TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/24 L516 1419130-2

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Veröffentlicht am 24.08.2020
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Entscheidungsdatum

24.08.2020

Norm

AsylG 2005 §55 Abs1
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55
VwGVG §28 Abs2

Spruch

L516 1419130-2/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Paul NIEDERSCHICK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb XXXX , StA Pakistan, vertreten durch Mag. Robert BITSCHE, Rechtsanwalt, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.03.2017, Zahl IFA: XXXX , zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs 2 VwGVG stattgegeben, Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides wird behoben und XXXX wird gemäß § 55 Abs 1 Z 1 und Z 2 AsylG der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

II. Die Spruchpunkte II und III des angefochtenen Bescheides werden gemäß § 28 Abs 2 VwGVG ersatzlos behoben.

B)

Die ordentliche Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

Das BFA wies mit Bescheid vom 09.03.2017 (I.) den Antrag des Beschwerdeführers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen vom 23.02.2016 gemäß § 55 AsylG ab und erließ gemäß § 10 Abs 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 3 FPG, stellte (II.) gemäß § 52 Abs 9 FPG fest, dass die Abschiebung nach Pakistan gemäß § 46 FPG zulässig sei und sprach (III.) aus, dass gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde. Mit der Beschwerde wird der Bescheid zur Gänze angefochten und die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG beantragt.

Mit Schriftsatz vom 16.07.2020 übermittelte der Beschwerdeführer eine Stellungnahme und Unterlagen zur Bescheinigung seiner zwischenzeitlich erfolgten Integrationsschritte.

1. Sachverhaltsfeststellungen:

[regelmäßige Beweismittel-Abkürzungen: S=Seite; AS=Aktenseite des Verwaltungsaktes des BFA; NS=Niederschrift; VS=Verhandlungsschrift; SN=schriftliche Stellungnahme; EG=Eingabe; OZ=Ordnungszahl des Verfahrensaktes des Bundesverwaltungsgerichtes; ZMR=Zentrales Melderegister; IZR=Zentrales Fremdenregister; GVS=Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich; SD=Staatendokumentation des BFA; LIB=Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA]

1.1 Der Beschwerdeführer führt in Österreich die im Spruch angeführten Namen und sowie das ebenso dort angeführte Geburtsdatum. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Pakistan. Seine Identität steht fest. (Erkenntnis AsylGH 04.03.2013, E12 419.130-1/2011-13E, S 5f; AS 121f)

1.2 Am 23.02.2016 stellte der Beschwerdeführer den verfahrensgegenständlichen Antrag (AS 108ff).

1.3 Der Beschwerdeführer reiste im April 2011 in Österreich ein (NS 02.01.2013, S 2=AS 72) und stellte einen Asylantrag der im Rechtsmittelweg vom Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 04.03.2013, Zahl E12 419.130-1/2011-13E, abgewiesen wurde und der Beschwerdeführer zur Ausreise verpflichtet wurde (AS 13ff).

Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner Einreise ununterbrochen in Österreich auf. Er bestreitet seinen Lebensunterhalt seit Jahren aus Eigenem und bezog lediglich von 06.04.2011 bis 19.04.2011 Leistungen aus der Grundversorgung für hilfsbedrüftige Fremde. Er ist gesund, verfügt über einen österreichischen Führerschein der Klasse B und seit 12.11.2012 über die Gewerbeberechtigung zur Beförderung von Gütern mit Kraftfahrzeugen oder Kraftfahrzeugen mit Anhängern. Seit mehreren Jahren ist der Beschwerdeführer selbständig und erlaubt als Zusteller erwerbstätig. Zuletzt erwirtschafete er durch seine Erwerbstätigkeit etwa netto EUR 3.000 pro Monat. Weder beim Finanzamt noch bei der Sozialversicherung bestehen offene Forderungen gegen den Beschwerdeführer. Er ist sohin arbeitswillig, arbeitsfähig und selbsterhaltungsfähig. Er wohnt in einer eigenen Mietwohnung. (ZMR 31.03.2017; GVS 31.03.2017; GISA 24.07.2020; Gewerbeanmeldung AS 128; Kopie öst. Führerschein AS 121f; Rechnungsunterlagen OZ 3; Bestätigung Finanzamt 15.06.2020, OZ 3; Bestätigung SVS 16.06.2020, OZ 3)

