TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/28 L514 2161074-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.08.2020
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Entscheidungsdatum

28.08.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §52

Spruch

L514 2161074-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. KLOIBMÜLLER über die Beschwerde des XXXX , alias XXXX , geb. XXXX , StA Irak, vertreten durch ARGE Rechtsberatung-Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.03.2017, Zl. 1086929508-151327809-RD Wien, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 16.07.2020, zu Recht erkannt:

A)

I.       Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. und II. als unbegründet abgewiesen.

II.      In Erledigung der Beschwerde wird Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides mit der Maßgabe geändert, dass der Spruch zu lauten hat:

„Die Rückkehrentscheidung in den Irak ist gemäß § 52 FPG iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig. Gemäß §§ 54 iVm 55 Abs. 1 AsylG wird XXXX eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.“

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer, ein irakischer Staatsangehöriger, sunnitischer Moslem und der Volksgruppe der Araber angehörig, reiste am XXXX .2015 illegal ins Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 14.09.2015 wurde er hiezu durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt.

Im Rahmen der Erstbefragung brachte der Beschwerdeführer vor, dass sein Name XXXX sei, er am XXXX in XXXX /Irak geboren und ledig sei. Seine Eltern und sein jüngerer Bruder würden noch im Irak leben.

In Österreich habe er keine Verwandten. Des Weiteren führte der Beschwerdeführer aus, dass er den Irak am XXXX 2015 in Richtung Türkei verlassen habe und sodann am XXXX .2015 in Österreich eingereist sei.

Als Grund für die Ausreise führte der Beschwerdeführer an, dass er von der Miliz Asaib Al-Haqq verfolg und bedroht worden sei. Er habe schriftliche Drohungen erhalten, weil er Moslem und Sunnit sei. Am Abend sei sein Haus beschossen und ein Freund sei von der Miliz getötet worden. Aus diesem Grund habe er Angst gehabt und habe er deswegen sein Land verlassen. Im Falle der Rückkehr habe er Angst vor den Milizen, da sie alle Moslems und Sunniten verfolgen würden.

Zu seinen persönlichen Verhältnissen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er ledig sei. Er stamme aus XXXX und habe dort die Schule absolviert und im Anschluss vier Jahre lang die Universität besucht. Vor seiner Ausreise habe er als Netzwerktechniker gearbeitet.

Aufgrund der Angaben des Beschwerdeführers, in der Slowakei aufhältig gewesen zu sein, wurden Konsultationen mit den slowakischen Behörden geführt. Mit Schreiben des Außenministeriums Bratislava vom 30.10.2015 wurde das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) darüber in Kenntnis gesetzt, dass der Beschwerdeführer in der Slowakei unter der Identität XXXX , geb. XXXX , Nationalität: Syrien, bekannt sei. Am XXXX 2015 sei er bei einer Verkehrskontrolle mit anderen Fremden angehalten worden und sei festgestellt worden, dass er die Slowakei illegal ohne Dokumente und ohne Visa passierte. Er habe jedoch keinen Asylantrag gestellt.

Am 24.05.2016 wurde der Hochschulabschluss des Beschwerdeführers an der XXXX , Bachelor of Communication Engineering, Dauer vier Jahre, vom Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft als gleichwertiges Studium in Österreich, Bachelorstudium der Informatik mit Schwerpunkt Informationstechnik, anerkannt.

Am 25.01.2017 wurde der Beschwerdeführer vor dem BFA niederschriftlich einvernommen. Der Beschwerdeführer gab befragt zu seinem Gesundheitszustand an, dass er Allergietabletten nehme und daher etwas müde sei. Er legte dem BFA eine Vielzahl von Dokumenten vor, darunter ein irakischer Personalausweis Nr. XXXX , ein irakischer Staatsbürgerschaftsausweis und ein irakischer Führerschein Nr. XXXX Ferner ein Universitätsabschlusszeugnis XXXX (2013/2014) und einen Ingenieurausweis Nr. XXXX vom XXXX 2015; als Beweismittel einen vermeintlichen Drohbrief der Al-Haqq und schließlich noch einige Integrationsunterlagen.

Ergänzend führte er weiter aus, dass er sein ganzes Leben in XXXX gelebt habe und dort auch geboren worden sei. Seine Eltern und sein Bruder würden noch in XXXX leben. Sein Vater XXXX , geb. XXXX , sei Offizier bei der Polizei gewesen und bereits pensioniert. Seine Mutter XXXX , geb. XXXX , sei vom Vater geschieden; sie habe als Ingenieurin gearbeitet. Sein Bruder heiße XXXX , geb. XXXX , und lebe bei seinem Vater in XXXX Zu seiner Familie habe er auch regelmäßigen Kontakt. Seinen Eltern würde es finanziell sehr gut gehen. Auch seine Familie würde im Irak in Angst leben. Sie könnten den Irak nicht verlassen, denn wenn sie das täten, würden die Milizen das Haus übernehmen. Er selbst habe 12 Jahre lang die Schule besucht, mit Matura abgeschlossen und sodann Ingenieurwesen und Kommunikation studiert und in weiterer Folge mit Bachelor abgeschlossen. Er habe nach seinem Abschluss nur einen Monat lang gearbeitet; in einer Elektrofirma im Bereich Technik und Internet. Dann habe er fliehen müssen. Er habe den Irak am XXXX 2015 legal verlassen und sei am XXXX .2015 illegal in Österreich eingereist. Nach Österreich sei er gekommen, weil er schon als Kind von Österreich gehört habe. Er könne hier in Sicherheit leben und sei nicht in Gefahr. In Mazedonien, Serbien, Slowakei und Griechenland herrsche zwar kein Krieg, jedoch wüsste er nicht, was er dort machen solle. Hier könne er auf der Universität weiterstudieren. Er wolle die Sprache lernen und sich integrieren. Das Haus in welchem sein Vater leben würde, würde bereits ihm und seinem Bruder gehören. Die Adresse sei: XXXX , Nr. XXXX , Str. XXXX , Hausnummer XXXX . Er habe auch ein Auto im Irak, einen Peugeot. Der Bezirk in welchem sein Haus stehe sei früher ein Sunniten-Bezirk gewesen. Dann hätten sie Schiiten den Bezirk übernommen und die Sunniten hätten ihre Häuser verlassen müssen. Da die Schiiten die Macht dort hätten, sei der Bezirk nicht sicher. Es handle sich um die Al-Haqq, die dort die Macht übernommen habe.

Nach seinen Ausreisegründen befragt führte der Beschwerdeführer aus, dass am XXXX 2015 ein Freund von der Al-Haqq Miliz getötet worden sei. Sie hätten ihn vor seiner Haustüre umgebracht. Der Grund dafür sei sein Name ( XXXX ) gewesen, da dies ein sunnitischer Name sei und weil er in die Moschee gebetet habe. Die genauen Details seines Todes kenne er jedoch nicht, habe er davon lediglich selbst von dritter Seite erfahren. Seither habe er überlegt das Land zu verlassen. Am XXXX 2015 habe er sodann die Nerven verloren. Es sei im Rahmen der Beerdigung seines Freundes gewesen und es seien auch Schiiten anwesend gewesen. Er habe die Milizen in Anwesenheit des Vaters des Verstorbenen und seiner Onkel beschimpft. Es sei der Tag nach dem Tod seines Freundes gewesen; der Tag heiße Alfatiha, dabei werde aus dem Koran gelesen. An diesem Tag sei der verstorbene Freund noch nicht begraben worden. Am XXXX 2015 habe der Beschwerdeführer einen Drohbrief erhalten. Die Woche zuvor habe er das Haus nicht verlassen, weil er Angst gehabt habe, weil die Milizen gewusst hätten, dass er über sie geschimpft habe. Dem Beschwerdeführer selbst sei auch bewusst gewesen, dass er einen Fehler gemacht habe und auch seine Familie habe gesagt, er hätte das nicht tun sollen. Befragt gab er in weiterer Folge an, dass in dem Drohbrief gestanden sei, dass er ein Ungläubiger sei und hätten sie die Sunniten „Alnasabi“ genannt, das würde „Feinde der Schiiten“ bedeuten. Den Brief habe sein Vater in der Garage gefunden.

