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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AVG §37Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des M E M, zuletzt in W, vertreten durch die RIHS Rechtsanwalt GmbH in 1010 Wien, Kramergasse 9/3/13, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 20. August 2020, W279 2232360-2/2E, betreffend Feststellung der Zulässigkeit der Fortsetzung der Schubhaft gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Nach den unbekämpften Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis ist von folgendem Sachverhalt auszugehen:
2 Der Revisionswerber, ein den Reisepassdaten zufolge am 23. April 1996 geborener marokkanischer Staatsangehöriger, lebte in den letzten Jahren in Italien und verfügte dort bis zum 3. Juli 2017 über eine mit dem Geburtsdatum 4. Juli 1999 ausgestellte Aufenthaltsberechtigung. Seine Eltern wohnen - so gab der Revisionswerber der Aktenlage zufolge an - in Mailand, seine Lebensgefährtin, die von ihm ein Kind erwarte, in Florenz.
3 Der Revisionswerber wurde am 8. März 2020 von Italien über Österreich kommend bei der Einreise nach Deutschland von den deutschen Behörden angehalten und nach Österreich zurückgewiesen. Bei der anschließenden Einvernahme gab er an, kein Reisedokument zu besitzen; er habe nach Deutschland reisen wollen, um dort Arbeit zu suchen. Danach wurde dem Revisionswerber ein Schreiben des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ausgefolgt, mit dem er von der „beabsichtigten Erlassung einer Anordnung zur Außerlandesbringung bzw. Erlassung einer Rückkehrentscheidung“ in Kenntnis gesetzt und ihm dazu binnen vierzehn Tagen Parteiengehör gewährt wurde. Hierauf versuchte der Revisionswerber nach Italien zurückzureisen und wurde dabei am 9. März 2020 um 00:45 Uhr im Rahmen einer Kontrolle in einem internationalen Reisezug von Sicherheitsorganen festgenommen.
4 Nach seiner Vernehmung wurde über den Revisionswerber mit Mandatsbescheid des BFA vom 9. März 2020 gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und zur Sicherung der Abschiebung verhängt.
5 Am 16. April 2020 übermittelte die Lebensgefährtin des Revisionswerbers die Kopie seines am 17. April 2017 abgelaufenen Reisepasses. Dieses Dokument leitete das BFA am 18. Mai 2020 der marokkanischen Botschaft weiter, bei der bereits am 13. März 2020 die Ausstellung eines Ersatzreisedokumentes (sogenanntes „Heimreisezertifikat“ - HRZ) beantragt worden war.
6 Der Revisionswerber wurde am 20. April 2020 um 18.15 Uhr wegen Haftunfähigkeit aus der Schubhaft entlassen, nachdem er zuvor in die psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses eingeliefert worden war. Nach der Entlassung aus der stationären Krankenhausbehandlung am Vormittag des 22. April 2020 wurde der Revisionswerber erneut festgenommen und über ihn mit Mandatsbescheid des BFA vom selben Tag abermals gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und zur Sicherung der Abschiebung verhängt.
7 Eine dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 2. Juli 2020 gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG iVm § 22a [Abs. 1] BFA-VG als unbegründet ab und erklärte die Anhaltung des Revisionswerbers in Schubhaft seit 22. April 2020 für rechtmäßig. Gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG stellte das BVwG überdies fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen.
8 Mit Bescheid vom 28. Mai 2020 hatte das BFA gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung erlassen, gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Marokko zulässig sei, und gegen ihn wegen Mittellosigkeit ein mit einem Jahr befristetes Einreiseverbot erlassen. Eine Frist für die freiwillige Ausreise wurde dem Revisionswerber nicht gewährt und einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung aberkannt. Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde, der die aufschiebende Wirkung vom BVwG nicht zuerkannt wurde, führte es am 4. August 2020 eine Verhandlung durch. Eine Verkündung der Entscheidung erfolgte nicht.
