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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
B-VG Art7 Abs1 Satz3Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Versagung eines Aufenthaltstitels betreffend einen an einer nicht heilbaren Krankheit leidenden Staatsangehörigen von Saudi Arabien; keine ausreichende Interessenabwägung beim Vorliegen eines Erteilungshindernisses sowie mangelhafte Berücksichtigung der BehinderungSpruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer ist staatenlos und lebte von seiner Geburt bis zu seiner Ausreise 2014 in Saudi-Arabien. Der Beschwerdeführer leidet an einer seltenen Erkrankung ("Ehlers Danlos Syndrom"), auf Grund derer er ständiger medizinischer Behandlung bedarf, auf den Rollstuhl und im Alltag auf die Hilfe seines Bruders und seines Vaters, die mit ihm in der gemeinsamen Wohnung leben, angewiesen ist. Der Beschwerdeführer hält sich aus gesundheitlichen Gründen meistens in der Wohnung auf. Laut amtsärztlichem Gutachten aus 2019 ist es dem Beschwerdeführer aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich, sich Deutschkenntnisse auf B1-Niveau anzueignen und damit das Modul II der Integrationsvereinbarung zu erfüllen.
Auf Grund seiner Erkrankung und des damit einhergehenden komplexen Behandlungsbedarfes hat das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer mit Erkenntnis vom 28. April 2017 den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Saudi-Arabien zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt. Diese Aufenthaltsberechtigung wurde in der Folge verlängert.
Der Beschwerdeführer ist arbeitsunfähig, derzeit in der Grundversorgung und bezieht Pflegegeld der Stufe 3.
2. Mit Bescheid vom 25. Oktober 2019 wies der Landeshauptmann von Wien den Antrag des Beschwerdeführers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt – EU" nach §45 Bundesgesetz über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich (Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz – NAG) mit der Begründung ab, der Aufenthalt des Beschwerdeführers könne zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht Wien mit Erkenntnis vom 21. Februar 2020 ab. Der Beschwerdeführer erfülle die Voraussetzung des §11 Abs2 Z4 iVm Abs5 NAG nicht, da er Leistungen aus der Grundversorgung beziehe. Hinzu komme, dass die Wohnsituation des Beschwerdeführers nicht ortsüblich sei (§11 Abs2 Z2 NAG).
Die Erteilung eines Aufenthaltstitels sei auch nicht gemäß §11 Abs3 NAG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art8 EMRK geboten: Der Beschwerdeführer halte sich zwar seit etwa fünf Jahren in Österreich auf. Die mangelnde berufliche Integration sei auf Grund seines Gesundheitszustandes nicht zu berücksichtigen; auch sei ihm laut amtsärztlichem Gutachten die Erfüllung des Moduls II der Integrationsvereinbarung nicht zumutbar. Allerdings sei festzuhalten, dass der Beschwerdeführer laut eigenen Angaben viel in seiner Muttersprache lese. Ein – eigeninitiatives – Interesse an einer Beschäftigung mit der deutschen Sprache sowie an dem Land, in dem er seit fünf Jahren lebe, könne jedoch nicht festgestellt werden. Der Beschwerdeführer sei intellektuell nicht beeinträchtigt, sodass nicht ersichtlich sei, weshalb ihm eine Beschäftigung zuhause mit der deutschen Sprache zur Erlangung einfacher Kenntnisse nicht möglich sein solle. Auch verfüge der Beschwerdeführer in Österreich über keine nennenswerten Kontakte privater Natur. Somit liege keine weitergehende soziale Vernetzung des Beschwerdeführers in Österreich vor. Zwar sei dabei zu berücksichtigen, dass es dem Beschwerdeführer nur schwer möglich sei, auf Grund seines Gesundheitszustandes das Haus zu verlassen. Dennoch sei kein Bemühen seinerseits um eine soziale Integration im Rahmen seiner Möglichkeiten, wie beispielsweise der Kontaktaufnahme mit Selbsthilfegruppen oder sozialen Einrichtungen, die Aktivitäten für Menschen mit Behinderungen organisieren und somit eine Einbindung in die Gesellschaft ermöglichen bzw fördern, erkennbar.