Am XXXX 2015 sei der Beschwerdeführer von den Milizen mit einem Auto verfolgt worden. Nachgefragt führte er weiter aus, dass er an diesem Tag seinen Staatsbürgerschaftsnachweis holen habe wollen, weswegen er im XXXX -Bezirk gewesen sei. Eine Freundin habe ihn begleitet. Auf dem Weg zurück, es sei ca. bei der XXXX Universität gewesen, nahe der XXXX , habe er gemerkt, dass ein Auto hinter ihnen fahren würde und sie verfolge. Noch vor der nächsten Kreuzung sei der Fahrer des Autos neben ihm gefahren und habe ihn aufgefordert stehen zu bleiben. Der Beschwerdeführer habe dies jedoch nicht gemacht und sei weiter in den XXXX -Bezirk gefahren, wo er in weiterer Folge – zuvor habe er noch seine Freundin nach Hause gebracht – bei dem Onkel seines Vaters bis XXXX 2015 geblieben sei. In der Nacht vom XXXX 2015 sei der Beschwerdeführer von seinem Vater angerufen worden, und habe ihn dieser darüber informiert, dass ihr Haus beschossen worden sei. Eine persönliche Bedrohung des Beschwerdeführers habe es darüber hinaus jedoch nicht gegeben. Auch habe er sonst niemals persönlichen Kontakt mit einem Anhänger der Miliz gehabt. Aufgrund des Anschlages auf das Haus seiner Familie habe der Beschwerdeführer am XXXX 2015 das Land verlassen.

Der Beschwerdeführer sei wegen seiner Zugehörigkeit zu den Sunniten verfolgt worden. Wenn er Schiit wäre, dann wäre ihm das nicht passiert. Seine Familie habe nun keine Probleme mehr, weil er ausgereist sei; seine Familie sei auch nur wegen ihm bedroht worden. Das sei auch der Grund gewesen, weshalb er das Land verlassen habe. Darüber hinaus sei ein Umzug in einen anderen Bezirk in XXXX nicht möglich, zumal Häuser durchsucht werden würden und man registriert werde.

In Österreich habe der Beschwerdeführer eine Freundin, mit welcher er jedoch nicht zusammenlebe, da ihre Familie nichts über die Beziehung wissen dürfe. Darüber hinaus arbeite er beim Roten Kreuz und besuche einen Deutschkurs. Geld beziehe er von der Caritas.

Nachgefragt gab der Beschwerdeführer letztlich an, dass er in der Slowakei aus Angst den Namen XXXX angegeben habe. In der Slowakei sei er auch nicht gut behandelt worden.

2.       Mit gegenständlich in Beschwerde gezogenen Bescheid des BFA vom 16.03.2017, Zl. 1086929508-151327809-RD Wien, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Beweiswürdigend führte das BFA aus, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers ob der Widersprüchlichkeiten und Unplausibilitäten nicht glaubwürdig sei. Die behauptete Verfolgung durch die Asaib Al-Haqq, weil er deren Anhänger bei einer Beerdigung eines Freundes beschimpft habe, sei mangels Plausibilität nicht zu folgen.

Letztlich hielt das BFA fest, dass bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen, keine Hinweise gefunden werden könnten, welche den Schluss zuließen, dass durch die Rückkehrentscheidung auf unzulässige Weise im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK in das Recht des Beschwerdeführers auf Schutz des Familien- und Privatlebens eingegriffen werden würde. Ein berücksichtigungswürdiges Privat- und Familienleben habe er nicht vorgebracht und sei er erst kurze Zeit in Österreich aufhältig.

Mit Verfahrensanordnung vom 11.04.2017 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtberater amtswegig zu Seite gestellt.

3.       Gegen den dem Beschwerdeführer ordnungsgemäß zugestellten Bescheid wurde mit Schreiben vom XXXX .2017 des Vertreters des Beschwerdeführers fristgerecht Beschwerde erhoben.

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Bescheid im vollen Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Verletzung der Verfahrensvorschriften angefochten werde. Der Beschwerdeführer sei irakischer Staatsbürger und habe sein Herkunftsland aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung durch die schiitische Al-Haqq Miliz verlassen. Der Beschwerdeführer habe etliche Beweismittel als Bestätigung für seinen Fluchtgrund und auch für seine hervorragende Integration in Österreich abgegeben, die Behörde habe diese Beweismittel jedoch nicht in die Beweiswürdigung einfließen lassen. Die Behörde habe ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren durchgeführt, welches nicht den Anforderungen des § 18 Abs. 1 AsylG entspreche. Der Beschwerdeführer habe relevante Vorfälle chronologisch aufgezählt. Vielmehr seien die Fragen des BFA nicht klar genug gestellt worden, um darauf klare Antworten zu geben. Der entscheidungserhebliche Sachverhalt sei durch die Behörde nicht amtswegig ermittelt worden, weshalb das Verfahren mit einem schwerwiegenden Verfahrensmangel belastet sei. Bei gesetzmäßiger Führung des Ermittlungsverfahrens hätte die Behörde zu dem Schluss kommen müssen, dass dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten zukomme. Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe dem Beschwerdeführer nicht offen und habe es die Behörde verabsäumt dies zu überprüfen. Bei einer Rückkehr in den Irak drohe ihm auch eine Verletzung der ihm durch die EMRK gewährten Rechte. Bereits aufgrund der allgemeinen Gefährdungslage im Irak sei eine Rückkehr unzulässig. Der Beweiswürdigung der belangten Behörde sei ein Abgleich mit den Länderberichten nicht zu entnehmen.

Der Beschwerdeführer sei Flüchtling iSd GFK. In jedem Fall sei dem Beschwerdeführer jedoch im Hinblick auf das Fehlen einer innerstaatlichen Fluchtalternative, wie es sich aus dem LIB ergeben würde, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zu erteilen.

Ferner seien nun die mittlerweile bestehenden persönlichen und sozialen Bindungen des Beschwerdeführers in Österreich zu beachten. Nicht nachvollziehbar sei, dass die Behörde davon ausgehe, dass der Beschwerdeführer über keine nennenswerten Kontakte und besondere Integration in Österreich verfüge, denn gehe aus dem Akt Gegenteiliges hervor. Der Beschwerdeführer habe der Behörde einen Nachweis über Kenntnisse der deutschen Sprache auf dem Niveau B1 vorgelegt, sowie eine Bestätigung über die Tätigkeit beim Roten Kreuz und habe er bereits viele Freunde in Österreich gefunden. Eine Abwägung habe durch die belangte Behörde nicht stattgefunden.

Ferner wurde die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragt.

Angeschlossen waren der Beschwerde als Beweismittel zwei Arztbriefe von XXXX , Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin vom XXXX 2017 und vom XXXX .2017, sowie eine Deutschkursbesuchsbestätigung auf dem Niveau B1+.

4.       Mit Eingang vom 20.04.2018 erfolgte eine umfassende Urkundenvorlage des Beschwerdeführers. Vorgelegt wurden dem Bundesverwaltungsgericht in Kopie ua. eine Studienbestätigung XXXX für das Sommersemester 2018, Studentenausweis, ÖSD Zertifikat B2 vom 10.01.2018, Studienergänzungsprüfung Deutsch vom 23.03.2018, Referenzschreiben des Roten Kreuzes vom 26.03.2018 und mehrere Unterstützungsschreiben und Fotos.

Am 16.07.2020 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein des Beschwerdeführers und seines Vertreters sowie eines Vertreters des BFA durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben, die der Antragstellung zugrundeliegenden Umstände umfassend darzulegen. Weiters wurde ihm die Möglichkeit eingeräumt, innerhalb einer Frist von 14 Tagen zu den Länderfeststellungen eine schriftliche Stellungnahme abzugeben, wovon auch Gebrauch gemacht wurde.

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Sachverhalt:

1.1.    Feststellungen zur Person:

Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Der Beschwerdeführer heißt XXXX , geb. XXXX in XXXX , und ist Staatsangehöriger des Irak.

