TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/15 L529 2134451-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.10.2020
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Entscheidungsdatum

15.10.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4

Spruch


L529 2134451-2/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. M. EGGINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch RA MMag. Christoph DOPPELBAUER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.11.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.08.2020, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. – III. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II. Im Übrigen wird der Beschwerde stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG wird XXXX alias XXXX der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge kurz als „BF“ bezeichnet), ein Staatsangehöriger des Irak, stellte nach illegaler Einreise am 27.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

I.2. Anlässlich der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 28.10.2015 gab der BF an, er habe eines Tages eine bewusstlose Frau auf der Straße gefunden und habe diese ins Krankenhaus gebracht; sie sei aber bereits tot gewesen. Er sei deshalb in Haft gewesen, aber gegen Kaution freigelassen worden. Die Familie der Frau glaube, dass er diese umgebracht habe und bei Rückkehr fürchte er, von den Brüdern der Frau getötet zu werden.

I.3. Am 12.06.2016 erhob der BF Säumnisbeschwerde gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG (§ 8 VwGVG).

I.4. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 16.09.2016, L504 2134451-1/3E, wurde die Beschwerde des BF als unzulässig zurückgewiesen.

I.5. Am 20.09.2018 wurde der BF beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen. Zum Fluchtgrund befragt gab er zusammengefasst im Wesentlichen an, dass er auf der Straße die Leiche einer Frau gefunden und ins Krankenhaus gebracht habe. Er sei dann vom Vater der Frau bedroht worden und habe deshalb sein Heimatland verlassen. Sein Bruder sei vom Vater dieser Frau mit einer Rasierklinge im Halsbereich verletzt worden.

I.6. Der Antrag auf internationalen Schutz wurde mit dem im Spruch genannten Bescheid des BFA gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

I.7. Gegen diesen Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben. Darin wurde der Bescheid wegen Verfahrensmängeln und unrichtiger rechtlicher Beurteilung in vollem Umfang angefochten.

Im Wesentlichen zusammengefasst verwies der BF auf sein bisheriges Vorbringen und dass er von Blutrache bedroht sei, auf die fehlende Schutzfähigkeit und –willigkeit des irakischen Staates, dass ihm eine Rückkehr in den Irak nicht zumutbar sei und seine Integration in Österreich nicht berücksichtigt worden wäre.

I.8. Der Verwaltungsakt langte am 07.01.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein und wurde vorerst der Gerichtsabteilung L528 zugeteilt.

I.9. Mit Verfügung vom 21.01.2019 wurde die Rechtssache wegen Ausscheidens des Leiters der Gerichtabteilung L528 dieser Gerichtsabteilung abgenommen und der Gerichtsabteilung L529 mit 06.03.2019 neu zugeteilt (OZ 3).

I.10. Für den 14.08.2020 lud das erkennende Gericht die Verfahrensparteien zu einer mündlichen Verhandlung. Mit der Ladung wurden dem BF länderkundliche Informationen zum Irak übermittelt und die Möglichkeit zur Stellungnahme dazu eingeräumt.

I.11. Am 10.08.2020 nahm die Rechtsvertretung des BF im BVwG, Außenstelle Linz, Akteneinsicht.

I.12. Am 14.08.2020 wurde von 08.30 – 13.25 Uhr eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt. In dieser hatte der BF ausführlich Gelegenheit, zu seinem Fluchtvorbringen, seiner Integration und seiner Rückkehrsituation Stellung zu nehmen.

I.13. Hinsichtlich des detaillierten Verfahrensherganges wird auf den Akteninhalt verwiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Feststellungen (Sachverhalt):

II.1.1. Zur Person des BF:

Die Identität des BF steht fest. Er ist irakischer Staatsangehöriger, Araber und muslimisch-schiitischer Moslem. Der BF ist ledig und hat keine Kinder, er ist gesund und arbeitsfähig.

Der BF reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 27.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Er stammt aus der Stadt XXXX in der Provinz al-Qadisiyya und hat dort bis zu seiner Ausreise mit seiner Familie (Eltern, 2. Ehefrau des Vaters, Geschwister) gelebt. Er spricht Arabisch als Muttersprache. Er hat in seinem Heimatland neun Jahre die Schule besucht und seinen Unterhalt mit Autohandel und Taxifahrten verdient.

Familienangehörige des BF (Eltern, 2. Ehefrau des Vaters, Geschwister und Halbschwestern) sind nach wie vor im Irak aufhältig und der BF ist in Kontakt mit ihnen. Ein Bruder des BF lebt in der Türkei. Der Vater ist Beamter im Verkehrsamt (Verkehrspolizist) und die Familie verfügt über ein Geschäft für XXXX Der Vater erwirtschaftet ein monatliches Einkommen von etwa 1.300 bis 1.500 Dollar/Monat. Die Versorgung der im Irak lebenden Verwandten ist gewährleistet.

Ein Cousin des BF lebt in Österreich und hat die österreichische Staatsbürgerschaft, ein zweiter Cousin, mit dem und dessen Ehefrau der BF in Österreich eingereist ist, ist Asylwerber in Österreich.

In Österreich bezog der BF bis 31.03.2018 Leistungen aus der Grundversorgung. Der BF ist Miteigentümer eines Telefonshops mit Niederlassungen in Linz und in Wels und verfügt über ein regelmäßiges Einkommen. Er ist selbsterhaltungsfähig.

Er hat eine in Österreich lebende Freundin mit ungarischer Staatsbürgerschaft, mit der er in keiner Lebensgemeinschaft lebt. Der BF lebt in Österreich in einer Mietwohnung.

Der BF besuchte Deutschkurse, hat jedoch bislang keine Deutschprüfung absolviert. Er verfügt über Deutschkenntnisse auf unbestimmten Niveau, die es ihm aber ermöglichen, sich im Alltag zu verständigen. Er ist kein Mitglied in einem Verein oder sonstigen Organisation. Der BF ist um Integration bemüht.

Der BF ist strafrechtlich unbescholten.

II.1.2. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates:

Der BF hat nicht glaubhaft dargelegt und kann auch sonst nicht festgestellt werden, dass er vor seiner Ausreise aus seiner Heimat in dieser einer aktuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt war oder er im Falle seiner Rückkehr dorthin mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer solchen ausgesetzt wäre oder in eine lebens- bzw. existenzbedrohliche Notlage geraten würde.

II.1.3. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:

II.1.3.1. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak schließt sich das ho. Gericht den schlüssigen und nachvollziehbaren Feststellungen des BFA an. Den BF wurden zudem das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung am 17.03.2020) übermittelt. Es wird konkret auf die insoweit relevanten Abschnitte hingewiesen:

Sicherheitslage

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).

Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Februar 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).

Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).

Sicherheitslage Südirak

Der gesamte südliche Teil des Irak, einschließlich des Gouvernements Babil, steht nominell unter der Kontrolle der irakischen Regierung. Vielerorts scheinen die Regierungsbehörden gegenüber lokalen Stämmen und Milizen noch immer in einer schwächeren Position zu sein. Die irakische Regierung war gezwungen, dem Kampf gegen den IS im Zentral- und Nordirak in den letzten Jahren Vorrang einzuräumen, bedeutende militärische und polizeiliche Ressourcen aus dem Süden abzuziehen und in diese Gegenden zu entsenden. Vor diesem Hintergrund sind Stammeskonflikte, eskalierende Gesetzlosigkeit und Kriminalität ein Problem der lokalen Sicherheitslage. Die Bemühungen der Regierung, die Kontrolle wieder zu übernehmen, scheinen noch nicht zum entscheidenden Erfolg geführt zu haben. Regierungsnahe Milizen sind in unterschiedlichem Maße präsent, aber der Großteil ihrer Kräfte wird im Norden eingesetzt. Terrorismus und Terrorismusbekämpfung spielen im Süden nach wie vor eine Rolle, insbesondere in Babil, aber im Allgemeinen in geringerem Maße als weiter im Norden. Noch immer gibt es vereinzelte Terroranschläge (Landinfo 31.5.2018).

