TE Bvwg Beschluss 2020/10/19 L526 2235864-4

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.10.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

19.10.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch


L526 2235864-4/4E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina Schrey, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. TÜRKEI, vertreten durch die ARGE-Rechtsberatung, Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.09.2020, Zl. XXXX beschlossen:

A)

In Erledigung der Beschwerde wird gem. § 28 Abs. 3 VwGVG, Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz), BGBL I 33/2013 idgF der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Begründung:

I. Verfahrensgang

I.1. Die beschwerdeführende Partei (in weiterer Folge kurz „BF“ genannt), ist ein Staatsangehöriger der Türkei.

Er wurde im Jahr 2011 wegen eines Suchtgiftdeliktes zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten, davon sechzehn Monate bedingt, und im Jahr 2017, ebenfalls wegen eines Suchtgiftdeliktes, zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt.

I.2. Am 11.08.2020 wurde ihm vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, der nunmehr belangte Behörde (im Weiteren kurz „bB“ genannt) mitgeteilt, dass am 10.07.2017 aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen ihn eingeleitet wurden. Im Weiteren wird ausgeführt, dass ihm nachfolgend angeführter „Sachverhalt“ zur Kenntnis gebracht werde, wobei eine Auflistung gesetzlicher Bestimmungen und der aus dem Strafregister ersichtlichen Daten seiner Verurteilungen erfolgte. Ferner wurde der BF eingeladen, verschiedene Fragen zu beantworten. In dem im Akt erliegenden Schriftsatz des BF vom 17.08.2020 verwies dieser auf eine am 12.08.2020 erfolgte Stellungnahme, welche dem Behördenakt nicht beigeschlossen ist. Dem Bundesverwaltungsgericht wurde von der belangten Behörde am 16.10.2020 lediglich eine handschriftlich verfasste Stellungnahme vom 21.03.2018 nachgereicht, die dort am 22.03.2018 einlangte. Die Stellungnahme, auf die der BF in seinem Schreiben vom 17.08.2020 verwies, wurde dem Bundesverwaltungsgericht von diesem zusammen mit seiner Beschwerdeschrift (siehe unten) vorgelegt.

I.3. Am 11.09.2020 erging der Bescheid der Behörde mit der im Spruch zitierten Zahl. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde dem BF nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 2 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei. Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.

I.4. Mit Verfahrensanordnung vom 11.09.2020 wurde dem BF ein Rechtsberater amtswegig zur Verfügung gestellt.

I.5. Am 9.10.2020 wurde ein beim Bundesverwaltungsgericht eingelangtes Schreiben samt Ablichtungen von Ausweisen (dieses Schreiben erliegt in unleserlicher Form im Akt) von der Gerichtsabteilung L502 an die bB gemäß § 6 AVG zur weiteren Veranlassung übermittelt.

I.6. Nachdem die Beschwerdevorlage und ein weiteres Schriftstück durch die Behörde auf unzulässigem Weg (Einbringung per E-Mail) eingebracht wurden und die h.g. eröffneten Verfahren von verschiedenen Gerichtsabteilungen aus diesem Grunde eingestellt wurden, langte der Verfahrensakt der Behörde samt der Beschwerde gegen den im Spruch zitierten Bescheid am 16.10.2020 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Ob die Beschwerde rechtzeitig einlangte, ist aus dem Akteninhalt nicht ersichtlich.

Der Beschwerde sind folgende Unterlagen angeschlossen:

?        Rot-Weiß-Rot-Karte plus betreffend XXXX , die Tochter des BF, gültig bis 09.07.2020

?        Geburtsurkunde von XXXX , geb. am 31.05.2020

?        Auszug aus dem Zentralen Melderegister betreffend XXXX und XXXX , der Ehegattin des BF

?        Bestätigungen über die Teilnahme des BF an verschiedenen Psycho-, Sucht- und Spielsuchttherapien aus den Jahren 2017, 2019 und 2020

?        Eine Stellungnahme zum Ergebnis der Beweisaufnahme vom 12.08.2020

?        Zertifikat über Absolvierung eines Deutschkurses vom 5.6.2018

?        Urkunde, aus der hervorgeht, dass der BF am 19.10.2020 bedingt entlassen wird

?        Ablichtungen verschiedener Ausweise

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Feststellungen (Sachverhalt):

Der relevante Sachverhalt ergibt sich aus den unter I getroffenen Ausführungen.

II.2. Beweiswürdigung:

Der für die Zurückverweisung relevante Sachverhalt steht aufgrund der Aktenlage fest.

II.3. Rechtliche Beurteilung:

II.3.1. Zuständigkeit

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 i.d.F. BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.

II.3.2. Zurückverweisung

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Gemäß § 28 Abs. 3 hat, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 leg. cit nicht vorliegen, das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Der Verwaltungsgerichtshof hat sich im seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, mit der Sachentscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auseinandergesetzt und darin folgende Grundsätze herausgearbeitet:

* Die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungsgericht komme nach dem Wortlaut des § 28 Abs. 1 Z 1 VwGVG nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht. Dies wird jedenfalls dann der Fall sein, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.