Der Beschwerdeführer habe noch familiäre Anknüpfungspunkte in Saudi-Arabien. Zwar sei der Beschwerdeführer offenbar körperlich schwer beeinträchtigt, doch bestehe in Saudi-Arabien die Möglichkeit medizinischer Versorgung. Eine medizinische Versorgung für den Beschwerdeführer sei daher nicht nur in Österreich möglich. Neben der Mutter des Beschwerdeführers befänden sich noch zwei Schwestern und ein Bruder in Saudi-Arabien, die ihn bei seiner täglichen Pflege ebenso unterstützen könnten wie sein Bruder und sein Vater in Österreich.
Auf Grund des nur rudimentär entfalteten Familienlebens und dem "Fehlen sonstiger integrationsbestimmender Merkmale" überwiege das öffentliche Interesse an der Versagung des beantragten Aufenthaltstitels die privaten Interessen des Beschwerdeführers an der Erteilung eines solchen.
3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) sowie im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
4. Das Verwaltungsgericht Wien und der Landeshauptmann von Wien haben die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen.
II. Rechtslage
§11 und §45 des Bundesgesetzes über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich (Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz – NAG), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 145/2017 lauten auszugsweise:
"Allgemeine Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel
§11. (1) […]
(2) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nur erteilt werden, wenn
1. der Aufenthalt des Fremden nicht öffentlichen Interessen widerstreitet;
2. der Fremde einen Rechtsanspruch auf eine Unterkunft nachweist, die für eine vergleichbar große Familie als ortsüblich angesehen wird;
3. […]
4. der Aufenthalt des Fremden zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte;
5. […]
(3) Ein Aufenthaltstitel kann trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß Abs1 Z3, 5 oder 6 sowie trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß Abs2 Z1 bis 7 erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK), BGBl Nr 210/1958, geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen rechtswidrig war;
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;
4. der Grad der Integration;
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Drittstaatsangehörigen;
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit;
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Drittstaatsangehörigen in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren;
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(4) […]
(5) Der Aufenthalt eines Fremden führt zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft (Abs2 Z4), wenn der Fremde feste und regelmäßige eigene Einkünfte hat, die ihm eine Lebensführung ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen der Gebietskörperschaften ermöglichen und der Höhe nach den Richtsätzen des §293 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl Nr 189/1955, entsprechen. Feste und regelmäßige eigene Einkünfte werden durch regelmäßige Aufwendungen geschmälert, insbesondere durch Mietbelastungen, Kreditbelastungen, Pfändungen und Unterhaltszahlungen an Dritte nicht im gemeinsamen Haushalt lebende Personen. Dabei bleibt einmalig ein Betrag bis zu der in §292 Abs3 zweiter Satz ASVG festgelegten Höhe unberücksichtigt und führt zu keiner Erhöhung der notwendigen Einkünfte im Sinne des ersten Satzes. Bei Nachweis der Unterhaltsmittel durch Unterhaltsansprüche (§2 Abs4 Z3) oder durch eine Haftungserklärung (§2 Abs1 Z15) ist zur Berechnung der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten nur der das pfändungsfreie Existenzminimum gemäß §291a der Exekutionsordnung (EO), RGBl. Nr 79/1896, übersteigende Einkommensteil zu berücksichtigen. In Verfahren bei Erstanträgen sind soziale Leistungen nicht zu berücksichtigen, auf die ein Anspruch erst durch Erteilung des Aufenthaltstitels entstehen würde, insbesondere Sozialhilfeleistungen oder die Ausgleichszulage.
(6) […]
Aufenthaltstitel 'Daueraufenthalt – EU'
§45. (1) […]
(12) Asylberechtigten, die in den letzten fünf Jahren ununterbrochen über den Status des Asylberechtigten (§3 AsylG 2005) verfügten und subsidiär Schutzberechtigten, die in den letzten fünf Jahren ununterbrochen aufgrund einer Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter (§8 Abs4 AsylG 2005) rechtmäßig aufhältig waren, kann ein Aufenthaltstitel 'Daueraufenthalt – EU' erteilt werden, wenn sie
1. die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen und
2. das Modul 2 der Integrationsvereinbarung (§10 IntG) erfüllt haben.