Seit 2015 finden in allen Städten des Südirak regelmäßig Demonstrationen statt, um gegen die Korruption der Regierung und die Arbeitslosigkeit zu protestieren und eine bessere Infrastruktur zu fordern. Gewöhnlich finden diese Demonstrationen in Ruhe statt, sie haben jedoch auch schon zu Zusammenstößen mit der Polizei geführt, mit Verletzten und Toten (CEDOCA 28.2.2018).

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements des Zentral- aber auch Südiraks (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiyah, Dhi Qar,Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019).

Rechtsschutz / Justizwesen

Die irakische Gerichtsbarkeit besteht aus dem Obersten Justizrat, dem Obersten Gerichtshof, dem Kassationsgericht, der Staatsanwaltschaft, der Justizaufsichtskommission, dem Zentralen Strafgericht und anderen föderalen Gerichten mit jeweils eigenen Kompetenzen (Fanack 2.9.2019). Das Oberste Bundesgericht erfüllt die Funktion eines Verfassungsgerichts (AA 12.1.2019).

Die Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Justiz (Stanford 2013; vgl. AA 12.1.2019; USDOS 11.3.2020). Jedoch schränken bestimmte gesetzliche Bestimmungen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ein (USDOS 11.3.2020). Die Rechtsprechung ist in der Praxis von einem Mangel an kompetenten Richtern, Staatsanwälten sowie Justizbeamten gekennzeichnet. Eine Reihe von Urteilen lassen auf politische Einflussnahme schließen. Hohe Richter werden oftmals auch unter politischen Gesichtspunkten ausgewählt (AA 12.1.2019). Zudem ist die Justiz von Korruption, politischem Druck, Stammeskräften und religiösen Interessen beeinflusst. Aufgrund von Misstrauen gegenüber Gerichten oder fehlendem Zugang wenden sich viele Iraker an Stammesinstitutionen, um Streitigkeiten beizulegen, selbst wenn es sich um schwere Verbrechen handelt (FH 4.3.2020).

Eine Verfolgung von Straftaten findet nur unzureichend statt (AA 12.1.2019). Strafverfahren sind zutiefst mangelhaft. Willkürliche Verhaftungen, einschließlich Verhaftungen ohne Haftbefehl, sind üblich (FH 4.3.2020). Eine rechtsstaatliche Tradition gibt es nicht. Häufig werden übermäßig hohe Strafen verhängt. Obwohl nach irakischem Strafprozessrecht Untersuchungshäftlinge binnen 24 Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssen, wird diese Frist nicht immer respektiert und zuweilen auf 30 Tage ausgedehnt. Es gibt häufig Fälle überlanger Untersuchungshaft, ohne dass die Betroffenen, wie vom irakischen Gesetz vorgesehen, einem Richter oder Staatsanwalt vorgeführt würden. Freilassungen erfolgen mitunter nur gegen Bestechungszahlungen. Insbesondere Sunniten beschweren sich über „schiitische Siegerjustiz“ und einseitige Anwendung der bestehenden Gesetze zu ihren Lasten. Das seit 2004 geltende Notstandsgesetz ermöglicht der Regierung Festnahmen und Durchsuchungen unter erleichterten Bedingungen (AA 12.1.2019).

Korruption oder Einschüchterung beeinflussen Berichten zufolge einige Richter in Strafsachen auf der Prozessebene und bei der Berufung vor dem Kassationsgericht. Zahlreiche Drohungen und Morde durch konfessionelle, extremistische und kriminelle Elemente oder Stämme beeinträchtigten die Unabhängigkeit der Justiz. Richter, Anwälte und ihre Familienangehörigen sind häufig mit Morddrohungen und Angriffen konfrontiert (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 26.2.2019). Nicht nur Richter, sondern auch Anwälte, können dem Druck einflussreicher Personen, z.B. der Stämme, ausgesetzt sein. Dazu kommt noch Überlastung. Ein Untersuchungsrichter kann beispielsweise die Verantwortung über ein Gebiet von einer Million Menschen haben, was sich negativ auf die Rechtsstaatlichkeit auswirkt (LIFOS 8.5.2014).

Die Verfassung garantiert das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess für alle Bürger (USDOS 11.3.2020) und das Recht auf Rechtsbeistand für alle verhafteten Personen (CEDAW 30.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Dennoch verabsäumen es Beamte routinemäßig, Angeklagte unverzüglich oder detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu informieren. In zahlreichen Fällen dienen erzwungene Geständnisse als primäre Beweisquelle. Beobachter berichteten, dass Verfahren nicht den internationalen Standards entsprechen (USDOS 11.3.2020).

Die Behörden verletzen systematisch die Verfahrensrechte von Personen, die verdächtigt werden dem IS anzugehören, sowie jene anderer Häftlinge (HRW 14.1.2020). Die Verurteilungsrate der im Schnelltempo durchgeführten Verhandlungen tausernder sunnitischer Moslems, denen eine IS-Mitgliedschaft oder dessen Unterstützung vorgeworfen wurde, lag 2018 bei 98% (USCIRF 4.2019). Menschenrechtsgruppen kritisierten die systematische Verweigerung des Zugangs der Angeklagten zu einem Rechtsbeistand und die kurzen, summarischen Gerichtsverfahren mit wenigen Beweismitteln für spezifische Verbrechen, abgesehen von vermeintlichen Verbindungen der Angeklagten zum IS (FH 4.3.2020; vgl. CEDAW 30.9.2019). Rechtsanwälte beklagen einen häufig unzureichenden Zugang zu ihren Mandanten, wodurch eine angemessene Beratung erschwert wird. Viele Angeklagte treffen ihre Anwälte zum ersten Mal während der ersten Anhörung und haben nur begrenzten Zugang zu Rechtsbeistand während der Untersuchungshaft. Dies gilt insbesondere für die Anti-Terror-Gerichte, wo Justizbeamte Berichten zufolge versuchen, Schuldsprüche und Urteilsverkündungen für Tausende von verdächtigen IS-Mitgliedern in kurzer Zeit abzuschließen (USDOS 11.3.2020). Anwälte und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die Familien mit vermeintlicher IS-Zugehörigkeit unterstützen, sind gefährdet durch Sicherheitskräfte bedroht oder sogar verhaftet zu werden (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Laut einer Studie über Entscheidungen von Berufungsgerichten in Fällen mit Bezug zum Terrorismus, haben erstinstanzliche Richter Foltervorwürfe ignoriert, auch wenn diese durch gerichtsmedizinische Untersuchungen erhärtet wurden und die erzwungenen Geständnisse durch keine anderen Beweise belegbar waren (HRW 25.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Für das Anti-Terror-Gericht in Ninewa beobachtete HRW im Jahr 2019 eine Verbesserung bei den Gerichtsverhandlungen. So verlangten Richter einen höheren Beweisstandard für die Inhaftierung und Verfolgung von Verdächtigen, um die Abhängigkeit des Gerichts von Geständnissen, fehlerhaften Fahndungslisten und unbegründeten Anschuldigungen zu minimieren (HRW 14.1.2020).