9 Zusammen mit einer Stellungnahme vom 11. August 2020 übermittelte das BFA sodann dem BVwG die Verwaltungsakten zur Überprüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der weiteren, über vier Monate hinausgehenden Anhaltung des Revisionswerbers in Schubhaft gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG. Nach Wiedergabe des bisherigen Verfahrensganges wies das BFA dabei vor allem darauf hin, dass die letzte Urgenz bei der marokkanischen Botschaft betreffend die Ausstellung eines HRZ am 17. Juli 2020 erfolgt sei. Die rasche Ausstellung eines HRZ sei aufgrund der Übermittlung der Kopie des abgelaufenen Reisepasses des Fremden sehr wahrscheinlich. Weitere „rechtliche oder faktische Hindernisse“ hinsichtlich der Effektuierung der Rückkehrentscheidung seien für das BFA nicht zu erkennen. Die Außerlandesbringung des Revisionswerbers innerhalb der gesetzlich zulässigen Höchstdauer der Schubhaft sei somit nach wie vor als „absolut wahrscheinlich“ anzusehen, auch wenn wegen der „COVID 19-Krise“ derzeit keine Abschiebung nach Marokko möglich sei. Aufgrund der Ankündigung der Regierung, die diesbezüglichen Beschränkungen neuerlich zu lockern, sei eine Wiederaufnahme der Flüge nach Marokko absehbar. Sobald es wieder Flüge nach Marokko gebe, werde umgehend nach der HRZ-Erlangung eine Abschiebung nach Marokko organisiert werden. Die weitere Aufrechterhaltung der Schubhaft gegen den Revisionswerber scheine daher für das BFA aktuell nicht nur geeignet, sondern angesichts seiner bisherigen Unzuverlässigkeit und des fortgeschrittenen Verfahrensstandes auch erforderlich, um die Abschiebung des Revisionswerbers zu gewährleisten.
10 Hierauf stellte das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 20. August 2020 gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen und die Aufrechterhaltung der Schubhaft verhältnismäßig sei. Des Weiteren sprach das BVwG gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
11 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen hat:
12 Die Revision ist - wie die weiteren Ausführungen zeigen - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig und berechtigt.
13 Vorauszuschicken ist, dass Grundlage für die Anhaltung des Revisionswerbers in Schubhaft - im Hinblick auf die Durchsetzbarkeit der gegen ihn erlassenen Rückkehrentscheidung gemäß § 76 Abs. 5 FPG: zur Sicherung der Abschiebung in den Herkunftsstaat Marokko - zuletzt der im Erkenntnis des BVwG vom 2. Juli 2020 gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG getroffene Ausspruch über die Zulässigkeit der Fortsetzung der Schubhaft war.
14 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann Schubhaft zur Sicherung der Abschiebung stets nur dann rechtens sein, wenn eine Abschiebung auch tatsächlich in Frage kommt. Es sind daher Feststellungen zur möglichen Realisierbarkeit der Abschiebung innerhalb der (jeweils) zulässigen Schubhafthöchstdauer zu treffen (vgl. des Näheren VwGH 11.5.2017, Ra 2016/21/0144, Rn. 10, und darauf Bezug nehmend aus der letzten Zeit etwa VwGH 27.8.2020, Ra 2020/21/0255, Rn. 8/10, und VwGH 17.4.2020, Ro 2020/21/0004, Rn. 14).
15 Unter diesem Gesichtspunkt stellte das BVwG im Erkenntnis vom 2. Juli 2020 fest, die Ausstellung des HRZ sei vom BFA in monatlichen Abständen, zuletzt am 15. Juni 2020, bei der marokkanischen Botschaft urgiert worden. Dann folgerte das BVwG wörtlich:
„Die realistische Möglichkeit einer Überstellung des [Revisionswerbers] in seinen Herkunftsstaat Marokko (innerhalb der gesetzlich normierten Zeitspanne der Anhaltung in Schubhaft) besteht weiterhin. Die schrittweise Rücknahme der Restriktionen im Zusammenhang mit Covid-19 ist bereits angelaufen - für den internationalen Luftverkehr ist sie in einigen Wochen zumindest in einem reduzierten Ausmaß (das Abschiebungen ermöglicht) zu erwarten.“
Diese Annahmen gründete das BVwG in der diesbezüglichen Beweiswürdigung auf die „grundsätzlich problemlose Zusammenarbeit mit den Vertretungen und Behörden des Königreiches Marokko“. Bis zum „Lockdown“ im März 2020 hätten Abschiebungen dorthin regelmäßig stattgefunden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt erscheine die Ausstellung eines HRZ in „wenigen Monaten“, jedenfalls aber innerhalb der gesetzlichen Höchstdauer der Schubhaft als realistisch, auch wenn beim Revisionswerber mangels Vorliegens eines gültigen Reisedokuments vorher ein „üblicherweise wenige Monate“ dauerndes Ermittlungsverfahren im Herkunftsstaat durchgeführt werde. Des Weiteren sei davon auszugehen, dass „in einigen Wochen“ der internationale Luftverkehr, wenn auch nicht zwingend der allgemeine Reiseverkehr, wieder aufgenommen werde, womit auch Abschiebungen wieder möglich seien. Entsprechende Ankündigungen von Regierungen und Fluglinien seien „in den letzten Wochen“ veröffentlicht worden und notorisch.
16 Diese Begründungsteile wurden wörtlich in das angefochtene Erkenntnis vom 20. August 2020 übernommen. Ergänzend wurde in der rechtlichen Beurteilung noch - der Stellungnahme des BFA vom 11. August 2020 folgend - die letzte Urgenz der HRZ-Ausstellung vom 17. Juli 2020 erwähnt und eingeräumt, ein konkreter Abschiebetermin sei nicht absehbar. Es sei aber von einer Abschiebung innerhalb der „im Sinne des § 80 Abs. 4 Z 4 FPG höchstzulässigen Dauer der Schubhaft von 18 Monaten“ auszugehen.