Der Zeitraum zwischen Einbringung des Antrages auf internationalen Schutz (§17 Abs2 AsylG 2005) und Zuerkennung des Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten ist zur Hälfte, sofern dieser Zeitraum 18 Monate übersteigt zur Gänze, auf die Fünfjahresfrist anzurechnen."
III. Erwägungen
Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).
Aus Art8 EMRK ist keine generelle Verpflichtung abzuleiten, dem Wunsch eines Fremden, sich in einem bestimmten Mitgliedstaat aufzuhalten, nachzukommen (VfSlg 19.713/2012, 20.286/2018 mwN zur Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte). Unter besonderen Umständen kann sich aus Art8 EMRK aber eine Verpflichtung des Staates ergeben, den Aufenthalt eines Fremden zu ermöglichen (vgl zB VfSlg 17.734/2005, 19.162/2010, 20.049/2016, 20.286/2018) mit der Folge, dass die Verweigerung der Einreise oder Niederlassung einen Eingriff in Art8 EMRK bildet.
Art7 Abs1 Satz 3 B-VG zu Folge darf "Niemand […] wegen seiner Behinderung benachteiligt werden". Der Verfassungsgesetzgeber hat mit der Aufnahme eines ausdrücklichen Verbotes der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen betont, dass staatliche Regelungen, die zu einer Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen führen, einer besonderen sachlichen Rechtfertigung bedürfen (VfSlg 19.732/2013).
2. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in seiner Entscheidung VfSlg 19.732/2013 festgestellt hat, kommt dem Gesetzgeber bei der Regelung, welchen Personen in Österreich ein – im Fall des Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt – EU" – dauerhafter Aufenthaltstitel zuerkannt werden soll, ein weiter rechtspolitischer Gestaltungsspielraum zu. In VfSlg 20.282/2018 hat der Verfassungsgerichtshof festgehalten, dass der Gesetzgeber diesen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum mit der Festlegung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung der Selbsterhaltungsfähigkeit in §11 Abs2 Z4 iVm Abs5 NAG nicht überschreitet (dies auch deswegen, weil es dem Gesetzgeber nicht verwehrt ist, verschiedene Voraussetzungen für den erstmaligen Zuzug bzw die Erteilung von Aufenthaltstiteln und die Verleihung der Staatsbürgerschaft [vgl VfSlg 19.732/2013] vorzusehen).
Der Verfassungsgerichtshof hat in VfSlg 20.282/2018 aber auch darauf hingewiesen, dass gemäß §11 Abs3 NAG trotz Nichterfüllung der Voraussetzung der Selbsterhaltungsfähigkeit der Aufenthaltstitel zu erteilen ist, wenn dies auf Grund des Art8 EMRK geboten ist, und dabei betont, dass auch eine Behinderung einen Umstand darstellen kann, der gemäß §11 Abs3 NAG als Aspekt des Privat- und Familienlebens zu berücksichtigen ist.
3. Vor diesem Hintergrund ist dem Verwaltungsgericht Wien in Bezug auf Art8 EMRK iVm Art7 Abs1 Satz 3 B-VG ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen:
3.1. Das Bundesverwaltungsgericht kommt in seinem, den Beschwerdeführer betreffenden Erkenntnis vom 28. April 2017 nach ausführlicher Auseinandersetzung mit dem Krankheitsbild des Beschwerdeführers, des daraus resultierenden Behandlungsbedarfes und den diesbezüglichen Aussichten des Beschwerdeführers auf eine hinreichende medizinische Versorgung im Fall einer Rückkehr nach Saudi-Arabien zusammengefasst zu der Schlussfolgerung, "dass eine sein gesamtes restliches Leben notwendige, indizierte und hinreichende medizinische Versorgung (laufende Untersuchungen, Behandlungen, Medikamente) im Hinblick auf seine außergewöhnliche Erkrankung im Herkunftsland nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit als gewährleistet anzusehen ist. Da auch im Rahmen der medizinischen Prognose über den weiteren Krankheitsverlauf von zeitnahen, lebensbedrohlichen Folgen der Erkrankung ausgegangen wurde, bestünde für den BF die reale Gefahr einer rapiden, lebensgefährlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustands." Dem Beschwerdeführer sei es sohin gelungen, ein "real risk" einer Verletzung seiner Rechte nach Art3 EMRK im Fall einer Rückführung in seinen Herkunftsstaat Saudi-Arabien aufzuzeigen.