Am 28.3.2018 kündigte das irakische Justizministerium die Bildung einer Gruppe von 47 Stammesführern an, genannt al-Awaref, die sich als Schiedsrichter mit der Schlichtung von Stammeskonflikten beschäftigen soll. Die Einrichtung dieses Stammesgerichts wird durch Personen der Zivilgesellschaft als ein Untergraben der staatlichen Institution angesehen (Al Monitor 12.4.2018). Das informelle irakische Stammesjustizsystem überschneidet und koordiniert sich mit dem formellen Justizsystem (TCF 7.11.2019).

Nach Ansicht der Regierung gibt es im Irak keine politischen Gefangenen. Alle inhaftierten Personen sind demnach entweder strafrechtlich verurteilt oder angeklagt oder befinden sich in Untersuchungshaft. Politische Gegner der Regierung behaupteten jedoch, diese habe Personen wegen politischer Aktivitäten oder Überzeugungen unter dem Vorwand von Korruption, Terrorismus und Mord inhaftiert oder zu inhaftieren versucht (USDOS 11.3.2020).

Sicherheitskräfte und Milizen

Im Mai 2003, nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein, demontierte die Koalitions-Übergangsverwaltung das irakische Militär und schickte dessen Personal nach Hause. Das aufgelöste Militär bildete einen großen Pool für Aufständische. Stattdessen wurde ein politisch neutrales Militär vorgesehen (Fanack 2.9.2019).

Der Irak verfügt über mehrere Sicherheitskräfte, die im ganzen Land operieren: Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) unter dem Innen- und Verteidigungsministerium, die dem Innenministerium unterstellten Strafverfolgungseinheiten der Bundes- und Provinzpolizei, der Dienst zum Schutz von Einrichtungen, Zivil- und Grenzschutzeinheiten, die dem Öl-Ministerium unterstellte Energiepolizei zum Schutz der Erdöl-Infrastruktur, sowie die dem Premierminister unterstellten Anti-Terroreinheiten und der Nachrichtendienst des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS) (USDOS 11.3.2020). Neben den regulären irakischen Streitkräften und Strafverfolgungsbehörden existieren auch die Volksmobilisierungskräfte (PMF), eine staatlich geförderte militärische Dachorganisation, die sich aus etwa 40, überwiegend schiitischen Milizgruppen zusammensetzt, und die kurdischen Peshmerga der Kurdischen Region im Irak (KRI) (GS 18.7.2019).

Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle (USDOS 11.3.2020; vgl. GS 18.7.2019).

Korruption

Das Gesetz sieht strafrechtliche Sanktionen für Korruption durch Staatsdiener vor, aber die Regierung setzt das Gesetz nicht immer wirksam um. Im Laufe des Jahres 2018 gab es zahlreiche Berichte über staatliche Korruption. Beamte waren häufig ungestraft in korrupte Praktiken verstrickt. Die Untersuchung von Korruption ist nicht frei von politischer Einflussnahme. Erwägungen hinsichtlich Familienzugehörigkeit, Stammeszugehörigkeit und Religionszugehörigkeit beeinflussen Regierungsentscheidungen auf allen Ebenen maßgeblich. Bestechung, Geldwäsche, Vetternwirtschaft und Veruntreuung öffentlicher Gelder sind üblich. Obwohl Antikorruptionsinstitutionen zunehmend mit zivilgesellschaftlichen Gruppen zusammenarbeiten, ist die Wirkung der erweiterten Zusammenarbeit begrenzt. Medien und NGOs versuchen Korruption unabhängig aufzudecken, obwohl ihre Möglichkeiten begrenzt sind. Antikorruptions-, Strafverfolgungs- und Justizbeamte sowie Mitglieder der Zivilgesellschaft und der Medien werden wegen ihrer Bemühungen zur Bekämpfung korrupter Praktiken bedroht und eingeschüchtert (USDOS 11.3.2020). Korruption war einer der Auslöser für die Massenproteste am 1.10.2019 im Süd- und Zentralirak, inklusive Bagdad (UNAMI 10.2019).

Auf dem Corruption Perceptions Index 2020 von Transparency International wird der Irak mit 20 (von 100) Punkten bewertet (0=highly corrupt, 100=very clean) (TI 3.2020).

Grundversorgung und Wirtschaft

Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten (AA 12.1.2019). Der irakische humanitäre Reaktionsplan schätzt, dass im Jahr 2019 etwa 6,7 Millionen Menschen dringend Unterstützung benötigten (IOM o.D.; vgl. USAID 30.9.2019). Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Die grassierende Korruption verstärkt vorhandene Defizite zusätzlich. In vom Islamischen Staat (IS) befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv vom United Nations Development Programme (UNDP) und internationalen Gebern unterstützt (AA 12.1.2019).

Nach Angaben der UN-Agentur UN-Habitat leben 70% der Iraker in Städten, die Lebensbedingungen von einem großen Teil der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums (AA 12.1.2019). Die Iraker haben eine dramatische Verschlechterung in Bezug auf die Zurverfügungstellung von Strom, Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Verkehr und Sicherheit erlebt. Der Konflikt hat nicht nur in Bezug auf die Armutsraten, sondern auch bei der Erbringung staatlicher Dienste zu stärker ausgeprägten räumlichen Unterschieden geführt. Der Zugang zu diesen Diensten und deren Qualität variiert demnach im gesamten Land erheblich (K4D 18.5.2018). Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig (AA 12.1.2019).

Wirtschaftslage

Der Irak erholt sich nur langsam vom Terror des IS und seinen Folgen. Nicht nur sind ökonomisch wichtige Städte wie Mossul zerstört worden. Dies trifft das Land, nachdem es seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg, Sanktionen zerrüttet wurde. Wiederaufbauprogramme laufen bereits, vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen traf die Weltbank im April 2019 (GIZ 1.2020c). Iraks Wirtschaft erholt sich allmählich nach den wirtschaftlichen Herausforderungen und innenpolitischen Spannungen der letzten Jahre. Während das BIP 2016 noch um 11% wuchs, verzeichnete der Irak 2017 ein Minus von 2,1%. 2018 zog die Wirtschaft wieder an und verzeichnete ein Plus von ca. 1,2% aufgrund einer spürbaren Verbesserung der Sicherheitsbedingungen und höherer Ölpreise. Für 2019 wurde ein Wachstum von 4,5% und für die Jahre 2020–23 ebenfalls ein Aufschwung um die 2-3%-Marke erwartet (WKO 18.10.2019).

Das Erdöl stellt immer noch die Haupteinnahmequelle des irakischen Staates dar (GIZ 1.2020c). Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Der Irak besitzt kaum eigene Industrie jenseits des Ölsektors. Hauptarbeitgeber ist der Staat (AA 12.1.2019).

Die Arbeitslosenquote, die vor der IS-Krise rückläufig war, ist über das Niveau von 2012 hinaus auf 9,9% im Jahr 2017/18 gestiegen. Unterbeschäftigung ist besonders hoch bei IDPs. Fast 24% der IDPs sind arbeitslos oder unterbeschäftigt (im Vergleich zu 17% im Landesdurchschnitt). Ein Fünftel der wirtschaftlich aktiven Jugendlichen ist arbeitslos, ein weiters Fünftel weder erwerbstätig noch in Ausbildung (WB 12.2019).