17 Diesbezüglich wird in der Revision zunächst bemängelt, das BVwG habe die Annahme, die Schubhaft könne im vorliegenden Fall nicht nur gemäß § 80 Abs. 2 Z 2 FPG sechs Monate, sondern gemäß § 80 Abs. 4 Z 4 FPG achtzehn Monate lang aufrecht erhalten werden, nicht nachvollziehbar begründet. Das trifft zu, wie sich schon aus der Wiedergabe der begründungslos behaupteten Annahme der Erfüllung der in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen in der vorstehenden Rn. ergibt (siehe zu § 80 Abs. 4 Z 4 FPG vor dem Hintergrund von Art. 15 Abs. 6 lit. a der Rückführungs-RL und dem Urteil EuGH 5.6.2014, Mahdi, C-146/14 PPU, des Näheren VwGH 15.12.2020, Ra 2020/21/0404, wo in Rn. 27 zusammenfassend festgehalten wurde, für die Verwirklichung dieses Tatbestandes sei es erforderlich, dass ein während der Haft gesetztes, mangelnde Kooperationsbereitschaft zum Ausdruck bringendes Verhalten des Drittstaatsangehörigen kausal für die längere, mehr als sechsmonatige Dauer seiner Anhaltung in Schubhaft ist).
18 Des Weiteren erachtet der Revisionswerber die wiedergegebene Beweiswürdigung des BVwG für unschlüssig, weil sich die (nunmehr bloß wiederholte) Einschätzung im Erkenntnis vom 2. Juli 2020, der internationale Luftverkehr werde in einigen Wochen wieder aufgenommen, offenkundig nicht bewahrheitet habe. Die vom BVwG insofern unterstellte Notorietät sei nicht gegeben. Vielmehr sei notorisch, dass die Zahl der infizierten Personen global wieder stark ansteige und Reisebeschränkungen eher zunehmen würden. Außerdem indiziere der Umstand, dass die Vertretungsbehörde bisher kein HRZ ausgestellt und auf Urgenzen nicht reagiert habe, die voraussichtliche Unmöglichkeit der Abschiebung. Das BVwG hätte angesichts dessen zum Schluss kommen müssen, dass keine hinreichende Aussicht auf die Realisierbarkeit der Abschiebung mehr bestehe.
19 Mit diesem Vorbringen wird in der Revision der Sache nach zutreffend geltend gemacht, das BVwG hätte zu den angesprochenen Fragen die weitere Entwicklung seit der Erlassung des Erkenntnisses vom 2. Juli 2020 während der anschließenden sieben Wochen berücksichtigen und Ermittlungen zum aktuellen Stand betreffend die Möglichkeit von Abschiebeflügen nach Marokko und vor allem zur Erlangbarkeit eines HRZ für den Revisionswerber vornehmen müssen. Ausgehend von der angenommenen Dauer des Identifizierungsverfahrens im Heimatland des Revisionswerbers von (nur) „einigen Monaten“ wäre nämlich zumindest eine konkrete Antwort auf eine der regelmäßigen Urgenzen des BFA zu erwarten gewesen, sodass sich die - wie auch schon sieben Wochen davor - trotzdem unterstellte Annahme einer Ausstellung des HRZ „in wenigen Monaten“ in dieser Form als nicht nachvollziehbar erweist (vgl. VwGH 27.8.2020, Ra 2020/21/0255, Rn. 12). Dazu ist im Übrigen noch anzumerken, dass die diesbezüglich vor allem maßgebliche Feststellung des BVwG, es bestünde mit der marokkanischen Vertretungsbehörde eine grundsätzlich problemlose Zusammenarbeit, jedenfalls in den dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegten Akten keine beweismäßige Deckung findet (vgl. dazu vielmehr den zu VwGH 19.11.2020, Ra 2020/21/0309, entschiedenen Fall).