Der Beschwerdeführer gehört dem sunnitischen Glauben und der Volksgruppe der Araber an. Er ist am XXXX .2015 illegal in Österreich eingereist und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der Beschwerdeführer ist ledig. Seine Familie, sein Vater namens XXXX , seine Mutter namens XXXX und sein jüngerer Bruder namens XXXX , leben alle nach wie vor im Irak, sowie auch weitere Verwandte. Die Eltern des Beschwerdeführers sind geschieden; der Vater und der Bruder des Beschwerdeführers leben seit etwa zwei Jahren in XXXX mit seiner Großmutter väterlicherseits, die selbst kurdischer Abstammung ist, in einer Mietwohnung. Darüber hinaus leben noch weitere Verwandte des Beschwerdeführers – Cousin und Cousinen – in XXXX . Die Mutter des Beschwerdeführers lebt in XXXX bei deren Bruder. Der Beschwerdeführer steht mit seiner Familie in regelmäßigem Kontakt.

Der Vater – ein ehemaliger Polizeioffizier – und die Großmutter des Beschwerdeführers erhalten jeweils staatliche Pensionen. Auch die Mutter des Beschwerdeführers erhält eine staatliche Unterstützung. Darüber hinaus erzielt die Familie Einnahmen durch die Vermietung des Hauses in XXXX . Der Bruder des Beschwerdeführers ist arbeitsunfähig.

Der Beschwerdeführer besuchte in XXXX die Schule und schloss diese mit Matura ab. Am XXXX 2014 schloss er an der Universität XXXX in XXXX das Studium Communication Engineering mit dem akademischen Grad Bachelor ab. Anschließend hat er für kurze Zeit bei einer PC Firma als Ingenieur gearbeitet.

Mit Bescheid der XXXX vom 28.08.2017 wurde der Beschwerdeführer unter Anrechnung des Bachelorstudiums zum Masterstudium Telecommunications mit Wintersemester 2017/2018 zugelassen.

Am 07.12.2017 legte er die Prüfung B2 mit „Sehr gut“ ab. Am 22.03.2018 legte er die Ergänzungsprüfung aus Deutsch an der XXXX erfolgreich ab. Der Beschwerdeführer spricht auf sehr gutem Niveau die deutsche Sprache.

Seit XXXX 2016 arbeitet der Beschwerdeführer freiwillig beim Roten Kreuz in der Abteilung Familienzusammenführung, Abteilung „Suchdienst des Generalsekretariats des Österreichischen Roten Kreuzes“ und erledigt er diese Arbeit gewissenhaft. Seit 2020 führt er überdies Übersetzungstätigkeiten auf Basis eines Werkvertrages für das ÖRK durch.

Derzeit bestreitet er seinen Unterhalt durch die staatliche Grundversorgung und durch die Unterstützung von Freunden. Des Weiteren verfügt der Beschwerdeführer er über einen Cousin mütterlicherseits in Österreich, zu dem ein regelmäßiger Kontakt besteht und der ihn auch hin und wieder finanziell unterstützt. Der Beschwerdeführer verfügt über eine Einstellungszusage der XXXX , datiert mit XXXX 2020. Darüber hinaus verfügt der Beschwerdeführer seit 09.07.2020 über eine Gewerbeberechtigung „Dienstleistung in der automatischen Datenverarbeitung und Informationstechnik“.

Der Beschwerdeführer leidet unter psychischen Problemen und auftretenden schweren depressiven Episoden. Derzeit ist er nicht in psychologischer Behandlung. Der Beschwerdeführer leidet an keiner chronischen sowie schweren oder lebensbedrohlichen Erkrankung. Er ist arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer strafrechtlich unbescholten.

1.2.    Feststellungen zu den Gründen für das Verlassen des Heimatstaates:

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Irak einer aktuellen, unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt war oder im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.

Das Vorbringen im Irak einer Verfolgung durch die Asaib Al`Haqq ausgesetzt zu sein, weil er die Miliz bei der Trauerfeier eines Freundes beschimpft habe, war nicht glaubhaft.

Weiters kann nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak eine reale Gefahr einer Verletzung der EMRK bedeuten würde oder für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit mit sich bringen würde.

1.3.    Zur aktuellen Lage im Irak wird auf folgende Feststellungen verwiesen:

Das Gouvernement Bagdad ist das mit ca. 4.555 km² flächenmäßig kleinste Gouvernement des Landes und beherbergt die gleichnamige irakische Hauptstadt Bagdad. In Bagdad lebten 2018 offiziell schätzungsweise 8,1 Millionen Menschen. Obwohl Bagdad das kleinste Gouvernement im Irak ist, hat es die höchste Einwohnerzahl von allen Gouvernements. 87% der Bevölkerung des Gouvernements leben in der Stadt Bagdad selbst. Die Hauptstadt ist das wichtigste Wirtschaftszentrum des Landes und beherbergt die stark geschützte grüne Zone.

Die Stadt Bagdad ist in neun Verwaltungsbezirke gegliedert: Adhamiyah, Karkh, Karada, Khadimiyah, Mansour, Sadr City, Al Rashid, Rasafa und 9 Nissan (‘new Baghdad’). Die restliche Fläche des Gouvernements beherbergt die Verwaltungsbezirke Al Madain, Taji, Tarmiyah, Mahmudiyah und Abu Ghraib, die den sogenannten „Bagdad Belt“ bilden und die Vororte beherbergen.

Gouvernement und Stadt Bagdad weisen eine gemischte Bevölkerung aus Schiiten und Sunniten mit einer geringeren Anzahl christlicher Gemeinschaften auf. Während die meisten Stadtteile in Bagdad in der Vergangenheit von einer Mischung aus Sunniten und Schiiten bewohnt waren, führte die gewaltsame Säuberung im Zuge der konfessionellen Konflikte insbesondere in den Jahren 2006 und 2007 dazu, dass die Stadt viel stärker religiös geteilt und von den Schiiten dominiert zu sein scheint (siehe dazu im Detail unten 1.10 „Lage von sunnitischen Arabern in Bagdad“).

Die Einheiten der irakischen Armee in Bagdad unterstehen Führung des Baghdad Operations Command (BOC), das in zwei Gebiete unterteilt ist, das Karkh Area Command und das Rusafa Area Command. Die Special Forces Division (SFD) des Premierministers ist für die Sicherheit in der grünen Zone und den Schutz des Premierministers verantwortlich und kann vom Verteidigungsministerium, dem BOC, dem Joint Operations Command (JOC) sowie dem Premierminister selbst eingesetzt werden. Die SDF wird auch für Sicherungsaufgaben in Bagdad herangezogen, insbesondere während der schiitischen Pilgerreisen.

Dem Karkh Area Command untersteht die 6. irakische Armeedivision mit verschiedenen Brigaden, die in und außerhalb der Stadt stationiert sind. Die dem Rusafa Area Command unterstehende 9. Irakische Armeedivision ist derzeit nicht in Bagdad stationiert. Die Bundespolizei des irakischen Innenministeriums ist in Bagdad durch drei Bundespolizeidivisionen vertreten. Die 1. Federal Police Division sichert die südwestliche, westliche und südöstliche Kanalzone von Bagdad. Die 2. Federal Police Division, die einzige mechanisierte Division der Bundespolizei in Bagdad, wird hauptsächlich zur Terrorismusbekämpfung in Bagdad und den Bagdad-Belts, zur Sicherung von Pilgerwegen und zu Aufgaben in Zusammenhang mit der Strafverfolgung herangezogen. Die 4. Federal Police Division deckte das südliche Bagdad und Gebiete südlich der Hauptstadt ab und betreibt das Gefängnis in Karkh. Ergänzend steht westlich von Bagdad die 3. Brigade der Emergency Response Division (ERD) zur Verfügung. Die Stadt Bagdad und die Vororte werden grundsätzlich von den irakischen Behörden kontrolliert. In der Praxis teilen sich die Behörden jedoch die Verteidigungs- und Strafverfolgungsaufgaben mit den schiitisch dominierten Milizen der Volksmobilisierungseinheiten (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization units, PMU oder popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF), was zu einer „unvollständigen“ oder überlappenden Kontrolle mit diesen Milizen führt. Für die Jahre 2014 und 2015 liegen Berichte vor, wonach Einheiten der PMF an Misshandlungen und Morden an Zivilisten und Sunniten im Zusammenhang mit Operationen gegen den Islamischen Staat in den Bagdad-Belts beteiligt waren.