Die Armutsrate im Irak ist aufgrund der Aktivitäten des IS und des Rückgangs der Öleinnahmen gestiegen (OHCHR 11.9.2019). Während sie 2012 bei 18,9% lag, stieg sie während der Krise 2014 auf 22,5% an (WB 19.4.2019). Einer Studie von 2018 zufolge ist die Armutsrate im Irak zwar wieder gesunken, aber nach wie vor auf einem höheren Niveau als vor dem Beginn des IS-Konflikt 2014, wobei sich die Werte, abhängig vom Gouvernement, stark unterscheiden. Die südlichen Gouvernements Muthanna (52%), Diwaniya (48%), Maisan (45%) und Dhi Qar (44%) weisen die höchsten Armutsraten auf, gefolgt von Ninewa (37,7%) und Diyala (22,5%). Die niedrigsten Armutsraten weisen die Gouvernements Dohuk (8,5%), Kirkuk (7,6%), Erbil (6,7%) und Sulaymaniyah (4,5%) auf. Diese regionalen Unterschiede bestehen schon lange und sind einerseits auf die Vernachlässigung des Südens und andererseits auf die hohen Investitionen durch die Regionalregierung Kurdistans in ihre Gebiete zurückzuführen (Joel Wing 18.2.2020). Die Regierung strebt bis Ende 2022 eine Senkung der Armutsrate auf 16% an (Rudaw 16.2.2020).

Grundsätzlich ist der öffentliche Sektor sehr gefragt. Die IS-Krise und die Kürzung des Budgets haben Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im privaten und öffentlichen Sektor. Arbeitsmöglichkeiten haben im Allgemeinen abgenommen. Die monatlichen Einkommen im Irak liegen in einer Bandbreite zwischen 200 und 2.500 USD (Anm.: ca. 185-2.312 EUR), je nach Position und Ausbildung. Das Ministerium für Arbeit und Soziales bietet Unterstützung bei der Arbeitssuche und stellt Arbeitsagenturen in den meisten Städten. Die Regierung hat auch ein Programm gestartet, um irakische Arbeitslose und Arbeiter, die weniger als 1 USD (Anm.: ca. 0,9 EUR) pro Tag verdienen, zu unterstützen. Aufgrund der Situation im Land wurde die Hilfe jedoch eingestellt. Weiterbildungsmöglichkeiten werden durch Berufsschulen, Trainingszentren und Agenturen angeboten. Aufgrund der derzeitigen Situation im Land sind derzeit keine dieser Weiterbildungsprogramme, die nur durch spezielle Fonds zugänglich sind, aktiv (IOM 1.4.2019).

Stromversorgung

Die Stromversorgung des Irak ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht (AA 12.1.2019). Sie deckt nur etwa 60% der Nachfrage ab, wobei etwa 20% der Bevölkerung überhaupt keinen Zugang zu Elektrizität haben. Der verfügbare Stromvorrat variiert jedoch je nach Gebiet und Jahreszeit (Fanack 17.9.2019). Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten, wenn bei Temperaturen von über 50 Grad flächendeckend Klimaanlagen eingesetzt werden, häufig unterbrochen. Dann versorgt sich die Bevölkerung aus privaten Generatoren, sofern diese vorhanden sind. Die Versorgung mit Mineralöl bleibt unzureichend und belastet die Haushalte wegen der hohen Kraftstoffpreise unverhältnismäßig. In der Kurdischen Region im Irak (KRI) erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag. Kraftwerke leiden unter Mangel an Brennstoff und es gibt erhebliche Leitungsverluste (AA 12.1.2019).

Wasserversorgung

Etwa 70% des irakischen Wassers haben ihren Ursprung in Gebieten außerhalb des Landes, vor allem in der Türkei und im Iran. Der Wasserfluss aus diesen Ländern wurde durch Staudammprojekte stark reduziert. Das verbleibende Wasser wird zu einem großen Teil für die Landwirtschaft genutzt und dient somit als Lebensgrundlage für etwa 13 Millionen Menschen (GRI 24.11.2019).

Der Irak befindet sich inmitten einer schweren Wasserkrise, die durch akute Knappheit, schwindende Ressourcen und eine stark sinkende Wasserqualität gekennzeichnet ist (Clingendael 10.7.2018). Insbesondere Dammprojekte der irakischen Nachbarländer, wie in der Türkei, haben großen Einfluss auf die Wassermenge und Qualität von Euphrat und Tigris. Der damit einhergehende Rückgang der Wasserführung in den Flüssen hat ein Vordringen des stark salzhaltigen Wassers des Persischen Golfs ins Landesinnere zur Folge und beeinflusst sowohl die Landwirtschaft als auch die Viehhaltung. Das bringt in den besonders betroffenen südirakischen Gouvernements Ernährungsunsicherheit und sinkende Einkommensquellen aus der Landwirtschaft mit sich (EPIC 18.7.2017).

Die Wasserversorgung wird zudem von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen. Außerdem fehlt es weiterhin an Chemikalien zur Wasseraufbereitung. Die völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser (AA 12.1.2019). Im Südirak und insbesondere Basra führten schlechtes Wassermanagement und eine unzureichende Regulierung von Abwasser und die damit einhergehende Verschmutzung dazu, dass im Jahr 2018 mindestens 118.000 Menschen wegen Magen-Darm Erkrankungen in Krankenhäusern behandelt werden mussten (HRW 22.7.2019; vgl. HRW 14.1.2020; AA 12.1.2019).

Nahrungsmittelversorgung

Etwa 1,77 Millionen Menschen im Irak sind von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen, ein Rückgang im Vergleich zu 2,5 Millionen Betroffenen im Jahr 2019 (USAID 30.9.2019; vgl. FAO 31.1.2020). Die meisten davon sind IDPs und Rückkehrer. Besonders betroffen sind jene in den Gouvernements Diyala, Ninewa, Salah al-Din, Anbar und Kirkuk (FAO 31.1.2020). 22,6% der Kinder sind unterernährt (AA 12.1.2019).

Die Landwirtschaft ist für die irakische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Im Zuge des Krieges gegen den IS waren viele Bauern gezwungen, ihre Betriebe zu verlassen. Ernten wurden zerstört oder beschädigt. Landwirtschaftliche Maschinen, Saatgut, Pflanzen, eingelagerte Ernten und Vieh wurden geplündert. Aufgrund des Konflikts und der Verminung konnten Bauern für die nächste Landwirtschaftssaison nicht pflanzen. Die Nahrungsmittelproduktion und -versorgung wurden unterbrochen, die Nahrungsmittelpreise auf den Märkten stiegen (FAO 8.2.2018). Trotz konfliktbedingter Einschränkungen und Überschwemmungen entlang des Tigris (betroffene Gouvernements: Diyala, Wasit, Missan und Basra), die im März 2019 aufgetreten sind, wird die Getreideernte 2019 wegen günstiger Witterungsbedingungen auf ein Rekordniveau von 6,4 Millionen Tonnen geschätzt (FAO 31.2.2020).

Trotzdem ist das Land von Nahrungsmittelimporten abhängig (FAO 31.1.2020). Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (UNFAO) schätzt, dass der Irak zwischen Juli 2018 und Juni 2019 etwa 5,2 Millionen Tonnen Mehl, Weizen und Reis importiert hat, um den Inlandsbedarf zu decken (USAID 30.9.2019).

Im Südirak und insbesondere Basra führen schlechtes Wassermanagement und eine unzureichende Regulierung von Abwasser und die damit einhergehende Verschmutzung dazu, dass Landwirte ihre Flächen mit verschmutztem und salzhaltigem Wasser bewässern, was zu einer Degradierung der Böden und zum Absterben von Nutzpflanzen und Vieh führt (HRW 22.7.2019; vgl. HRW 14.1.2020; AA 12.1.2019).