Dem Verwaltungsgericht Wien ist nicht entgegenzutreten, wenn es für den Beschwerdeführer vom Fehlen der Voraussetzung der Selbsterhaltungsfähigkeit iSd §11 Abs2 Z4 iVm Abs5 NAG ausgeht. Daher prüft das Verwaltungsgericht Wien in weiterer Folge, ob trotz Vorliegens dieses Erteilungshindernisses (und gegebenenfalls des Erteilungshindernisses des §11 Abs2 Z2 NAG) dem Beschwerdeführer gemäß §11 Abs3 NAG ein Aufenthaltstitel zu erteilen ist, weil dies zur Aufrechterhaltung seines Privat- und Familienlebens iSd Art8 EMRK geboten ist.
Angesichts der oben wiedergegebenen Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichtes in seinem Erkenntnis vom 28. April 2017, die in Bezug auf den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers durch ein im Akt erliegendes amtsärztliches Gutachten aus 2019 bestätigt werden, ist aber nicht nachvollziehbar, wie das Verwaltungsgericht Wien im Rahmen der nach §11 Abs3 NAG gebotenen Abwägung zu der Schlussfolgerung kommen kann, dass für den Beschwerdeführer in Saudi-Arabien die Möglichkeit medizinischer Versorgung bestünde. Eine Begründung dafür gibt das Verwaltungsgericht Wien nicht.
3.2. Wenn das Verwaltungsgericht Wien weiters für seine Entscheidung auf fehlende Integrationsbemühungen des Beschwerdeführers abstellt, weil er keine Initiative zum Erlernen der deutschen Sprache zeige und von sich aus keine Kontakte zu Selbsthilfegruppen oder sozialen Einrichtungen suche, ohne sich dabei mit der amtsärztlichen Feststellung auseinanderzusetzen, dass es dem Beschwerdeführer aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich ist, sich Deutschkenntnisse auf B1-Niveau anzueignen und ohne darauf Bezug zu nehmen, dass es dem Beschwerdeführer auf Grund seines Gesundheitszustandes nur schwer möglich ist, die Wohnung zu verlassen, übersieht das Verwaltungsgericht Wien die durch Art7 Abs1 Satz 3 B-VG gebotene Bedeutung der Behinderung des Beschwerdeführers für die Auslegung des Art8 EMRK und damit des §11 Abs3 NAG (vgl schon VfSlg 20.282/2018). Schließlich geht das Verwaltungsgericht Wien – ausgehend von seiner allerdings nicht nachvollziehbar dargelegten Prämisse, der Beschwerdeführer könne von Familienangehörigen in Saudi-Arabien versorgt werden – in keiner Weise auf die Frage ein, inwieweit der Beschwerdeführer im Lichte des Art8 EMRK auf die Pflege und Betreuung seines Vaters und seines Bruders angewiesen ist (vgl VfSlg 20.063/2016).
4. Das Verwaltungsgericht Wien hat demzufolge §11 Abs3 NAG auf den Beschwerdeführer in einer Weise angewendet, die vor dem Hintergrund des Art7 Abs1 Satz 3 B-VG mit Art8 EMRK nicht zu vereinbaren ist.
IV. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nicht öffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.
Schlagworte
Fremdenrecht, Behinderte, Privat- und FamilienlebenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2020:E1089.2020Zuletzt aktualisiert am
18.02.2021