Seit dem Eintritt der militärischen Niederlage des Islamischen Staates im Dezember 2017 gibt es in Bagdad und anderen Landesteilen weniger Angriffe des Islamischen Staates mit großer Breitenwirkung. Der Islamische Staat verfügt weiterhin über aktive Zellen im nördlichen und westlichen Bagdad-Belt, diese befinden sich jedoch erheblichen Verlusten im Jahr 2017 in einem inaktiven Zustand. Seit dem Jahr 2018 sind Bagdad und die Bagdad-Belts kein prioritäres Operationsgebiet des Islamischen Staates mehr und ist der Islamische Staat nicht mehr für den überwiegenden Teil der Gewalttätigkeiten in der irakischen Hauptstadt verantwortlich. Die Möglichkeit, Anschläge auch im Zentrum der irakischen Hauptstadt zu verüben, dürfte nach wie vor gegeben sein, allerdings befindet sich die verbliebenen Anhänger des Islamischen Staates in einer Phase der Neuaufstellung.

Wenn der Islamische Staat die Verantwortung für Angriffe übernimmt, werden die Opfer entweder als „Abtrünnige“ oder „Rafida“ (eine abfällige Bezeichnung für schiitische Muslime) oder als bewaffnete Akteure bezeichnet, obwohl die Opfer möglicherweise Zivilisten sind. Der Islamische Staat übertreibt das häufig die Verluste, die seine Anschläge nach sich ziehen.

Die nachstehende Grafik zeigt, dass die Anzahl der zivilen Opfer von Gewaltakten in Bagdad in den Jahren 2017 und 2018 gegenüber den Vorjahren signifikant gesunken ist und wieder das Niveau vor dem Erstarkten des Islamischen Staates erreicht hat (Anmerkung: Die Datenbank Iraq Body Count kommt zu abweichenden Werten, siehe dazu die weitere Grafik).

Die folgende Grafik veranschaulicht die Entwicklung der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Gouvernement Bagdad und Anzahl der Opfer nach der Datenbank Iraq Body Count, wobei die Darstellung jedwede Art von Gewaltanwendung (insbesondere Bombenanschläge, Selbstmordattentate, Attacken mit Schusswaffen und außergerichtliche Tötungen) umfasst.

Die Verwaltungsbezirke mit der höchsten Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen, die zu zivilen Todesfällen führten, waren im Jahr 2018 Adhamiya mit 78 sicherheitsrelevanten Vorfällen, die zu 94 zivilen Todesfällen führten, gefolgt von Resafa (einschließlich Thawra 1 & 2) mit 77 sicherheitsrelevanten Vorfällen, die zu 161 zivilen Todesfällen führten, gefolgt von und Mada'In mit 63 sicherheitsrelevanten Vorfällen, bei denen 69 Zivilisten ums Leben kamen. Die höchste Rate an Todesfällen pro 100.000 Einwohner) wurden im Vorort Tarmia (35,80) verzeichnet, gefolgt von Mada'in (15,91) und Adhamiya (8,25). Die meisten von der Iraq Body Count im Jahr 2018 im Gouvernement Bagdad erfassten Vorfälle betrafen Schießereien (46,4%), gefolgt von Morden („executions“) (30,6%) und die Verwendung improvisierter Sprengsätze (20,7%).

Dem Experten Michael Knights zufolge ereigneten sich in Bagdad 2018 die wenigsten Terroranschläge von –Jihadisten seit dem Jahr 2003. Anschläge des Islamischen Staates sind in der Stadt selbst „mehr oder weniger verschwunden“, in den Bagdad-Belts sind die Anschläge des islamischen Staates zurückgegangen. Derzeit verhält sich der Islamische Staate in Bagdad und den Bagdad-Belts unauffällig und hat 2018 nicht viele Operationen durchgeführt. Wenn Angriffe verübt werden, handelt es sich meistens um Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen. Der Islamische Staat ist wahrscheinlich nicht für den Großteil der Gewalt in Bagdad verantwortlich. Das Institute for the Study of War geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass die derzeit registrierten Gewaltakte in Bagdad im Zusammenhang mit kriminellen und politischen Auseinandersetzungen (unter letztes fallen politische Einschüchterung, gezielte Attentate usw.) und nicht mit dem Islamischen Staat stehen. Auch der Experte Michael Knights geht davon aus, dass meisten Gewalttaten in Bagdad nicht dem Islamischen Staat zuzuschreiben sind. Quellen besagen, dass der Islamische Staat seine Aktivitäten derzeit nur im Bagdad-Belt und in den Randgebieten der angrenzenden Gouvernements entfaltet, anstatt in der Stadt selbst. Der Experte Joel Wing gab an, dass die gewalttätigsten Vorfälle mit improvisierten Sprengsätzen und Schießereien, die er aufzeichnete, Medienberichten zufolge im äußersten Norden und Süden von Bagdad und in geringerem Maße im Westen vorkommen. Das Institute for the Study of War stellte fest, dass die intensiveren Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen im nördlichen und nordwestlichen Teil der Stadt Bagdad (Kadhimiyah, Adahamyah) und im Vorort Tarmia (nördlich von Bagdad) verübt werden. Nur einige Vorfälle ereigneten sich in Bagdad westlich des Tigris - Karadah und Neu-Bagdad / al-Nissan und östlich des Tigris (Rusafa, Karkh, Rasheed und Mansour) sowie in Doura, jedoch in geringerer Intensität.

Das Institute for the Study of War kommt in seiner Analyse zum Ergebnis, dass „überwiegende Mehrheit“ der Gewaltakte in Bagdad im Jahr 2018 „politische Gewalt“ darstellte, die im Allgemeinen politische Einschüchterungen, bewaffnete Scharmützel und gezielte Morde unter Schiiten vor dem Hintergrund des anhaltenden politischen Wettbewerbs und der Regierungsbildung nach den Wahlen im Mai 2018 umfasste. In ähnlicher Weise erklärt der Experte Michael Knights, dass der Haupttrend bei der Gewalt in Bagdad darin besteht, dass es sich fast ausschließlich um persönliche, gezielte oder kriminelle Gewalt handelt, die in erster Linie den Einsatz von Kleinwaffen, Erpressung, Einschüchterung, improvisierte Sprengsätze oder Granaten, Schießereien, Raubüberfälle und andere Erscheinungsformen organisierter Kriminalität umfasst. Diese Aktivitäten dienen dem Experten zufolge in erster Linie der Einschüchterung und Gewalt gegen Zivilisten, um Geld zu verdienen, Zivilisten zu vertreiben, die als Außenseiter angesehen werden, oder um politische Gegner oder Menschen mit einer anderen ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit zu vertreiben oder ist gegen Personen gerichtet, die aufgrund ihres Lebensstils oder ihrer vorherigen Beteiligung an Verbrechen oder bewaffneten Konflikten exponiert sind. Er erwähnte auch, dass die politischen Spaltungen unter den Schiiten derzeit einen Großteil der Gewalt in den schiitischen Gebieten von Bagdad und Basrah ausmachen.

Die Expertin Geraldine Chatelard hebt hervor, dass Milizen in Bagdad häufig von Sunniten und Minderheiten der Gewalt beschuldigt werden, Morddrohungen, Entführungen, gezielte Attentate oder die Übernahme von Gebäuden von rechtmäßigen Eigentümern verübt zu haben, dies unter Hinweis darauf, dass sogar Schiiten Opfer von Erpressung und Tötung geworden sind. Der Expterte Michael Knights weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Sunniten und Christen in erster Linie befürchten, von schiitischen Milizen in Bagdad erpresst oder entführt zu werden, jedoch Quellen davon berichteten, dass die Zuweisung der Verantwortung für bestimmte Angriffe zu bestimmten Täter in Bagdad schwierig ist und insbesondere Sprengstoff sowohl zu politischen als auch zu kriminellen Zwecken eingesetzt wird, um Ziele anzugreifen und einzuschüchtern. Den PMF-Milizen werden dabei „enge Verbindungen zu kriminellen Banden“ zugeschrieben, die Unterscheidung zwischen beiden ist nicht immer klar.

