TE Vfgh Erkenntnis 2020/11/24 E3748/2020

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Veröffentlicht am 24.11.2020
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Index

L0350 Gemeindewahl

Norm

B-VG Art83 Abs2, Art130, Art141 Abs1 litb
Nö GdO 1973 §43, §108, §109
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter betreffend die Zurückweisung einer Beschwerde gegen den Bescheid einer Niederösterreichischen Kreiswahlbehörde durch das Landesverwaltungsgericht als unzulässig; Bescheid über die Wahl der Ausschüsse eines Gemeinderates nicht von der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte ausgeschlossen

Spruch

I. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B-VG) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Das Land Niederösterreich ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 3.771,60 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. In der konstituierenden Sitzung des Gemeinderates der Stadtgemeinde Groß Gerungs vom 20. Februar 2020 fand unter anderem die Wahl des Prüfungsausschusses statt. Diese Wahl wurde von den Beschwerdeführern – mit Ausnahme des Fünftbeschwerdeführers – gemäß §109 NÖ Gemeindeordnung 1973 (im Folgenden: NÖ GO 1973) fristgerecht bei der Bezirkswahlbehörde angefochten.

In der Sitzung des Gemeinderates der Stadtgemeinde Groß Gerungs vom 13. Mai 2020 fand die Wahl des Bauausschusses des Gemeinderates statt. Auch dieses Wahlverfahren wurde von den Beschwerdeführern – mit Ausnahme des Viertbeschwerdeführers, der zu diesem Zeitpunkt auf Grund der Niederlegung seines Mandats bereits aus dem Gemeinderat ausgeschieden war – gemäß §109 NÖ GO 1973 fristgerecht bei der Bezirkswahlbehörde angefochten.

Beide Anfechtungen wurden im Wesentlichen damit begründet, dass die Anwendung des d'Hondt'schen Verfahrens bei der Verteilung der Mandate im Rahmen dieser Wahlen rechtswidrig sei.

2. Mit Bescheid der Kreiswahlbehörde Zwettl als Bezirkswahlbehörde vom 23. Juni 2020 wurde diesen Anfechtungen nicht stattgegeben. Dies wurde im Wesentlichen damit begründet, dass nach der NÖ GO 1973 bei der Verteilung der Anzahl der Mandate auf die im Gemeinderat vertretenen Wahlparteien das d'Hondt'sche Verfahren anzuwenden sei.

3. Die gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerden der Beschwerdeführer wies das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich mit Beschluss vom 9. September 2020 als unzulässig zurück. Dies wird im Wesentlichen damit begründet, dass die Wahlen des Prüfungsausschusses und des Bauausschusses als solche "in die mit der Vollziehung betrauten Organe einer Gemeinde" iSd Art141 Abs1 litb B-VG in die Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes fallen würden, weshalb eine Beschwerde an das Verwaltungsgericht nach Art130 Abs1 Z1 iVm Art130 Abs5 B-VG ausgeschlossen sei.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B-VG), und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt werden.

Begründend wird dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass die Wahl der Gemeinderatsausschüsse nach der NÖ GO 1973 nicht in die Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes nach Art141 Abs1 B-VG falle. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich sei daher zur Entscheidung über die Beschwerde der Beschwerdeführer zuständig gewesen. Mit der Zurückweisung der Beschwerde habe es zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert.

5. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich und die Kreiswahlbehörde Zwettl haben jeweils die Gerichts- bzw Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch abgesehen.

II. Rechtslage

Die maßgeblichen Bestimmungen der NÖ Gemeindeordnung 1973 (NÖ GO 1973), LGBl 1000-0 idF LGBl 35/2020, lauten auszugsweise wie folgt:

"§43

Gemeinderatsausschüsse

Die Gemeinderatsausschüsse haben jene Angelegenheiten, für die sie gebildet wurden, vorzuberaten und einen bestimmten Antrag beim Gemeindevorstand (Stadtrat) einzubringen.