Er hat mittlerweile seinen Lebensmittelpunkt, seine Freunde, seine Bekannte und sein soziales Netz in Österreich, was die vorgelegten Unterstützungsschreiben, die von österreichischen Staatsbürgern verfasst wurden und überwiegend langjährige Freundschaften zum Beschwerdeführer bestätigen, belegen. Von seinen Freunden werden ihm auch gute Deutschkenntnisse attestiert. Im Juli 2015 absolvierte der Beschwerdeführer eine zertifizierte Deutschprüfung auf dem Sprachniveau A2. (Unterstützungsschreiben OZ 3; Deutschzertifikat AS 117)

Er ist strafrechtlich unbescholten. (Strafregister der Republik Österreich)

2. Beweiswürdigung:

Die Sachverhaltsfeststellungen stützen sich auf den Verwaltungsverfahrensakt des BFA, den Gerichtsakt des Bundesverwaltungsgerichtes und der vom Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 16.07.2020 abgegebenen Stellungnahme und Bescheinigungsmittel (OZ 3). Die konkreten Beweismittel sind bei den Sachverhaltsfeststellungen bzw in der Beweiswürdigung jeweils in Klammer angeführt.

2.1 Die Staatsangehörigkeit und Herkunft des Beschwerdeführers ergeben sich aus den vom AsylGH getroffenen Feststellungen in dessen Erkenntnis vom 04.03.2013, Zahl E12 419.130-1/2011-13E. Die Identität steht aufgrund des vorgelegten österreichischen Führerscheines (AS 121f) fest (zur Identitätsfeststellung mittels eines österreichischen Führerscheins siehe VwGH 16.11.1988, 88/02/0113).

2.2 Die Feststellungen zum Antrag des Beschwerdeführers ergeben sich direkt aus dem Akt (AS 108ff; AS 210ff).

2.3 Die Feststellungen zur Einreise des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen eigenen Angaben gegenüber der Landespolizeidirektion Wien vom 02.07.2013 als auch aus dem bereits zitierten Erkenntnis des AsylGH (AS 13ff).

2.4 Seine Angaben zu seinem Aufenthalt in Österreich, zu seiner aktuellen Lebenssituation, seiner erlaubten Erwerbstätigkeit und zu seinen sozialen Kontakten erwiesen sich als widerspruchsfrei, sie wurden durch die von ihm vorgelegten Bescheinigungen zum Nachweis seiner bereits gesetzten Integrationsschritte (OZ 3; gelegte Rechnungen, Gewerbeanmeldung, Bestätigungen von FA und SVS, Unterstützungsschreiben) belegt und stehen auch im Einklang mit den vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Auszügen aus den behördlichen Datenregistern. Die Sprachkenntnisse wurden aufgrund des vorgelegten Deutschzertifikates und den Bestätigungen seiner Freunde feststellt. Die strafrechtliche Unbescholtenheit ergibt sich aus dem unverdächtigen Strafregisterauszug.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

Spruchpunkt I

Stattgabe der Beschwerde und Erteilung eines Aufenthaltstitels

Rechtsgrundlagen

3.1. Gemäß § 55 Abs 1 AsylG ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn 1.) dies gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist und 2.) der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl I Nr 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl I Nr 189/1955) erreicht wird. Gemäß Abs 2 ist eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen, wenn nur die Voraussetzung des Abs 1 Z 1 vorliegt.

