TE Vfgh Erkenntnis 2020/10/7 E2176/2020

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Veröffentlicht am 07.10.2020
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §8, §9 Abs1, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Aberkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten betreffend einen Staatsangehörigen von Afghanistan; keine hinreichende Auseinandersetzung mit aktuellen Länderberichten des EASO zu Personen, die lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfas-sungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.856,– bestimmten Prozess-kosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, der der Volksgruppe der Hazara angehört. Er wurde 2001 in der afghanischen Provinz Ghazni geboren, zog aber kurz nach seiner Geburt mit seinen Eltern nach Pakistan, wo er sich bis zu seiner 2013/2014 erfolgten Ausreise in den Iran aufhielt. Nach einem Jahr im Iran reiste er nach Europa und stellte als Minderjähriger am 1. Juni 2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 7. Dezember 2017 wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten abgewiesen, dem Beschwerdeführer wurde aber der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt sowie eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt. Die gegen die Antragsabweisung erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 7. März 2019 ab.

3. Mit Bescheid des BFA vom 25. Juni 2019 wurde der dem Beschwerdeführer zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen aberkannt und ihm die erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter entzogen. Der Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung wurde abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen, festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen festgesetzt.

4. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit vorliegendem Erkenntnis vom 18. Mai 2020 als unbegründet ab.

Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest, dass die Muttersprache des Beschwerdeführers Dari sei. Seine Mutter lebe in Pakistan, sein Vater sei bereits verstorben und er habe keine Geschwister. Es könne nicht festgestellt werden, ob der Beschwerdeführer weitere Familienangehörige in Afghanistan habe. Auch wenn der Beschwerdeführer in Pakistan aufgewachsen sei, sei er mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und einer in Afghanistan gesprochenen Sprache vertraut; er sei in einem afghanischen Familienverband aufgewachsen und habe nach afghanischen Traditionen gelebt. Er habe in Pakistan sieben Jahre die Schule besucht und dort sowie im Iran bereits gearbeitet. In Österreich habe er den Pflichtschulabschluss nachgeholt und nehme an diversen Bildungsmaßnahmen teil; derzeit sei er dabei, eine Lehre als Elektromechaniker zu machen. Eine Rückkehr in seine ursprüngliche Herkunftsprovinz scheide aus, weil ihm auf Grund der vorherrschenden Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde. Es sei ihm aber zumutbar, sich in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat niederzulassen. Der Beschwerdeführer habe zwar nie in diesen Städten gelebt und verfüge dort auch über keine familiären An-knüpfungspunkte, angesichts seiner Ausbildung, seiner Arbeitsfähigkeit und der in Pakistan und im Iran gewonnenen Berufserfahrung könnte er sich in diesen Städten dennoch eine Existenz aufbauen und diese (anfänglich) mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Dazu könne er auch seine ansonsten erworbenen Fähigkeiten und (Sprach)Kenntnisse bei der Arbeitssuche nutzen und sei in der Lage, eine einfache Unterkunft zu finden – auch wenn ihn seine in Pakistan lebende Mutter nicht unterstützen könne, habe er die Möglichkeit, Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen.

5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Dabei stützt sich die Beschwerde insbesondere auf die "UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018", "EASOs aktueller Country Guidance zu Afghanistan" sowie die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (VfGH 12.12.2019, E3369/2019).

6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. Das Bundesverwaltungsgericht verweist im Rahmen seiner Feststellungen zunächst allgemein auf das "Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 13.11.2019 samt Kurzinformation zu COVID-19 vom 09.04.2020", auf die "UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018" sowie auf die Berichte "EASO Country Guidance Afghanistan von Juni 2019, EASO Afghanistan Security Situation von Juni 2019, EASO Country of Origin Information Report Afghanistan Key socio-economic indicators Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City von April 2019".

2.2. Aus der "Country Guidance: Afghanistan – Guidance note and common analysis" des EASO auf dem Stand Juni 2019, auf die sich das Bundesverwaltungsgericht bezieht, geht hervor, dass für jene Gruppe von Rückkehrern nach Afghanistan, die entweder außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, eine innerstaatliche Fluchtalternative dann nicht in Betracht komme, wenn am Zielort der aufenthaltsbeendenden Maßnahme kein Unterstützungsnetzwerk für die konkrete Person vorhanden sei, das sie bei der Befriedigung grundlegender existenzieller Bedürfnisse unterstützen könne, und dass es einer Beurteilung im Einzelfall unter Heranziehung der folgenden Kriterien bedürfe: Unterstützungsnetzwerk, Ortskenntnis der betroffenen Person bzw Verbindungen zu Afghanistan sowie sozialer und wirtschaftlicher Hintergrund, insbesondere Bildungs- und Berufserfahrung einschließlich Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans (vgl VfGH 12.12.2019, E3369/2019).