Das Sozialsystem wird vom sogenannten „Public Distribution System“ (PDS) dominiert, einem Programm, bei dem die Regierung importierte Lebensmittel kauft, um sie an die Öffentlichkeit zu verteilen (K4D 18.5.2018; vgl. USAID 30.9.2019). Das PDS ist das wichtigste Sozialhilfeprogramm im Irak, in Bezug auf Flächendeckung und Armutsbekämpfung. Es ist das wichtigste Sicherheitsnetz für Arme, obwohl es von schwerer Ineffizienz gekennzeichnet ist (K4D 18.5.2018). Es sind zwar alle Bürger berechtigt, Lebensmittel im Rahmen des PDS zu erhalten. Das Programm wird von den Behörden jedoch nur sporadisch und unregelmäßig umgesetzt, mit begrenztem Zugang in den wiedereroberten Gebieten. Außerdem hat der niedrige Ölpreis die Mittel für das PDS weiter eingeschränkt (USDOS 11.3.2020).

Rückkehr

Die freiwillige Rückkehrbewegung irakischer Flüchtlinge aus anderen Staaten befindet sich im Vergleich zum Umfang der Rückkehr der Binnenflüchtlinge auf einem deutlich niedrigeren, im Vergleich zu anderen Herkunftsstaaten aber auf einem relativ hohen Niveau. Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig – u.a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort. Zu einer begrenzten Anzahl an Abschiebungen in den Zentralirak kommt es jedenfalls aus Deutschland, Großbritannien, Schweden und Australien. Rückführungen aus Deutschland in die Kurdischen Region im Irak (KRI) finden regelmäßig statt. In der KRI gibt es mehr junge Menschen, die sich nach ihrer Rückkehr organisieren. Eine Fortführung dieser Tendenzen wird aber ganz wesentlich davon abhängen, ob sich die wirtschaftliche Lage in der KRI kurz- und mittelfristig verbessern wird (AA 12.1.2019).

Studien zufolge ist die größte Herausforderung für Rückkehrer die Suche nach einem Arbeitsplatz bzw. Einkommen. Andere Herausforderungen bestehen in der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung, psychischen und psychologischen Problemen, sowie negativen Reaktionen von Freunden und Familie zu Hause im Irak (IOM 2.2018; vgl. REACH 30.6.2017).

Die Höhe einer Miete hängt vom Ort, der Raumgröße und der Ausstattung der Unterkunft ab. Außerhalb des Stadtzentrums sind die Preise für gewöhnlich günstiger (IOM 1.4.2019). Die Miete für 250 m² in Bagdad liegt bei ca. 320 USD (Anm.: ca. 296 EUR) (IOM 13.6.2018). Die Wohnungspreise in der KRI sind 2018 um 20% gestiegen, während die Miete um 15% gestiegen ist, wobei noch höhere Preise prognostiziert werden (Ekurd 8.1.2019). In den Städten der KRI liegt die Miete bei 200-600 USD (Anm.: ca. 185-554 EUR) für eine Zweizimmerwohnung. Der Kaufpreis eines Hauses oder Grundstücks hängt ebenfalls von Ort, Größe und Ausstattung ab. Während die Nachfrage nach Mietobjekten stieg, nahm die Nachfrage nach Kaufobjekten ab. Durchschnittliche Betriebskosten betragen pro Monat 15.000 IQD (Anm.: ca. 12 EUR) für Gas, 10.000-25.000 IQD (Anm.: ca. 8-19 EUR) für Wasser, 30.000-40.000 IQD (Anm.: ca. 23-31 EUR) für Strom (staatlich) und 40.000-60.000 IQD (Anm.: ca. 31-46 EUR) für privaten oder nachbarschaftlichen Generatorenstrom. Die Rückkehr von IDPs in ihre Heimatorte hat eine leichte Senkung der Mietpreise bewirkt. Generell ist es für alleinstehende Männer schwierig Häuser zu mieten, während es in Hinblick auf Wohnungen einfacher ist (IOM 1.4.2019).

Die lange Zeit sehr angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt wird zusehends besser, jedoch gibt es sehr viel mehr Kauf- als Mietangebote. In der Zeit nach Saddam Hussein sind die Besitzverhältnisse von Immobilien zuweilen noch ungeklärt. Nicht jeder Vermieter besitzt auch eine ausreichende Legitimation zur Vermietung (GIZ 12.2019).

Im Zuge seines Rückzugs aus der nordwestlichen Region des Irak, 2016 und 2017, hat der Islamische Staat (IS) die landwirtschaftlichen Ressourcen vieler ländlicher Gemeinden ausgelöscht, indem er Brunnen, Obstgärten und Infrastruktur zerstörte. Für viele Bauerngemeinschaften gibt es kaum noch eine Lebensgrundlage (USCIRF 4.2019). Im Rahmen eines Projekts der UN-Agentur UN-Habitat und des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) wurden im Distrikt Sinjar, Gouvernement Ninewa, binnen zweier Jahre 1.064 Häuser saniert, die während der IS-Besatzung stark beschädigt worden waren. 1.501 Wohnzertifikate wurden an jesidische Heimkehrer vergeben (UNDP 28.4.2019).

Es besteht keine öffentliche Unterstützung bei der Wohnungssuche für Rückkehrer. Private Immobilienfirmen können jedoch helfen (IOM 1.4.2019).

Coronavirus COVID-19

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet.

Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf. Der BF gehört keiner solchen Risikogruppe an.

www.bmeia.gv.at aktuelle Hinweise, Stand 23.09.2020

Für das ganze Land gilt die Sicherheitsstufe 6 (Reisewarnung). Vor Reisen wird aufgrund der Ausbreitung des Coronavirus (COVID-19) gewarnt.

Aufgrund weiterhin stark steigender Infektionszahlen hat die irakische Regierung für die Zeit zwischen 30.07. und 09.08.2020 eine komplette Ausgangssperre beschlossen. Diese Einschränkungen gelten nicht für die autonome Region Kurdistan Irak.

www.wko.at, aktuelle Lage zum Irak, Stand 23.09.2020

Es gilt eine Ausgangssperre im ganzen Land von 22.00 bis 5.00 Uhr

Der Irak hat Anfang September seine Landgrenzen wieder geöffnet.

Die internationalen Flughäfen Bagdad, Najaf und Basra wurden am 23. Juli für kommerzielle Linienflüge wiedereröffnet

Die dänische Regierung hat in Zusammenarbeit mit dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) dem Irak 6.000.000 DKK (ca. 870.000 USD) zugesagt, um die irakische Regierung bei der Bekämpfung der globalen COVID-19-Pandemie zu unterstützen.

Die Regionalregierung Kurdistan (KRG) hat beschlossen, die Maßnahmen zu lockern und etwa die Wiedereröffnung der Märkte unter bestimmten Bedingungen zuzulassen.

Im Irak sowie in Kurdistan arbeiten alle Ministerien mit 50% Kapazität

Apotheken und Bäckereien sind ohne Einschränkungen geöffnet.

Die Weltbank hat, als Unterstützung für das irakische Gesundheitssystem, einer Umverteilung von USD 33,6 Mio. des aktuellen Projekts „Notfalloperation für Entwicklung“ (EODP-750 Mio. USD) zugestimmt.

Die irakische Börse nimmt den Handel mit 26.4.2020 wieder auf.