[…]

§108

Anfechtungsberechtigung, Anfechtungsfrist, Anfechtungsgründe

(1) Die Wahl des Bürgermeisters, des Gemeindevorstandes (Stadtrates) und der Ausschüsse können von jedem Mitglied des Gemeinderates und von jeder im Gemeinderat vertretenen Wahlpartei schriftlich innerhalb einer Woche ab dem Tag der Wahlen angefochten werden.

[…]

§109

Anfechtungsverfahren

(1) Die Anfechtungen müssen beim Gemeindeamt (Stadtamt) eingebracht werden. Sie haben keine aufschiebende Wirkung. Über die Anfechtung entscheidet die Bezirkswahlbehörde.

[…]"

III. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:

2. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch die Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes verletzt, wenn das Verwaltungsgericht eine ihm gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002) oder wenn es in gesetzwidriger Weise seine Zuständigkeit ablehnt, etwa indem es zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg 15.482/1999, 15.858/2000, 16.079/2001 und 16.737/2002).

3. Ein solcher Fehler ist dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich unterlaufen:

Der Verfassungsgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung ausgesprochen, dass Wahlen in einen Ausschuss des Gemeinderates, der ausschließlich die Stellung eines Hilfsorganes des Gemeinderates hat (vgl §43 NÖ GO 1973), nicht unter den Begriff "mit der Vollziehung betrautes Organ der Gemeinde" fallen; sie sind daher nicht nach Art141 Abs1 litb B-VG bekämpfbar. Da ein Gemeinderatsausschuss auch keinen "allgemeinen Vertretungskörper" darstellt, kann die Wahl in einen solchen auch nicht nach Art141 Abs1 lita B-VG angefochten werden (vgl zB VfSlg 7678/1975, 16.854/2003, 18.288/2007, 19.345/2011; siehe auch VfSlg 19.453/2011).

Andere Bestimmungen als die oben genannten, die in Betracht kämen, um eine Kompetenz des Verfassungsgerichtshofes zur Entscheidung über die Wahl in einen Ausschuss des Gemeinderates nach der NÖ GO 1973 zu begründen, gibt es nicht. Entgegen der Ansicht des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich hat daran auch die Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 nichts geändert, weil insbesondere die Bestimmungen der Art141 Abs1 lita und b B-VG durch diese Novelle unverändert geblieben sind und die in diesem Rahmen eingeführte Bestimmung des Art141 Abs1 litj B-VG an diese – wie gesagt nicht geänderten – Kompetenzen des Verfassungsgerichtshofes nur anknüpft.

Vor diesem Hintergrund liegt dem im vorliegenden Fall nach §109 Abs1 NÖ GO 1973 erlassenen Bescheid der Kreiswahlbehörde Zwettl, mit dem über die Anfechtung von Wahlen in Ausschüsse des Gemeinderates entschieden wurde, keine Angelegenheit zugrunde, die nach Art130 Abs5 B-VG von der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte ausgeschlossen ist. Vielmehr war gegen diesen Bescheid eine Beschwerde nach Art130 Abs1 Z1 B-VG zulässig. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich hätte also im vorliegenden Fall über die rechtzeitig eingebrachte Beschwerde in der Sache entscheiden müssen. Da es die Beschwerde jedoch als unzulässig zurückwies, hat es den Beschwerdeführern gegenüber zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert und die Beschwerdeführer damit in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt.

IV. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführer sind somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten sind ein Streitgenossenzuschlag in Höhe von € 763,– und Umsatzsteuer in Höhe von € 588,60 enthalten.

Schlagworte

Gemeinderecht Organe, Gemeinderat, Wahlen, Verwaltungsgericht Zuständigkeit, Wahlanfechtung administrative, Landesverwaltungsgericht, VfGH / Zuständigkeit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:E3748.2020

Zuletzt aktualisiert am

19.02.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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