* Der Verfassungsgesetzgeber habe sich bei Erlassung der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012, BGBl. I 51, davon leiten lassen, dass die Verwaltungsgerichte grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden haben, weshalb ein prinzipieller Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte anzunehmen ist.

* Angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems stelle die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Nach dem damit gebotenen Verständnis stehe diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 VwGVG verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht).

Der Verwaltungsgerichtshof hat weiters mit Erkenntnis vom 10.09.2014, Ra 2014/08/0005 die im Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063 angeführten Grundsätze im Hinblick auf Aufhebungs- und Zurückweisungsbeschlüsse des Verwaltungsgerichtes gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG nochmals bekräftigt und führte ergänzend aus, dass selbst Bescheide, die in der Begründung dürftig sind, keine Zurückverweisung der Sache rechtfertigen, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer allenfalls durchzuführenden mündlichen Verhandlung im Sinn des § 24 VwGVG zu vervollständigen sind.

Im Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 28.02.2017, Ra 2015/11/0089 betonte dieser weiters das Interesse der Rechtsunterworfenen an einer raschen Entscheidung und führte dazu aus, dass es nicht zu erkennen sei, weshalb es nicht im Interesse der Raschheit gelegen sein sollte, wenn das Verwaltungsgericht – ausgehend freilich von einer zutreffenden Beurteilung der entscheidenden Rechtsfrage – selbst die notwendige Ergänzung des Ermittlungsverfahrens durch Einholung eines entsprechenden Sachverständigengutachtens veranlasst und den entscheidungsrelevanten Sachverhalt feststellt.

II.3.3. Einzelfallbezogen ergibt sich hieraus Folgendes:

II.3.3.1. Eingangs ist festzuhalten, dass der dem Bundesverwaltungsgericht übermittelte Verfahrensakt offenkundig nicht vollständig ist und sich der Verfahrensgang insgesamt auch als nicht nachvollziehbar darstellt, zumal zu den im Behördenakt erliegenden Schriftstücken keine Zustellnachweise oder Bestätigungen erliegen bzw. diese nicht unterschrieben sind (siehe etwa die nicht unterschriebene Übernahmebestätigung zum Parteiengehör vom 11.8.2020, AS 58) und auch nicht dokumentiert ist, wann Poststücke bei der Behörde eingingen (so ist für das Bundesverwaltungsgericht etwa nicht nachvollziehbar, ob die Beschwerde zeitgerecht einlangte). Ferner verweist der BF im Verfahren auf eine Stellungnahme vom 11.8.2020, welche von der Behörde offenkundig nicht zum Akt genommen wurde. Andererseits übermittelte die bB wiederum eine handschriftlich verfasste Stellungnahme aus dem Jahr 2018, wobei das bezughabende Schreiben der Behörde, welches darin zitiert ist, nicht im Akt erliegt.

Ob die Stellungnahme vom 11.8.2020 nun der Behörde zuging oder nicht ist für das Gericht nicht nachvollziehbar. Jedenfalls aber hätte die Behörde dem im Schriftsatz des BF vom 17.8.2020 enthaltenen Verweis des BF auf seine Stellungnahme vom 18.08.2020 nachzugehen gehabt. Die bB hätte aber auch schon aufgrund des handschriftlich verfassten Schreibens aus dem Jahr 2018 erkennen müssen, dass der BF über private und familiäre Anknüpfungspunkte in Österreich und Italien sowie über Aufenthaltstitel in Italien verfügt und hätte dies entsprechend zu würdigen bzw. entsprechende Verfahrensschritte (siehe dazu unten) zu setzen gehabt. Aus dem Schreiben des BF ist auch erkennbar, dass der BF willens ist, am Verfahren mitzuwirken.

In diesem Zusammenhang ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, worin der Grundsatz vertreten wird, dass das Verwaltungsgericht sich bei der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme im Rahmen einer mündlichen Verhandlung selbst einen persönlichen Eindruck vom Fremden zu verschaffen hat (VwGH 25.09.2018, Ra 2017/21/0253 mwN). Beweisanträge dürfen nach der Rechtsprechung nur abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel an sich nicht geeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts beizutragen (VwGH 28.09.2018, Ra 2018/08/019; 23.06.2017, Ra 2016/08/0141, jeweils mwN).

Diese Grundsätze gelten auch für das Verfahren vor der Behörde, die sich darüber hinwegsetzte.