II.2. Beweiswürdigung:

II.2.1. Das erkennende Gericht hat durch den Inhalt des übermittelten Verwaltungsaktes der belangten Behörde, einschließlich der Beschwerde, der Stellungnahme, der vorgelegten Dokumente, des Gerichtsaktes und der Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung Beweis erhoben. Der festgestellte Sachverhalt in Bezug auf den bisherigen Verfahrenshergang steht aufgrund der außer Zweifel stehenden Aktenlage sowie dem Beschwerdeschreiben und den Aussagen des BF in der mündlichen Verhandlung fest und ist das ho. Gericht in der Lage, sich vom entscheidungsrelevanten Sachverhalt ein ausreichendes und abgerundetes Bild zu machen.

II.2.2. Die Identität des BF wurde schon vom BFA aufgrund der Vorlage eines unbedenklichen irakischen Personalausweises mit Lichtbild im Original festgestellt und es besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund daran zu zweifeln. Die Feststellungen zur Herkunftsregion des BF, seiner Volksgruppe, seiner Religionszugehörigkeit, zu den familiären und privaten Verhältnissen im Herkunftsland und in Österreich sowie zu seinem Gesundheitszustand und zu seiner Arbeitsfähigkeit gründen sich auf die in diesen Punkten widerspruchsfreien und glaubhaften Angaben sowie auf seinen Sprach- und Ortskenntnissen.

Die Feststellungen hinsichtlich seiner illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet und des Datums seiner Asylantragsstellung am 27.10.2015 ergeben sich aus dem Akteninhalt bzw. aus den Angaben des BF.

Die Feststellung, dass der BF über Deutschkenntnisse auf unbestimmten Niveau verfügt, war in dieser Form zu treffen, da der BF zwar die Teilnahme an vier Deutschkursen belegte, einen Nachweis über eine abgelegte Deutschprüfung jedoch nicht erbrachte. Bereits in der niederschriftlichen Einvernahme vom 20.09.2018 wurde vom Leiter der Amtshandlung vermerkt, dass der BF gut Deutsch spricht (AS 115) und auch der erkennende Richter konnte sich in der hg. mündlichen Verhandlung davon überzeugen, dass der BF über Deutschkenntnisse verfügt, die ihm eine Verständigung im Alltag jedenfalls ermöglichen.

Dass der BF selbsterhaltungsfähig ist und keine Leistungen mehr aus der Grundversorgung bezieht, ergibt sich einerseits aus dem aktuellen Speicherauszug aus dem Betreuungsinformationssystem des Bundes, wonach dieser zuletzt bis 19.11.2017 finanzielle Leistungen aus der Grundversorgung bezogen hat und auch die Unterbringung und Verpflegung im Rahmen der Grundversorgung mit 31.03.2018 beendet worden ist; dies bestätigt sich auch durch den vorgelegten Mietvertrag in Zusammenschau mit dem aktuellen Auszug aus dem zentralen Melderegister. Andererseits belegte der BF sein regelmäßiges Einkommen auch mit dem Einkommenssteuerbescheid 2018, wonach das Einkommen im Jahr 2018 EUR 9.745,00 betragen hat, und mit der Bestätigung des Steuerberaters vom 10.08.2020, wonach der BF berechtigt ist, im Jahr 2020 laufende Gewinnentnahmen in der Höhe von EUR 1.550,00 monatlich netto zu tätigen.

Wenngleich der BF kein Mitglied in einem Verein oder sonstigen Organisation ist und bislang auch noch keine Deutschprüfung abgelegt hat, sind seine Integrationsbemühungen schon in den relativ guten Deutschkenntnissen und seinem – erfolgreichen – Bestreben nach Selbsterhaltungsfähigkeit zu erkennen und werden durch die Unterstützungsschreiben bestätigt.

Seine strafrechtliche Unbescholtenheit in Österreich ergibt sich aus dem hg. erstellten aktuellen Strafregisterauszug.

II.2.3. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsland:

II.2.3.1. Die vom BFA im gegenständlich angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ergeben sich aus den in das Verfahren eingebrachten und im Bescheid bzw. im Erkenntnis angeführten herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen, die einer Analyse der Staatendokumentation entstammen.

Die vom BVwG herangezogenen Erkenntnisquellen wurden dem BF zur Kenntnis gebracht. Der BF trat weder in einer Stellungnahme noch in der mündlichen Verhandlung den Quellen und/oder den getroffenen Aussagen entgegen.

Zu der getroffenen Auswahl der Quellen, welche zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat herangezogen wurden, ist anzuführen, dass es sich hierbei aus der Sicht des erkennenden Gerichts um eine ausgewogene Auswahl verschiedener Quellen - sowohl staatlichen, als auch nichtstaatlichen Ursprunges - handelt, welche es ermöglichen, sich ein möglichst umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen. Auch kommt den Quellen im Rahmen einer Gesamtschau Aktualität zu (zu den Anforderungen an die Aktualität einer Quelle im Asylverfahren vgl. etwa Erk. d. VwGH v. 4.4.2001, Gz. 2000/01/0348).

Anzumerken ist weiters, dass bei einem Land wie dem Irak mit einer sehr hohen Berichtsdichte, in dem praktisch ständig neue Erkenntnisquellen entstehen, es de facto unmöglich ist, sämtliches existierende Berichtsmaterial zu berücksichtigen, weshalb die belangte Behörde bzw. das ho. Gericht ihrer Obliegenheit zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak nachkommt, wenn sie bzw. es sich zur Entscheidungsfindung eines repräsentativen Querschnitts des bestehenden Quellenmaterials bedient.

Zur Aussagekraft der einzelnen Quellen wird angeführt, dass zwar in nationalen Quellen rechtsstaatlich-demokratisch strukturierter Staaten – von denen der Staat der Veröffentlichung davon ausgehen muss, dass sie den Behörden jenes Staates, über den berichtet wird, zur Kenntnis gelangen – diplomatische Zurückhaltung geübt wird, wenn es um Sachverhalte geht, für die ausländische Regierungen verantwortlich zeichnen, doch andererseits sind gerade diese Quellen aufgrund der nationalen Vorschriften vielfach zu besonderer Objektivität verpflichtet, weshalb diesen Quellen keine einseitige Parteinahme weder für den potentiellen Verfolgerstaat, noch für die behauptetermaßen Verfolgten unterstellt werden kann. Hingegen findet sich hinsichtlich der Überlegungen zur diplomatischen Zurückhaltung bei Menschenrechtsorganisationen im Allgemeinen das gegenteilige Verhalten wie bei den oa. Quellen nationalen Ursprunges. Der Organisationszweck dieser Erkenntnisquellen liegt gerade darin, vermeintliche Defizite in der Lage der Menschenrechtslage aufzudecken und falls laut dem Dafürhalten – immer vor dem Hintergrund der hier vorzunehmenden inneren Quellenanalyse – der Organisation ein solches Defizit vorliegt, dies unter der Heranziehung einer dem Organisationszweck entsprechenden Wortwahl ohne diplomatische Rücksichtnahme, sowie uU mit darin befindlichen Schlussfolgerungen und Wertungen – allenfalls unter teilweiser Außerachtlassung einer systematisch-analytischen wissenschaftlich fundierten Auswertung der Vorfälle, aus welchen gewisse Schlussfolgerungen und Wertungen abgeleitet werden – aufzuzeigen.