Der Experte Michael Knights vertritt zur Sicherheitslage allgemein die Ansicht, dass in der Stadt Bagdad die Gebiete sicherer sind und weniger Raum für offene Gewalt wie z.B. improvisierte Sprengsätze oder Raubüberfälle bieten, in denen sich die irakischen Streitkräfte auf die Bewachung wichtiger Standorte konzentrieren – etwa die Verwaltungsbezirke Karkh, Doura und Mansour. Dort wo die irakischen Streitkräfte weniger dominant ist und bewaffnete Akteure wie kriminelle Banden und Milizen Revierkämpfe führen und um Einfluss konkrurrieren, ist die Sicherheitslage entsprechend angespannter, wie in Kadhimiyah, Jihad, Bayaa und Karadah. Er vertrat die Ansicht, dass die "schlimmsten Sicherheitsbereiche" in der Stadt Adhamiyah, New Bagdad und Sadr City seien.

Milizen sind auch in bewaffnete Zusammenstöße zwischen ihnen selbst und den regulären Sicherheitskräften verwickelt, die laut Michael Knights im Jahr 2018 im Zentrum der Hauptstadt und in östlich gelegenen Gebieten mehrmals stattfanden. Ein Vorfall zog mediale Aufmerksamkeit nach sich: Am 20. Juni 2018 stoppte die irakische Polizei ein Auto in der Innenstadt von Bagdad, das Angehörigen der von Iran unterstützten Miliz Kataib Hezbollah („Hisbollah-Brigaden“) gehörte. Ein Hisbollah-Konvoi mit fünf Fahrzeugen traf ein und begann auf die Polizei zu schießen, was zu einem Feuergefecht führte, bei dem zwei Offiziere und ein Milizionär verletzt wurden. Die Polizei umzingelte daraufhin das Hauptquartier der Kataib Hezbollah, bis der Schütze der Polizei übergeben wurde. Der Vorfall spiegelt den möglichen Machtkampf zwischen irakischen Sicherheitskräften (Armee, Bundespolizei, örtliche Polizei) und PMF-Milizen wider.

EASO hat die folgenden sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2018 exemplarisch identifiziert:

Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen und Bomben

Bagdad wurde in der Vergangenheit vom Islamischen Staat wegen der Bevölkerungskonzentration bevorzugt angegriffen, da die großen Menschenansammlungen die Möglichkeit geboten haben, mit einem Bombenanschlag eine große Anzahl von Opfern zu treffen. 2018 sind solche Anschläge jedoch zurückgegangen. Noch im Jahr 2017 verfolgte der Experte Michael Knights eine hohe Anzahl von Angriffen mit Hilfe von improvisierten Sprengsätzen auf Märkte und Geschäfte in Bagdad. Die Anzahl der Angriffe dieser Art ging jedoch im weiteren Verlauf des Jahres 2018 zurück. Das Institute for the Study of War stellte fest, dass ein in Bagdad im Jahr 2018 festgestellter charakteristischer Angriff des Islamischen Staates darin bestand, Sprengsätze gegen kleine Personenbusse einzusetzen, die jeweils etwa zehn Personen befördern und die in ganz Bagdad zum Straßenbild gehören. Diese Busse wurden im Islamischen Staat im Jahr 2018 mehrmals mit improvisierten Sprengsätzen angegriffen, was zwar nur minimale Verluste, aber Einschüchterungen der Zivilbevölkerung zur Folge hatte.

Noch im Januar 2018 sprengten sich zwei Selbstmordattentäter auf dem überfüllten Tayran-Markt in Bagdad und töteten dabei mindestens 38 Menschen und verletzten bis zu 90 Menschen. Der Angriff schockierte die Bevölkerung von Bagdad, da er nach einem signifikanten Rückgang solcher Angriffe in Bagdad. Er wurde vom Guardian als der schwerste Angriff auf Bagdad seit der Erklärung des Sieges über den Islamischen Staat beschrieben. Beispiele für andere explosive Angriffe im Jahr 2018 sind die folgenden:

?        In Rashidiya explodierte im Januar 2018 eine Bombe, ein Milizionär der PFM wurde getötet und zwei weitere wurden verletzt wurden.

?        Am 23. Januar 2018 wurde ein Soldat getötet und zwei weitere verletzt, als eine irakische Militärpatrouille in Tarmiya nördlich von Bagdad von einer Straßenbombe getroffen wurde.

?        Am 16. Mai 2018 wurden 5 Menschen getötet und 10 verletzt, als ein Selbstmordattentäter ein schiitisches Begräbnis in Tarmiya angriff.

?        Am 23. Mai 2018 verübte der Islamische Staat einen Selbstmordanschlag in der Shula-Region, bei dem Angaben des Islamischen Staates zufolge 33 Menschen getötet und verletzt wurden. Die irakischen Medien berichteten demgegeneüber, dass vier Menschen getötet und 15 verletzt wurden.

?        Der Islamische Staat meldete im August 2018 5 Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen auf Kleinbusse in Bagdad in den Distrikten Amil, Shula, Turath und Baladiyat. 669 Zwei dieser Angriffe töteten und verletzten 12 schiitische Muslime.

?        Im Juni 2018 wurden 17 Menschen bei einer Explosion eines Waffenlagers der Miliz von Muqtada al Sadr getötet und 80 verletzt. Berichten zufolge wurden die Waffen in einer Moschee aufbewahrt, die von Sadr-Anhängern benutzt wurde.

?        Eine Explosion auf einem Markt in Sadr City am 14. August 2018 wurde von einer Quelle im Sicherheitsapparat auf kriminelle Gründe zurückgeführt. Dabei wurden drei Menschen getötet und vier verletzt.

?        Ein improvisierter Sprengsatz, der auf Schiiten im Bezirk Jihad (West-Bagdad) abzielt, tötete Berichten zufolge im September 2018 vier Menschen in der Nähe eines Einkaufszentrums.

?        Am 25. September 2018 wurde in den folgenden Bezirken eine Reihe von Explosionen gemeldet, die zu Opfern führten: Al Jadid (New Bagdad) östlich von Bagdad (1 Tote, 2 Verletzte), al Shaab nördlich von Bagdad (2 Tote) und al-Baayaa westlich von Bagdad (2 Tote) .Der Islamische Staat übernahm am 25. September 2018 die Verantwortung für fünf improvisierte Sprengsätze gegen Shula, Kadhimiyah (Nord-Bagdad), Shaab und Bataween (Rusafa), und den Bezirk Bayaa (Zentral-Bagdad), dabei wurden 3 Zivilisten getötet.

?        Am 1. und 2. Oktober 2018 forderten zwei improvisierte Sprengsätze in Shaab und Al Jadid einen Toten und mehrere Verwundete. Dem Islamischen Staat zufolge sei die Zahl der Opfer bei diesen beiden Angriffen viel höher gewesen und habe mehr als 50 Tote und Verwundete betragen.

?        Am 7. Oktober 2018 wurden bei einer Reihe von Angriffen auf verschiedene Vororte in Bagdad (Abu Dshir, 17 km südlich von Bagdad, Abu Ghraib, 44 km westlich von Bagdad und im Norden von Bagdad) vier Personen getötet und fünf verletzt.

?        Am 4. November 2018 wurden bei einer Serie von fünf improvisiertem Sprengsätzen in verschiedenen Gebieten des Gouvernements 8 Personen getötet und 14 verletzt. Eine andere Quelle berichtete von 7 Toten und 16 Verletzten. Der Islamische Staat behauptete jedoch, es seien bei den von ihm verübten Anschlägen mehr als 50 Opfer zu beklagen gewesen.

Beispiele für bewaffnete Zusammenstöße im Jahr 2018 sind die folgenden:

?        Unbekannte bewaffnete Personen eröffneten das Feuer im Stadtteil Jihad im Westen von Bagdad und töteten im Januar 2018 einen lokalen Bürgermeister.

?        Der Islamische Staat ermordete 8 Zivilisten bei einem Angriff auf den Vorort Tarmia im Mai 2018; die Opfer stellten Werbung für die Parlamentswahl auf; der Islamische Staat bezeichnete sie als Mitglieder einer Stammesmiliz.