20 Daraus folgt, dass das BVwG dem diesbezüglichen Begründungserfordernis nicht entsprach. Im Erkenntnis VwGH 26.11.2020, Ra 2020/21/0070, wurde dazu nämlich (in einem insoweit vergleichbaren Fall) in Rn. 13 festgehalten, die Frage der rechtzeitigen Erlangbarkeit eines Heimreisezertifikates sei bei länger andauernden Schubhaften, die gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG überprüft werden, typischerweise entscheidend für die (weitere) Verhältnismäßigkeit der Anhaltung, was entsprechende Ermittlungen und eine fundierte Auseinandersetzung mit den erlangten Ergebnissen erfordere. Bloße Bemühungen der Behörde genügten für die Annahme einer rechtzeitigen Erlangbarkeit des Heimreisezertifikats nicht, sie müssten vielmehr zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erfolgversprechend sein; wobei für den zu verlangenden Wahrscheinlichkeitsgrad auch die bisherige Dauer der Schubhaft und die Schwere der Gründe für ihre Verhängung und Aufrechterhaltung eine Rolle spielen könne. Bisherige Erfahrungswerte mit der jeweiligen Vertretungsbehörde könnten wesentliche Anhaltspunkte für die in dieser Hinsicht vorzunehmende Beurteilung bieten; das setze aber voraus, dass diese Erfahrungswerte nachvollziehbar festgestellt und nicht nur ohne jede Konkretisierung behauptet werden (siehe zur Notwendigkeit, sich ein realistisches Bild über die Praxis der HRZ-Ausstellung der zuständigen Botschaft des Herkunftsstaates zu verschaffen, um Rückschlüsse für den zu beurteilenden Einzelfall ziehen zu können, auch VwGH 27.8.2020, Ra 2020/21/0255, Rn. 12 am Ende).
21 Zur für die Frage der Verhältnismäßigkeit der weiteren Anhaltung in Schubhaft maßgeblichen bisherigen Dauer der Schubhaft wird in der Revision im Ergebnis zu Recht geltend gemacht, dieser Zeitraum wäre ab dem 9. März 2020 zu berechnen gewesen. Aus § 80 Abs. 4 FPG lässt sich nämlich ableiten, dass zur Ermittlung der Höchstdauer „wegen desselben Sachverhalts“ verhängte Schubhaften zusammen zu rechnen sind (siehe zur Auslegung der Wendung „wegen desselben Sachverhalts“ das zu § 80 Abs. 4 FPG in der Stammfassung ergangene Erkenntnis VwGH 31.3.2008, 2008/21/0053; vgl. auch das jüngst zu § 80 Abs. 5 FPG ergangene Erkenntnis VwGH 19.11.2020, Ro 2020/21/0015, insbesondere Rn. 18). Das gilt zur Vermeidung eines Wertungswiderspruchs nicht nur für die Höchstfrist (von achtzehn Monaten) nach § 80 Abs. 4 FPG, sondern auch für die Höchstfristen (von drei bzw. sechs Monaten) nach § 80 Abs. 2 FPG. Das ließ das BVwG unberücksichtigt, indem es bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der weiteren Anhaltung des Revisionswerbers von einer bisherigen Schubhaftdauer von (nur) vier Monaten, statt von insgesamt ca. fünfeinhalb Monaten ausging.
22 Der in diesem Zusammenhang auch noch erhobene Einwand in der Revision, deshalb sei die Überprüfung nach § 22a Abs. 4 BFA-VG verspätet erfolgt und die Anhaltung des Revisionswerbers in Schubhaft sei demzufolge im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses bereits rechtswidrig gewesen, ist aber jedenfalls nicht berechtigt. Dazu genügt es, gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf das Erkenntnis VwGH 16.7.2020, Ra 2020/21/0163, Rn. 17/18, zu verweisen. Auf die in der Revision relevierte Frage, ob im vorliegenden Fall auch in Bezug auf die viermonatige Frist nach der genannten Bestimmung des BFA-VG eine Zusammenrechnung der beiden Schubhaften vorzunehmen gewesen wäre bzw. ob die aus gesundheitlichen Gründen erfolgte kurzfristige „Enthaftung“ des Revisionswerbers im Widerspruch zu § 78 Abs. 7 FPG stand und auch dieser Zeitraum als Vollziehung der Schubhaft gilt, kommt es daher nicht an.
23 Schließlich wird in der Revision aber auch noch zutreffend ein Verfahrensmangel geltend gemacht, weil es das BVwG unterließ, die gemäß § 22a Abs. 4 vierter Satz BFA-VG aus Anlass der Aktenvorlage erstattete Stellungnahme des BFA dem Parteiengehör zu unterziehen (siehe zu dieser Pflicht des Näheren noch einmal VwGH 26.11.2020, Ra 2020/21/0070, nunmehr Rn. 11). Dieser Verfahrensfehler war - wie sich aus den Ausführungen oben in Rn. 18 ff ergibt - auch (potentiell) relevant für den Ausgang des vorliegenden Verfahrens.
24 Aus all diesen Gründen war das angefochtene Erkenntnis somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
25 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.
26 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 12. Jänner 2021
Schlagworte
Begründung Begründungsmangel Besondere Rechtsgebiete Parteiengehör Parteiengehör Erhebungen Ermittlungsverfahren Parteiengehör Verletzung des Parteiengehörs VerfahrensmangelEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020210378.L00Im RIS seit
01.03.2021Zuletzt aktualisiert am
01.03.2021