Derartigen Länderberichten, wie insbesondere auch den Richtlinien des Hoch-kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (United Nations High Commissioner for Refugees – UNHCR), ist bei der Beurteilung der Situation im Rückkehrstaat bei der Prüfung, ob dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen ist, besondere Beachtung zu schenken (vgl VfGH 12.12.2019, E3369/2019; 12.12.2019, E2692/2019; 4.3.2020, E4399/2019, jeweils mwN; vgl auch VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533; 17.12.2019, Ra 2019/18/0278 ua). Das bedeutet insbesondere, dass sich das Bundesverwaltungsgericht mit den aus diesen Länderberichten hervorgehenden Problemstellungen im Hinblick auf eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan, und zwar in Bezug auf die konkrete Situation des Beschwerdeführers, auseinanderzusetzen hat (VfGH 6.10.2020, E2795/2019 sowie vom selben Tag E1728/2020 und E1887/2020).

3. Das Bundesverwaltungsgericht führt im Rahmen der rechtlichen Beurteilung zunächst – mit Blick auf die dargestellte Berichtslage grundsätzlich zutreffend – aus, dass nach der EASO Country-Guidance jener Gruppe von Personen, die entweder außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, in der Regel keine innerstaatliche Fluchtalternative offenstehe, wenn sie an diesem Ort kein Unterstützungsnetzwerk vorfänden.

Das Bundesverwaltungsgericht geht jedoch aus folgenden Gründen davon aus, dass außergewöhnliche Umstände vorlägen, die es dem Beschwerdeführer dennoch ermöglichen würden, nach Afghanistan zurückzukehren: Zwar habe der Beschwerdeführer keine soziale Unterstützung in jenen Städten, die als Rückkehrorte für den Beschwerdeführer in Frage kämen. Der Beschwerdeführer sei jedoch volljährig, jung und arbeitsfähig; er habe eine Ausbildung und Berufserfahrung vorzuweisen, leide an keinen körperlichen oder geistigen Einschränkungen oder sonstiger Vulnerabilität und sei damit leistungsfähig. Auch habe der Beschwerdeführer nunmehr in Österreich gelernt, soziale Kontakte von sich aus zu knüpfen; nunmehr sei der Beschwerdeführer – anders als noch bei seiner Ankunft in Österreich – selbständig. Eine drohende Verletzung seiner Rechte könne vor dem Hintergrund dieser Umstände nicht mehr bejaht werden.

Damit verkennt aber das Bundesverwaltungsgericht die Bedeutung der hier maßgeblichen Kriterien in einer qualifizierten, in die Verfassungssphäre reichenden Weise. Diese Kriterien dienen dazu zu ermitteln, ob in der konkreten Situation des Beschwerdeführers besondere Umstände vorliegen, die es ihm, obwohl er sein nahezu gesamtes bisheriges Leben außerhalb Afghanistans verbracht hat, zumutbar erscheinen lassen, am Zielort der aufenthaltsbeendenden Maßnahme seine grundlegenden existenziellen Bedürfnisse befriedigen zu können. Solche besonderen Umstände können demzufolge in einem insbesondere familiären Unterstützungsnetzwerk oder in sonstigen besonderen Verbindungen ebenso liegen wie in einer entsprechenden Ausbildung oder Berufserfahrung, die, weil sie auch außerhalb Afghanistans gegeben wäre, auf eine entsprechende Selbsterhaltungsfähigkeit des Beschwerdeführers schließen lässt. Die Tatsache alleine, dass es sich beim Beschwerdeführer um einen gesunden, jungen Mann im erwerbsfähigen Alter handelt, der, weil er in einer afghanischen Familie aufgewachsen ist, mit den afghanischen kulturellen Gepflogenheiten vertraut ist, reicht als einschlägiges Personenprofil, im Unterschied zu alleinstehenden, gesunden und erwerbsfähigen Männern, die in Afghanistan aufgewachsen sind, für Personen wie den Beschwerdeführer nicht aus.

Nun verfügt der Beschwerdeführer, wie das Bundesverwaltungsgericht feststellt, über kein einschlägiges Unterstützungsnetzwerk in oder sonstige besondere Verbindungen zu Afghanistan. Der Beschwerdeführer hat, wie das Bundesverwaltungsgericht ebenso feststellt, sieben Jahre die Schule in Pakistan besucht; er verfügt nach seinen Angaben über keine Schreibkompetenzen in seiner Muttersprache. Als Berufserfahrung liegen schließlich, wie sich ebenfalls aus den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichtes ergibt, insbesondere Tätigkeiten als ungelernter Hilfsarbeiter und als Lehrling vor (wobei die Tätigkeiten des Beschwerdeführers in Pakistan und im Iran in einem Alter unter 15 Jahren erfolgten). Das Bundesverwaltungsgericht unterlässt es diesbezüglich zu prüfen, inwieweit der Beschwerdeführer damit über eine solche Ausbildung bzw Berufserfahrung verfügt, die begründet vermuten lässt, dass er sich in seiner konkreten Rückkehrsituation selbst erhalten kann (vgl VfGH 6.10.2020, E1887/2020).

Wenn das Bundesverwaltungsgericht angesichts dieses Personenprofils des Beschwerdeführers dennoch die im Länderbericht des EASO angeführten Kriterien in einem Ausmaß als erfüllt ansieht, dass dem Beschwerdeführer mit Blick auf die Herausforderungen bei einer Rückkehr von Menschen, die lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, eine solche zumutbar erscheinen lässt, verkennt es die Bedeutung dieser Kriterien in einer so qualifizierten Weise, dass es sein Erkenntnis mit Willkür belastet.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:E2176.2020

Zuletzt aktualisiert am

16.02.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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