?        Bei einem weiteren, nächtlichen Angriff des Islamischen Staates auf den Vorort Tarmia Anfang Mai 2018 wurden 21 Mitglieder eines lokalen Stammes (18 Männer, 2 Frauen und ein Kind) getötet. Sämtliche Opfer waren Mitglieder des Albu-Faraj-Stammes, der ein überzeugter Gegner des Islamische Staates in der Region ist. Die Mitglieder sind Teil der lokalen sunnitischen Miliz und der PMF, die zur Verteidigung gegen des Islamischen Staat gegründet wurden. Die Angreifer des Islamischen Staates trugen Armeeuniformen und gingen zunächst gegen einen Anwalt vor, von dem bekannt war, dass er Opfern des Islamischen Staates half, und töteten ihn in seinem Haus. Als andere Dorfbewohner kamen, um zu helfen, eröffneten sie das Feuer, töteten und verletzten sie und zogen sich zurück, bevor die Armee eintraf, um sie zu fassen.

In Bagdad gab es mehrere Morde an Persönlichkeiten, die in sozialen Medien bekannt geworden waren, ohne dass die Täter identifiziert und einer bestimmten Gruppierung zugeordnet werden konnten.

?        Tara Fares, bekannt aus Instagram, die in den sozialen Medien über persönliche Freiheit berichtet, wurde am 27. September 2018. in Bagdad erschossen, als sie in ihrem Porsche fuhr.

?        Im Jahr 2017 wurde Karar Nushi, ein männliches Model, das Morddrohungen wegen seiner langen Haare und seiner engen Kleidung erhalten hatte, in der Palästina-Straße erstochen aufgefunden, wobei sein Körper Anzeichen von Folter zeigte.

?        Hammoudi al-Meteiry, ein 15-jähriger und als „König von Instagram“ bezeichneter Jugendlicher, der Berichten zufolge wegen seiner Homosexualität von unbekannten Tätern getötet wurde.

Der Islamische Staat gab bekannt, Scheichs und Stammesführer angegriffen zu haben, die die Parlamentswahlen im Mai 2018 unterstützten. Im Mai 2018 behauptete der Islamische Staat, er habe das Haus eines wahlfördernden Stammesführers mit einer Bombe angegriffen zu haben; es ist unklar, ob diese dabei getötet wurde. Folgende weiteren Angriffe wurden dem Islamischen Staat zugeschrieben:

?        Am 27. Februar 2018 wurden vier Mitglieder der Sahwa-Bewegung von unbekannten Tätern im Norden Bagdads erschossen. Einer wurde getötet, die anderen drei verwundet.

?        Am 1. März 2018 wurde ein ehemaliger Beamter der Sahwa-Bewegung durch eine Bombe in Bagdad getötet.

?        Am 29. April 2018 wurde ein Führer der PMF, Qassim Al-Zubaidi, bei einem Attentat in der Innenstadt von Bagdad verletzt. Stunden zuvor wurde ein Wahlkandidat der Rechtsstaat-Koalition nördlich von Bagdad getötet.

?        Am 22. Juni 2018 gab der Islamische Staat bekannt, einen Stammesführer in al-Zour in der Nähe von Tarmia nördlich der Hauptstadt getötet zu haben, weil er die Parlamentswahlen unterstützt hatte.

?        Am 8. Juli 2018 wurden ein Kommandeur der Stammesmiliz und einer seiner Begleiter bei einem Bombenangriff in Nordbagdad verwundet.

?        Am 19. Juli 2018 wurde ein Angehöriger der Sicherheitskräfte bei einem Angriff mit einer auf der Straße platzierten Bombe auf ihn in Tarmia im Norden von Bagdad verwundet.

?        Am 2. August 2018 wurde mit einer am Straßenrand platzierten Bombe ein Fahrzeug der Sicherheitskräfte in der Region Sabaa al-Bour nördlich von Bagdad angegriffen. Eine Person wurde getötet, eine andere verletzt.

Im Januar 2018 erklärte der Direktor des Medienbüros des BOC, dass die Sicherheitskräfte in der Hauptstadt Fortschritte in Bezug auf das Sammeln von Informationen über den Islamischen Staat gemacht hätten und dass sich Militäreinsätze im Bagdader Gürtel positiv auf die Sicherheitslage ausgewirkt hätten. Der Direktor kündigte ferner den Bau eines Sicherheitszauns um Bagdad mit Sicherheitstoren an, um Aufständische daran zu hindern, in die Stadt einzusickern.

Dem Institute für the Study of War zufolge hat sich BOC im vergangenen Jahr auf die Bagdad-Belts konzentriert, was zu dem Rückgang der Angriffe in Bagdad beigetragen hat. Im Allgemeinen sei es den Sicherheitskräften gelungen, die Rückkehr weitverbreiteter Gewalt nach Bagdad im Jahr 2018 zu verhindern. Dieser Erfolg zeigt sich in der allgemeinen Abnahme von Gewaltereignissen im vergangenen Jahr. Politische Gewalt stelle nach wie vor die größte Herausforderung dar, dazu komme Destabilisierung angesichts der anhaltenden Blockade der neuen irakischen Regierung unter dem irakischen Premierminister Adel Abdul-Mahdi. Die PMF und andere lokale Sicherheitskräfte in Bagdad würden häufig eher auf politische Akteure reagieren, als auf den institutionellen staatlichen Sicherheitsapparat.

Die Expertin Geraldine Chatelard erklärt, dass die Wirksamkeit des Schutzes der Zivilbevölkerung vor verschiedenen Formen von Gewalt vom politischen Willen der beteiligten Akteure abhängen kann. Schutzbemühungen werden durch die Situation vor Ort untergraben, in der PMF-Milizen auf Befehl ihrer eigenen Kommandos handeln und nicht der irakischen Regierung, weil sie verschiedenen politischen Anwärtern oder iranischen Gönnern gegenüber rechenschaftspflichtig sind. Die Regierung könne Erscheinungen von „Gesetzlosigkeit und Kriminalität“ seitens der Milizen derzeit nicht wirksam begegnen. Der Experte Michael Knights geht davon aus, dass Gesetzesverstöße von Milizen auch derzeit folgenlos bleiben. Landinfo schätzt die Lage in Bagdad so ein, dass Milizen weiterhin Bewegungsfreiheit zukommt und sie über Verbindungen zur Polizei verfügen und an Kontrolle, Verhaftung, Bestrafung bzw. Entführung von Personen ebenso beteiligt sind, wie an anderweitigen an kriminellen Aktivitäten. In den Bagdad-Belts haben die Milizen mehr Handlungsspielraum, dort können sie den Einheimischen das Recht verweigern, in ihre Häuser zurückzukehren. Die PMF-Milizen sind dessen ungeachtet populär und haben sowohl formelle als auch informelle Macht. Sie konzentrieren sich auch auf den Wiederaufbau. In Bagdad wurde etwa ihre Rolle beim Wiederaufbau einer medizinischen Klinik beworben. Manchmal wenden sich die Einheimischen, auch in Bagdad, an die Milizen der Nachbarschaft, anstatt an die Polizei, um Gerechtigkeit zu suchen.

Michael Knights zufolge gibt es eine große Konzentration von Sicherheitskräften, einschließlich der in Bagdad stationierten Armee, die seiner Ansicht nach angemessen und aktiv geführt werden und über adäquate Beratung und nachrichtendienstliche Unterstützung verfügen. Die Androhung bzw. Zufügung von Gewalt in Bagdad erfolge derzeit eher „persönlich und gezielt“ und weniger „situativ“ (Anwesenheit am falschen Ort / zum falschen Zeitpunkt). Das Institute for the Study of War erklärte, dass Milizen in Bagdad in einem gewaltsamen Wettbewerb um territoriale Präsenz und Territorium, Bevölkerung und politischen Einfluss stehen. Viele ihrer politischen Machthaber wurden im Mai 2018 in das irakische Parlament bzw. die Regierung gewählt.