3.2. Gemäß § 9 Abs 1 BFA-VG ist die Erlassung einer Entscheidung, mit der in das Privat- oder Familienleben eingegriffen wird, nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

Gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK insbesondere zu berücksichtigen: 1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war; 2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens; 3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens; 4. der Grad der Integration; 5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden; 6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit; 7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts; 8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren; 9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

Zum gegenständlichen Verfahren

3.3 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (VwGH 23.02.2017, Ra 2016/21/0325). Es ist zwar auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte dann nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses auszugehen, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren (ebenso VwGH 23.02.2017, Ra 2016/21/0325).

Der Verwaltungsgerichtshof hat zu dieser Judikatur auch ausgesprochen, dass die Aufenthaltsdauer entsprechend zu berücksichtigen ist, wenn sich ein Fremder fast zehn Jahre im Inland aufhält (vgl VwGH 2013/22/0247 (über neuneinhalb Jahre), 2012/22/0169 (neuneinhalb Jahre).

3.4 Fallbezogen hält sich der Beschwerdeführer gegenwärtig seit knapp neuneinhalb Jahre in Österreich auf. Auf Leistungen aus der Grundversorgung war er nur für wenige Tage nach seiner Einreise in Österreich angewiesen. Er ist seit Jahren selbständig erwerbstätig, verfügt über eine Gewerbeberechtigung und erwirtschaftet mit seiner Tätigkeit ein überdurchschnittlich hohes Einkommen. Seine Existenz ist damit gesichert. Seine Konten beim Finanzamt als auch bei der Sozialversicherung weisen keine offenen Posten aus. Er spricht Deutsch zumindest auf dem Sprachniveau A2, ist Mitglied in einem Sportverein und pflegt mehrjährige Freundschaften zu österreichischen Staatsbürgern. Schließlich ist er strafrechtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer hat somit ein gewisses Maß an Integration erlangt und es kann unter Berücksichtigung der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, zu Personen die fast zehn Jahre oder darüber in Österreich aufhältig sind, nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer seine in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren. Vielmehr hat sich der Beschwerdeführer fallbezogen tatsächlich sozial wie beruflich in fortgeschrittener Weise in die Österreichische Gesellschaft integriert.

Das Bundesverwaltungsgericht gelangt daher im konkret zu beurteilenden Fall hinsichtlich der bereits erfolgten Integration des Beschwerdeführers in die österreichische Gesellschaft unter Anwendung der zuvor zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu dem Ergebnis, dass unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des vorliegenden Falles das Interesse des Beschwerdeführers an der Fortführung seines Privatlebens in Österreich das öffentliche Interesse an einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme überwiegt. Es ist auch keine ausreichende Rechtfertigung zu erkennen, warum öffentliche Interessen es zwingend erfordern würden, dass der Beschwerdeführer Österreich verlassen müsste.

3.5 Der Beschwerdeführer übt zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit aus, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze überschritten wird.

3.6 Es wird daher im Ergebnis der Beschwerde gegen Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides spruchgemäß stattgegeben und in Stattgabe des Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird dem Beschwerdeführer gemäß § 55 Abs 1 AsylG der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

Spruchpunkt II

Zur ersatzlosen Behebung der Spruchpunkte II und III des angefochtenen Bescheides

3.7 Nach dem zuvor dargestellten Ergebnis liegen die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Abschiebung des Beschwerdeführers nach Pakistan gemäß § 46 FPG und die Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 FPG nicht mehr vor, weshalb gleichzeitig die betreffenden Spruchpunkte ersatzlos behoben werden.

Zu B)

Revision

3.8 Die ordentliche Revision ist nicht zulässig, da die für den vorliegenden Fall relevante Rechtslage durch die zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geklärt ist.

3. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung plus Aufenthaltsdauer Deutschkenntnisse Erwerbstätigkeit Geringfügigkeitsgrenze Integration Interessenabwägung private Interessen Privatleben Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig Selbsterhaltungsfähigkeit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:L516.1419130.2.00

Im RIS seit

19.02.2021

Zuletzt aktualisiert am

19.02.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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