglichen vorzeitigen (bedingten) Entlassung - nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände die weitere Kontinuität des Aufenthalts angenommen werden (vgl. zu einem Fall, in dem eine fünfjährige unbedingte Freiheitsstrafe verhängt worden war, VwGH 22.12.2020, Ra 2020/21/0452). Solche außergewöhnlichen Umstände sind hier nicht ersichtlich, zumal der Aufenthalt des Revisionswerbers vor dem Antritt der Haft nach den - in der Revision letztlich nicht bestrittenen - Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts erst knapp zehn Jahre betragen hatte. Ausgehend davon, dass die Verbüßung der Freiheitsstrafe im vorliegenden Fall die Kontinuität des Aufenthalts des Revisionswerbers in Österreich unterbricht, durfte demnach vertretbar davon ausgegangen werden, dass zum Zeitpunkt der Verfügung des Aufenthaltsverbots kein als durchgehend zu wertender zehnjähriger Aufenthalt im Sinn des § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG vorlag. Anzumerken ist noch, dass der für diese Beurteilung maßgebliche Zeitpunkt jener der Verfügung einer rechtskräftigen - und nicht schon der erstinstanzlichen - aufenthaltsbeendenden Maßnahme ist, hat das Bundesverwaltungsgericht doch generell die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung bestehende Sach- und Rechtslage zugrunde zu legen und dabei auch die absehbare weitere Entwicklung, insbesondere die voraussichtliche Dauer einer Freiheitsentziehung, zu berücksichtigen (vgl. auch VwGH 29.9.2020, Ra 2020/21/0297, Rn. 9, wonach bei Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf den Zeitpunkt ihrer Durchsetzbarkeit abzustellen ist).
17 Dass angesichts der dem Revisionswerber zur Last liegenden Straftat und der daraus ableitbaren Gefährlichkeit, für deren Wegfall es nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erst eines ausreichend langen Wohlverhaltens nach Verbüßung der Freiheitsstrafe bedarf (vgl. etwa VwGH 4.3.2020, Ra 2020/21/0035, Rn. 11), der somit maßgebliche Maßstab des § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG erfüllt ist, hat das Bundesverwaltungsgericht aber in jedenfalls nicht unvertretbarer Weise bejaht. Was die nach § 9 BFA-VG vorgenommene Interessenabwägung betrifft, so trug das Bundesverwaltungsgericht den Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib in Österreich ohnehin durch Herabsetzung der Dauer des Aufenthaltsverbotes Rechnung. Auch diesbezüglich liegt eine zumindest vertretbare Beurteilung vor, die der Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision entgegensteht (vgl. beispielsweise VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0199, Rn. 20, mwN).
18 In der Revision werden somit insgesamt keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die - nach Abtretung der Beschwerde durch den Verfassungsgerichtshof (VfGH 7.10.2020, E 3250/2020) ausgeführte - Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 18. Jänner 2021
Gerichtsentscheidung
EuGH 62009CJ0145 Tsakouridis VORABSchlagworte
Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3 Maßgebende Rechtslage maßgebender SachverhaltEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020210511.L00Im RIS seit
01.03.2021Zuletzt aktualisiert am
01.03.2021