Checkpoints in Bagdad werden dazu verwendet, um sicherzustellen, dass Autobomben und Selbstmordattentäter nicht in die Stadt eindringen. Dem Experten Fanar Haddad zufolge betreiben PMF-Milizen keine regulären Checkpoints in der Stadt Bagdad, richten solche bei Zwischenfällen aber ad hoc ein. In den Bagdad-Belts gibt es demgegenüber sichtbare PMF-Präsenz und PMF-Kontrollpunkte Eine ähnliche Ansicht vertrat ein im Irak ansässiger Sicherheitsanalytiker, der erklärte, dass sich die von PMF-Milizen betriebenen Kontrollpunkte hauptsächlich am Stadtrand von Bagdad befinden und nicht in der Stadt selbst, wobei an Kontrollpunkten im Osten der Stadt PMF-Elemente gemeldet wurden. Es sei für die PMF-Milizen möglich, temporäre Kontrollpunkte einzurichten, um auf bestimmte Probleme in den Stadtteilen von Bagdad zu reagieren. Im Januar 2018 teilte der Mediendirektor der BOC der Zeitung Asharq Al-Awsat mit, dass 281 Kontrollpunkte in Bagdad aufgehoben wurden, mindestens 600 Hauptstraßen und Ausgänge und ihre Vororte wiedereröffnet und am 10. Dezember 2018 Tausende Betonblöcke entfernt wurden. Im Jahr 2018 wurde außerdem die befestigte Internationale Zone (grüne Zone) in der Innenstadt für die Öffentlichkeit geöffnet. Dies ist die erste Wiedereröffnung nach Jahren. Im Jahr 2015 hatte die Regierung die grüne Zone für ein paar Tage geöffnet, aber nach Widerstand von US-Beamten wieder geschlossen.

Zur aktuellen Lage im Irak werden schließlich folgende (allgemeinen) Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:

Aktuelle Ereignisse

14.10.2019: Ein Ausschuss soll die mehr als 110 Todesfälle nach Massenprotesten gegen Korruption und Misswirtschaft in Irak untersuchen. Dies hatte Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi am 12.10.19 verkündet. Großajatollah Ali al-Sistani hatte die Einrichtung eines solchen Ausschusses gefordert.

Am 07.10.19 kam es in dem überwiegend schiitisch geprägten Stadtteil Sadr City erneut zu Demonstrationen. Die Demonstranten forderten neue Jobs und kritisierten den Tod mehrerer Demonstranten in der vorangegangenen Nacht. Bei den Ausschreitungen in der Nacht zum 07.10.19 waren mindestens acht Menschen gestorben.

28.10.2019: Die für den 25.10.19 angekündigten Proteste halten weiter an. Es handelt sich um die zweite Protestwelle in diesem Monat (vgl. BN v. 07.10.19). Seit dem 27.10.19 schließen sich lokalen Berichten zufolge vermehrt auch Schülerinnen, Schüler und Studierende in Bagdad und anderen Städten den Protesten an. Die Forderungen der Demonstranten enthalten u.a. Aufrufe zum Sturz des bestehenden politischen Systems (muhassassa), zur Absetzung der herrschenden politischen Elite und zur Reformierung des Wahlgesetzes. Demonstranten steckten mindestens 50 Regierungs-, Parteigebäude und Milizenbüros in Brand. Unbekannte Dritte eröffneten Human Rights Watch zufolge das Feuer auf Demonstranten, die versuchten Milizenbüros zu stürmen. Sicherheitskräfte nutzten u.a. Tränengas/-kanister, Gummigeschosse und Blendgranaten um die Demonstrati-onen aufzulösen. Anti-Terror-Einheiten wurden u.a. in Bagdad und Nasriyah entsandt, um Regierungsgebäude zu schützen und die Demonstrationen zu beenden.

Die Berichterstattung vor Ort bleibt weiterhin schwierig (vgl. BN v. 07.10.19). Am 27.10.19 veröffentlichte die irakischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte Namen von 13 in Nasriyah verhafteten Aktivisten. Am 22.10.19 veröffentlichte die irakische Regierung die Ergebnisse der Ermittlungen zu Toten und Verletzten während der vorangeganger Proteste (vgl. BN v. 07.10.19). Zwischen dem 01.10.19 und 09.10.19 wurden den Ermittlungen zufolge 157 Personen (inkl. acht Sicherheitskräfte) getötet und mehr als 3.000 Personen verletzt. Die häufigsten Verletzungs- und Todesursachen waren Schüsse in den Kopf oder die Brust. Der Einsatz von Scharfschützen und die Beschädigung von TV-Stationen (vgl. BN v. 07.10.19) wurden in den offiziellen Ermittlungen nicht aufgegriffen. Zwischen dem 25.10.19 und dem 27.10.19 kamen der irakischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge weitere73 Menschen ums Leben, mehr als 3.500 wurden verletzt.

IOM zufolge sind aufgrund der jüngsten Militäroperationen in Syrien im Zeitraum vom 14.-27.10.19 etwa rund 12.000 Menschen über verschiedene Grenzübergänge in den Irak geflohen. Der UN zufolge sind ca. 75% der registrierten Flüchtlinge Frauen und Kinder. Die Mehrheit der Geflüchteten wurde im Flüchtlingscamp Bardarash (Provinz Dohuk) untergebracht. Täglich kommen der UN zufolge zwischen 900 und 1.200 Personen im Lager Bardarash, welches kommende Woche seine Kapazität (max. 11.000 Personen) erreichen wird, an. Diejenigen mit Angehörigen in der Kurdischen Region-Irak (KR-I) sollen nach und nach aus dem Camp zu ihren Angehörigen entlassen werden. Kurdischen Medienberichten zufolge soll der Bau neuer Flüchtlingslager angesichts des Flüchtlingsstroms in Angriff genommen werden.

11.11.2019: Die Proteste in Irak halten an (vgl. BN v. 04.11.19). Die Demonstrationen konzentrierten sich weiterhin auf Bagdad und die südlichen und zentralen Provinzen, insbesondere Babil, Basra, Dhi Qar, Karbala, Missan, Muthana, Najaf, Qadisiyah und Wassit, auch wenn vereinzelte Demonstrationen in anderen Provinzen stattfanden. Studierende schlossen sich auch am 10.11.19 erneut den Demonstrationen an. Offiziellen irakischen Angaben zufolge sollen bei den regierungskritischen Massenprotesten in Irak seit Anfang Oktober mindestens 319 Menschen ums Leben gekommen sein. Präsident Barham Salih, Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi und der Parlamentsvorsitzende Mohammed al-Halbusi hätten am 10.11.19 in einer gemeinsamen Mitteilung versprochen, Korruption zu bekämpfen und auf eine Reform des Wahlrechts hinzuarbeiten. Das bestehende politische System und die Verfassung müssten überarbeitet werden.

Seit Beginn der zweiten Protestwelle (vgl. BN v. 28.10.19) setzen irakische Sicherheitskräfte militärische Tränengasgranaten ein. Menschenrechtsorganisationen zufolge werden sie wahllos in die Menschenmenge oder gezielt auf Demonstranten (Kopf-/Brusthöhe) geworfen. Zudem führt ihr Einsatz u.a. zu Atembeschwerden bis hin zum Ersticken und Verbrennungen auf der Haut.

Lt. dpa-Meldung vom 10.11.2019 sei der Organisation NetBlocks zufolge das Internet seit fast einer Woche nur noch teilweise zugänglich. Seit über einem Monat hätten nur 20 bis 35 Prozent der Nutzer über längere Zeiträume Zugang zum Internet gehabt.

Am 05.11.19 wurde eine Reihe von Aktivisten von irakischen Sicherheitskräften in mehreren Städten und Provinzen verhaftet, darunter in Bagdad, Basra, Dhi Qar, Karbala und Maysan. Berichten zufolge hätten die Sicherheitskräfte die Massenverhaftungen ohne entsprechende Haftbefehle durchgeführt. Bereits am 25.10.19 veröffentlichte der Hohe Richterliche Rat eine Stellungnahme, dass Artikel 2 des Anti-Terror-Gesetztes bei Zerstörung oder Beschädigung öffentlichen Eigentums oder Gewalt gegen Sicherheitskräfte zum Tragen kommt (UNAMI. 2. Bericht, S. 5).