Die getroffenen Feststellungen zum Irak beruhen auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak mit letzter Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020, welches sich seinerseits auf verschiedene anerkannte und teilweise vor Ort agierende staatliche und nichtstaatliche Quellen stützt, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation im Irak ergeben. Angesichts der Seriosität der darin angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

Auf Grundlage dieser Länderberichte kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht von einer solchen extremen Gefährdungslage im Herkunftsort des BF (hier konkret: in XXXX ) gesprochen werden, dass gleichsam jede Person, die sich dort aufhält oder dorthin zurückkehrt, einer unmittelbaren Gefährdung ausgesetzt ist.

II.2.3.2. Soweit in der Beschwerde die instabile Lage im Irak, die mangelnde Schutzfähigkeit bzw. –willigkeit des Staates Irak und die Mangelhaftigkeit im Rechtschutz und Justizwesen ins Treffen geführt wird, ist auszuführen, dass mit diesen allgemein gehaltenen Verweisen in keiner Weise substantiiert dargetan wird, inwiefern sich daraus eine asylrelevante Verfolgung oder die Gewährung von subsidiärem Schutz konkret für den BF ergeben soll.

II.2.3.3. Auch im Zusammenhang mit der weltweiten Ausbreitung des COVID-19 Erregers kann unter Zugrundelegung der medial ausführlich kolportierten Entwicklungen auch im Herkunftsland bislang keine derartige Entwicklung erkannt werden, die im Hinblick auf eine Gefährdung nach Art. 3 EMRK eine entscheidungsrelevante Lageänderung erkennen lässt.

Bei COVID 19 handelt es sich um keine wahrscheinlich tödlich verlaufende, die Schwelle des Art 3 EMRK tangierende Krankheit und hat der BF auch kein Vorbringen erstattet, aus dem sich in diesem Zusammenhang ein reales Risiko im Falle ihrer Rückkehr in den Herkunftsstaat ergeben würde.

Ferner ist auf die Judikatur des EGMR zu verweisen, wonach es – abgesehen von Abschiebungen in Staaten, in denen die allgemeine Situation so schwerwiegend ist, dass die Rückführung eines abgelehnten Asylwerbers dorthin eine Verletzung von Art 3 EMRK darstellen würde – grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person obliegt, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (VwGH 23.02.2016, Ra 2015/01/0134 mit Verweis auf das Urteil des EGMR vom 05.09.2013, I gegen Schweden, Nr. 61 204/09).

Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen. Eine solche einzelfallbezogene Beurteilung ist im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (VwGH 22.4.2020, Ra 2020/18/0098, mwN).

Weder wurde ein solches Vorbringen vom BF erstattet noch liegen sowohl im Hinblick auf das Alter des BF als auch seinem Gesundheitszustand Anhaltspunkte vor, wonach der BF bei einer allfälligen COVID-19 Infektion einer besonderen Risikogruppe angehören würde (vgl. dazu VwGH vom 23.06.2020, Ra 2020/20/0188-3, wonach die BF ihre individuelle Situation nicht fallbezogen und konkret dargelegt haben und ein „Situationsbericht in Bezug auf Covid-19“ per se noch keine exzeptionellen Umstände bedeuten würden).

Die Feststellungen zur Lage im Irak in Bezug auf den Coronavirus COVID-19 werden aufgrund der übereinstimmenden Feststellungen in einer Vielzahl von öffentlich zugänglichen Quellen als notorisch bekannt vorausgesetzt.

II.2.4. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates:

Die freie Beweiswürdigung ist ein Denkprozess, der den Regeln der Logik zu folgen hat und im Ergebnis zu einer Wahrscheinlichkeitsbeurteilung eines bestimmten historisch-empirischen Sachverhalts, also von Tatsachen, führt. Der Verwaltungsgerichtshof führt dazu präzisierend aus, dass eine Tatsache in freier Beweiswürdigung nur dann als erwiesen angenommen werden darf, wenn die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens ausreichende und sichere Anhaltspunkte für eine derartige Schlussfolgerung liefern.

Das BFA führte in der Beweiswürdigung zutreffend aus, dass dem Vorbringen des BF im behördlichen Verfahren aufgrund der aufgezeigten Divergenzen die Glaubwürdigkeit zu versagen war. Die vom BVwG durchgeführte öffentliche mündliche Verhandlung am 14.08.2020 bestätigte im Ergebnis die vom BFA vorgenommene Wertung und ließ das Bundesverwaltungsgericht aufgrund nachangeführter Darstellung zu den angeführten Feststellungen gelangen.

II.2.4.1. Der BF gab im behördlichen Verfahren an, dass er die auf der Straße aufgefundene Frau ins Krankenhaus gebracht habe, wo ihr Tod festgestellt worden sei. Im Rahmen der Erstbefragung gab der BF zunächst an, die Frau sei bewusstlos gewesen (AS 17), bei der niederschriftlichen Einvernahme hingegen sei diese Frau bereits tot gewesen (AS 110). Den diesbezüglichen Vorhalt versuchte der BF dahingehend zu entkräften, als er erklärte, „mit der Bezeichnung „Leiche“ muss man nicht unbedingt tot sein. Ich bin auch jetzt eine Leiche…man kann sagen, dass ich einen Körper gesehen habe. Ich kenne mich nicht so gut aus.“ Dieser Erklärungsversuch überzeugt jedenfalls nicht. In der mündlichen Verhandlung gab der BF zunächst an, dass ihm in der Situation nicht klar gewesen sei, ob die Person noch am Leben oder bereits verstorben gewesen sei. Er habe – trotz Erster-Hilfe-Ausbildung – keine wie immer gearteten lebensrettenden Maßnahmen versucht, sondern die Frau ins Auto getragen und zum Krankenhaus gebracht. Er habe auch eine leichte Stimme, ein Stöhnen gehört, es sei ein leichter leiser Atem gewesen. Er glaube aber nicht, dass die Frau gelebt habe, da er ansonsten nicht festgenommen worden wäre (Verhandlungsschrift (VHS), S 14).

Mag es zwar durchaus möglich und auch wahrscheinlich sein, dass ein Laie nicht in der Lage ist festzustellen, ob der Tod bei einer schwerletzten Person bereits eingetreten ist oder nicht, so erschließt sich im gegenständlichen Fall dennoch dem erkennenden Richter nicht, weshalb der BF im Rückblick auf dieses Ereignis einmal von einer bewusstlosen Frau und einmal von einer Leiche spricht. Wenn er angibt, er habe eine leichte Stimme, ein Stöhnen gehört, es sei ein leichter leiser Atem gewesen, gleich darauf aber, er glaube nicht, dass die Frau gelebt habe, so sind diese Aussagen nicht miteinander in Einklang zu bringen, das Vorbringen insoweit nicht glaubhaft.

II.2.4.2. Das BFA wies aber auch zu Recht auf die Widersprüchlichkeit im Vorbringen des BF hinsichtlich der Person des Verfolgers hin. Diesbezüglich gab der BF im Rahmen der Erstbefragung an, dass man ihm vorgeworfen habe, diese Frau umgebracht zu haben. Er sei geflüchtet, weil die Sache nicht aufgeklärt worden sei. Bei Rückkehr fürchte er, von den Brüdern der Frau getötet zu werden. (AS 17). Im Widerspruch dazu führte er in der niederschriftlichen Einvernahme dazu aus, dass er mit den Behörden keine Probleme habe, diese hätten ihn freigesprochen (AS 112). Das Problem habe er mit dem Vater der Frau gehabt. Die Brüder der Frau wüssten zwar, dass der BF unschuldig sei, aber der Vater dieser Frau würde ihn töten, wenn er ihn finden würden (AS 111). Auch hier erschließt sich dem erkennenden Richter nicht, weshalb der BF rückblickend auf den fluchtauslösenden Vorfall einmal erklärt, dass die Sache nicht aufgeklärt worden sei und er die Tötung durch die Brüder der Frau befürchte und in der nächsten Einvernahme die Behörde die Angelegenheit mit einem Freispruch des BF beendet haben soll, auch die Brüder von seiner Unschuld überzeugt seien und nunmehr die Bedrohung vom Vater der Frau ausgehen solle. Auch wenn sich die Erstbefragung nach § 19 Abs. 1 AsylG nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat, wäre es aber dennoch zu erwarten gewesen, dass der BF ein gleichbleibendes Vorbringen dahingehend erstattet, von wem nun tatsächlich die Bedrohung ausgegangen sein soll.