UNAMI veröffentlichte am 05.11.19 einen weiteren Bericht zu den Demonstrationen im Zeitraum vom 25.10.-04.11.19, in dem ein Teil der Gewalt dokumentiert ist. Die ersten Untersuchungsergebnisse würden darauf hinweisen, dass zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und Missbräuche begangen wurden, einschließlich tödlicher Gewalt gegen Demonstranten, der unverhältnismäßige Einsatz von Tränengas und Blendgranaten, fortgesetzte Anstrengungen zur Begrenzung der Medienberichterstattung über die Demonstrationen, Entführungen und vielfache Festnahmen.

Nach den Protesten in Bagdad und mehreren Provinzen im Zentral- und Südirak vom 01.10.-09.10.19 sind Massendemonstrationen unter anderem gegen staatliche Korruption, Arbeitslosigkeit und mangelnde Grundversorgung am 25.10.19 wieder aufgeflammt. Die Demonstranten hätten sich auch sehr frustriert über die Todesfälle und Verletzten gezeigt, die sowohl auf den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt durch die Sicherheitskräfte als auch auf vorsätzliche Tötungen durch bewaffnete Gruppierungen während der früheren Demonstrationen zurückzuführen seien. Darüber hinaus hätten die Demonstranten begonnen, grundlegende Veränderungen des politischen Systems zu fordern. Im Vergleich zu den früheren Demonstrationen, an denen meist junge Männer der Arbeiterklasse und Aktivisten der Zivilgesellschaft beteiligt gewesen seien, hätte an diesen Demonstrationen eine zunehmende Zahl von Demonstranten aus demografisch unterschiedlichen Bevölkerungsschichten teilgenommen, darunter eine signifikante Zahl von Frauen, älteren Menschen, Schülern, Fachleuten, Studenten und Lehrern. Die Demonstrationen hätten sich weiterhin auf Bagdad und die südlichen und zentralen Provinzen, insbesondere Babil, Basra, Dhi Qar, Karbala, Missan, Muthana, Najaf, Qadisiyah und Wassit konzentriert, auch wenn vereinzelte Demonstrationen in anderen Provinzen stattgefunden hätten.

Am 04.11.19 und 05.11.19 führte die türkische Luftwaffe erneut Luftschläge im Gebiet Sinjar durch. Die US-Kommission für Religionsfreiheit verurteilte die Nähe der Luftschläge zu zivilen Wohngebieten.

25.11.2019: Seit Wochen kommt es immer wieder zu Protesten gegen die politische Führung. Vor allem in Bagdad und im Süden des Landes demonstrieren die Menschen. Die Demonstrationen richten sich insbesondere gegen die Korruption und die schlechte Wirtschaftslage. Die Demonstranten fordern einen Rücktritt der Regierung sowie ein neues politisches System. Bislang sind seit Beginn der Proteste mehr als 320 Menschen ums Leben gekommen und Tausende wurden verletzt. Menschenrechtsorganisationen werfen den Sicherheitskräften vor, mit großer Härte gegen die Proteste vorzugehen. Nach jüngsten Pressemeldungen kam es in Bagdad und anderen Provinzen im Süden erneut zu Zusammenstößen. Sicherheitskräfte sollen Tränengas eingesetzt und mit scharfer Munition geschossen haben. In Nasirija, Provinz Dhi Qar, im Süden des Landes, soll ebenfalls scharfe Munition und Tränengas eingesetzt worden sein, um eine Menschenmenge zu vertreiben, die drei Brücken in der Stadt besetzt hatte. Dabei sollen mindestens drei Menschen getötet und mehr als 50 weitere verletzt worden sein. Laut einer weiteren Pressemeldung sollen mehr als 70 Menschen verletzt worden sein. Auch in den Provinzen Kerbala, Najaf, Qadissiyah, Wassit, Maysan und Basra soll es zu Protesten mit Toten und Verletzten gekommen sein.

02.12.2019: Das irakische Parlament hat am 01.12.19 das Rücktrittsgesuch von Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi angenommen. Mahdi soll die Amtsgeschäfte weiterführen, bis ein Nachfolger bestimmt werde. Mahdi hatte am 29.11.19 seinen Rücktritt angekündigt, nachdem am 28.11.19 die Gewalt eskaliert war.

Auch in der vergangenen Woche hielten die Proteste an. Trotz des angekündigten Rücktritts von Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi am 29.11.19 kam es am 30.11.19 erneut zu Demonstrationen in Bagdad und den südlichen Provinzen. Auch in Mosul kam es zu Solidaritätsbekundungen. Demonstranten hatten am 01.12.19 zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage das iranische Konsulat in Najaf in Brand gesetzt. Bereits am 27.11.19 stürmten irakische Demonstranten das iranische Konsulat in Najaf und zündeten das Gebäude an. Die konsularischen Mitarbeiter konnten kurz zuvor evakuiert werden. Sicherheitskräfte hatten am 27.11.19 Tränengas und scharfe Munition gegen die Protestierenden eingesetzt. Demonstrationen wurden u.a. auch aus den Provinzen Bagdad, Dhi Qar, Karbala und Babil bekannt. Bislang wurden im Rahmen der Proteste seit Anfang Oktober 2019 mindestens 420 Menschen getötet und etwa 15.000 verletzt.

Am 01.12.19 erließ der Hohe Justizrat, die oberste irakische Justizbehörde, einen Haftbefehl gegen General Jamil al-Shammari. Dem Hohen Justizrat zufolge hatte er das Durchgreifen gegen Demonstranten in der Provinz Dhi Qar, im Süden des Landes, angeordnet, bei dem mindestens 32 Menschen ums Leben gekommen sind. Er sei am 28.11.19 seines Postens enthoben worden, weiterhin sei ein Reiseverbot gegen ihn verhängt worden.

Am 21.11.19 teilte die irakische Medienkommission die dreimonatige Suspension von neun TV-Stationen (Al-Arabiyam Al-Hadath, NRT TV, ANB TV, Dijlah, Al-Sharqiya TV, Al-Fallujah TV, Al-Rasheed, Hona Bagdad) und die dauerhafte Schließung von vier Radiostationen (Radio Al-Nass, Radio Sawa, Radio Al-Yawm, Radio Nawa) mit. Vier weitere TV-Stationen (Rudaw TV, Asia TV, Al-Sumaria TV, Ur TV, Syk New Arabic) erhielten eine Warnung. Als Grund für die Schließungen der TV-Stationen wurden u.a. die Nichtbeachtung von Richtlinien, Sendung aus dem Ausland und Anstiftung zum Hass genannt. Betroffen sind sowohl lokale als auch internationale Media Outlets. Reporter ohne Grenzen berichtet, dass am 26.11.19 eine Reporterin und ein Kameramann (Dijlah TV) in Najaf von der Bereitschaftspolizei zusammengeschlagen und ihr Equipment beschlagnahmt wurde. Seit Beginn der Proteste Anfang Oktober 2019 kommt es zu schweren Einschränkungen der Pressefreiheit und Übergriffen auf Journalisten (vgl. BN v. 07.10.19).

09.12.2019: Am 06.12.19 haben in Bagdad Augenzeugen zufolge unbekannte Schützen auf Demonstranten geschossen. Dabei sollen mindestens 16 Menschen getötet und rund 100 weitere verletzt worden sein. Nach Angaben des irakischen Innenministeriums wurden vier Zivilisten getötet und 80 weitere verletzt. Dennoch kam es am 08.12.19 in Bagdad und mehreren Städten im Süden des Landes, u.a. in Hilla (Provinz Babil), Amara (Provinz Maysan), Diwaniya (Provinz Qadissiyah), Kut (Provinz Wasit) und Najaf (Provinz Najaf), erneut zu Protesten.

In Nasiriyah (Provinz Dhi Qar), einem Hotspot der Proteste, versammelten sich am 08.12.19 in der Innenstadt Demonstranten zusammen mit Vertretern mächtiger Stämme. Dort waren am 05.12.19 mehr als 25 Menschen bei Protesten getötet worden. Dies veranlasste die lokalen Stämme, die Sicherheits- und Verwaltungsangelegenheiten zu übernehmen. Die Checkpoints werden nun mit Freiwilligen besetzt. Nach Zählung der irakischen Menschenrechtskommission wurden bei den regierungskritischen Protes

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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