In der mündlichen Verhandlung dazu befragt, gab der BF zwei Erklärungen dazu ab. So habe er einerseits bei beiden Einvernahmen alles gleich erzählt, seine Angaben seien aber verschieden interpretiert und übersetzt worden (VHS, S 15) und andererseits seien zum Zeitpunkt der Erstbefragung die Ängste, von den Brüdern getötet zu werden, noch aktuell gewesen. Er habe den Zeugen ersucht, die Brüder der Frau anzurufen, um diesen seine Unschuld zu erklären. Abgesehen davon, dass diese beiden Erklärungen in sich widersprüchlich sind, müsste der BF – der zweiten Erklärungsvariante folgend – nach der Erstbefragung, somit aus Österreich, Kontakt mit dem Zeugen aufgenommen haben, damit diese die Brüder der Frau von der Unschuld des BF überzeugen sollen. Da dies doch einen erheblichen Rechercheaufwand bedeuten würde, erschließt sich dem erkennenden Richter nicht, weshalb die angeblichen Bemühungen des BF von Österreich aus sich mit keinem Wort in der niederschriftlichen Einvernahme und auch nicht in der Beschwerde wiederfinden. Dies lässt den Schluss zu, dass es sich dabei um eine Schutzbehauptung des BF handelt.

II.2.4.3. Auch die Bedrohung selbst konnte der BF nicht glaubwürdig schildern. So gab der BF zunächst an, dass der Vater der Frau den Bruder des BF am 16.10.2017 mit einer Rasierklinge im Halsbereich verletzt habe (AS 113). Ihm selbst sei die Bedrohung durch den Vater nur über Verwandte ausgerichtet worden (AS 111).

Soweit der BF zu dem Vorfall mit dem Bruder auch Fotos und ärztliche Berichte vorlegte, die die Schnittverletzung am Hals des Bruders dokumentieren sollen, ist auszuführen, dass schon das BFA einer derartigen Verletzung des Bruders grundsätzlich Glauben schenkte und auch das erkennende Gericht keinen Grund hat, daran zu zweifeln. Jedoch ist auch darauf zu verweisen, dass der Bruder des BF diese Verletzung im Zuge (irgend)einer gewalttätigen Auseinandersetzung erlitten haben kann, zumal es sehr unwahrscheinlich erscheint, dass diese beiden Vorfälle miteinander in Verbindung stehen, liegen diese Vorfälle doch zwei Jahre auseinander. Und da dieser Vorfall erst zwei Jahre nach der Ausreise des BF stattfand, scheidet er als „fluchtauslösendes Ereignis“ jedenfalls aus.

Vollständigkeitshalber sei aber auch noch darauf verwiesen, dass der BF in der Einvernahme angibt, der Vater der Frau habe den Bruder am Hals mit einer Rasierklinge verletzt (AS 113) und in der Beschwerde ausführt, dass der Vater den Bruder habe verletzen lassen (AS 310). In der mündlichen Verhandlung dazu befragt, gab der BF an, es seien zwei Personen gewesen und die Angreifer hätten zur Gruppe „ XXXX “ gehört, die einer Miliz mit dem Namen „Sadr“ [möglicherweise „Badr“ gemeint] unterstehen würden (VHS, S 5), in der niederschriftlichen Einvernahme hingegen ordnete er den Angriff der Gruppe „Muqtada Alsader“ bzw. „Jaish Almahdi“ zu.

Soweit der BF auch Fotos von auf Fenster bzw. Hauseingang geschmierten Drohungen vorlegt (AS 129-137) ist auszuführen, dass diese zum Beweis seines Vorbringens schon deshalb nicht geeignet sind, da nicht erkennbar ist, wo und aus welchem Grund diese Drohungen angebracht wurden und zudem sich diese Art von Bedrohung auch nicht im Vorbringen des BF wiederfindet.

In der mündlichen Verhandlung gab der BF zur Bedrohung befragt an, dass er vom Vater der Frau nur über Dritte bedroht worden sei, da er sich nicht im Irak befinde; persönlich sei er von ihm nicht bedroht worden. Solange er im Irak gewesen sei, sei das einzige Ereignis gewesen, dass auf das Familienhaus geschossen worden sei (VHS, S 16). Da dieses Vorbringen jedoch erstmalig in der mündlichen Verhandlung erstattet wurde und kein Grund ersichtlich ist, weshalb der BF diesen Vorfall nicht schon im behördlichen Verfahren vorbrachte, ist davon auszugehen, dass es sich dabei um ein gesteigertes Vorbringen zum Zwecke der Asylerlangung handelt, dem die Glaubwürdigkeit abzusprechen ist. Auf diesbezüglichen Vorhalt des erkennenden Richters gab der BF an, diesen Vorfall bereits bei der Erstbefragung erklärt zu haben, es sei aber nicht alles aufgenommen worden (VHS, S 16). Auch dieser Erklärungsversuch des BF überzeugt nicht, zumal sich die Schüsse auf das Haus auch in der Beschwerde nicht wiederfinden, in welcher ansonsten der Sachverhalt ausführlich nochmals dargelegt wurde.

Zur Bedrohung befragt führte der BF in der mündlichen Verhandlung auch einen neuen Angriff gegen den Bruder an, der sich vor etwa einem Monat in dessen Geschäft ereignet haben soll. Dieser sei ebenfalls im Zusammenhang mit dem Vorfall vor mittlerweilen fünf Jahren zu sehen, da sich sein Bruder um eine Bestätigung für die Sterbeursache des Opfers gekümmert habe und die Angreifer über diesen Vorfall geredet hätten (VHS, S 18). Abgesehen davon, dass – in Anbetracht des bisherigen Aussageverhaltens des BF und der aufgezeigten Divergenzen und Unglaubwürdigkeiten – es äußerst unwahrscheinlich erscheint, dass die Familie des Opfers nochmals einen Angriff auf den Bruder des BF verübt, die übrigen Familienmitglieder aber fünf Jahre lang völlig unbehelligt lässt, gipfelte die Schilderung des BF noch in der Behauptung, dass die Familie ihn aufgrund dieses letzten Vorfalls aus dem Familienclan verstoßen habe, um sich selbst zu schützen (VHS, S 18). Wenngleich der BF dazu eine Bestätigung vom 25.06.2020 über diesen Verstoß am Handy vorweist, handelt es sich auch dabei nach Ansicht des erkennenden Richters um ein unglaubwürdiges Vorbringen zum Zwecke der Asylerlangung. Dies schon deshalb, da der BF Fragen zu seinem Familienleben – wie es dem Bruder geht, ob ein Familienangehöriger krank ist und ob der Vater noch den gleichen Verdienst hat (VHS, S 8) ohne Zögern beantwortete und auch nicht darauf verwies, dass sein Kontakt zur Familie abgebroch

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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