II.3.3.2. Hinsichtlich der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG traf das BFA keine bzw. zum Teil aktenwidrige Feststellungen. Die bB unterließ nicht nur die für eine Interessensabwägung und die Feststellung des dafür relevanten Sachverhaltes notwendigen Ermittlungen, sondern setzte sich auch über die Angaben des BF im Verfahren hinweg, ohne diese zu würdigen:

So führte der BF, wie bereits erwähnt, schon im Jahr 2018 aus, dass er legal nach Österreich eingereist sei, wo er seine jetzige Gattin kennengelernt habe und seither mit ihr und ihren Kindern lebe; nach seiner Haft würde er wieder bei seiner Familie Unterkunft nehmen können. Er habe auch Therapien absolviert und habe gute Aussichten, bei bekannten Gastronomen als Koch arbeiten zu können. Die Behörde setzte sich über diese Angaben schlicht hinweg, als sie in ihrem Bescheid festhielt, es habe im Rahmen des Verfahrens festgestellt werden können, dass der BF weder über soziale noch familiäre Bindungen in Österreich verfüge und folglich kein Privatleben abseits seiner kriminellen Vita gegeben sei. Selbst wenn die Behörde davon ausgeht, dass der BF lediglich traditionell verheiratet sei, so ist dennoch der Familienbegriff im Sinne der Judikatur zu Art. 8 EMRK zu berücksichtigen. Im Übrigen sei auch noch angemerkt, dass für das Bundesverwaltungsgericht auch nicht nachvollziehbar ist, wie die Behörde zu dieser Annahme kommt, zumal sie im Widerspruch dazu an anderer Stelle des Bescheides von der „Ehefrau“ des BF spricht. Der BF bringt dazu vor, er sei standesamtlich verheiratet und seine Frau verfügte über eine „Rot-Weiß-Rot“-Karte plus. Ferner sei dazu auch noch angemerkt, dass die Ehefrau des BF im Mai 2020 ein Kind zur Welt gebracht hat, als deren Vater der BF in der Geburtsurkunde verzeichnet ist.

II.3.3.3. Die bB setzte sich auch über die Angaben des BF hinweg, wonach er seit dem Jahr 2016 über einen unbefristeten italienischen Aufenthaltstitel verfüge, mit welchem er legal nach Österreich eingereist sei und führte lediglich aus, dass der BF nicht rechtmäßig in Österreich aufhältig sei, ohne jedoch konkrete Ermittlungen zur Rechtmäßigkeit der Einreise und des Aufenthaltes in Österreich anzustellen.

Auch mangels Ermittlungen zum Aufenthaltsstatus des BF in Italien sowie entsprechender Feststellungen dazu, kann nicht schlüssig nachvollzogen werden, worauf die Würdigung des Umstandes, dass eine Abschiebung des BF in die Türkei zulässig sei, gestützt wurde. Ermittlungen wären der Behörde jedoch leicht möglich gewesen, zumal der BF auch genaue Angaben über den Aufenthaltstitel, wie etwa eine Nummer und das Ausstellungsdatum seiner Berechtigungskarte, machen kann, wie aus der Stellungnahme vom 11.08.2020 hervorgeht.

Im Falle des Vorliegens eines Aufenthaltstitels in Italien wären auch die Voraussetzungen für die Anwendung des § 52 Abs. 6 FPG zu prüfen gewesen. Bei Vorliegen eines Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung für Italien wäre vor Erlassung einer Rückkehrentscheidung auch das Konsultationsverfahren gem. Art 25 Abs. 2 SDÜ zu führen gewesen. Wird gegen einen Fremden, der einen Aufenthaltstitel eines anderen Mitgliedstaats innehat, eine Rückkehrentscheidung erlassen und ist eine Ausschreibung im SIS geplant, so ist der Mitgliedsstaat, der den Aufenthaltstitel erteilt hat, seitens Österreichs im Wege SIRENE über die beabsichtigte Ausschreibung zur Einreiseverweigerung im SIS zu informieren (Art 25 Abs 2 SDÜ). Der Mitgliedstaat, der den Aufenthaltstitel erteilt hat, prüft sodann ob der Aufenthaltstitel aberkannt wird. Ist dies der Fall kann die SIS Ausschreibung erfolgen. Wird der Aufenthaltstitel durch den anderen Mitgliedstaat nicht aberkannt, kann die Ausschreibung nur im FI, nicht jedoch im SIS, erfolgen.

Auch nach den Ausführungen in Ornezeder/Szymanski in Schrefler-König/Szymanski, Kommentar zum Fremdenpolizei- und Asylrecht Art 25 SDÜ ist hierzu festgehalten, dass mit dieser Bestimmung Fälle geregelt werden, in denen über einen Drittstaatsangehörigen, der im Besitz eines Aufenthaltstitels eines Mitgliedstaates ist, eine Rückkehrentscheidung in Betracht gezogen wird. Belässt die Behörde es bei einer Aufforderung, sich in den betreffenden Staat zu begeben und kommt der Betroffene dem nach, so ist die Angelegenheit damit erledigt, eine Ausschreibung unterbleibt.

Ist jedoch die sofortige Ausreise des Betroffenen aus dem Bundesgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich, so wird eine Rückkehrentscheidung (allenfalls gemeinsam mit einem Rückkehrverbot) ohne Bedachtnahme auf den Aufenthaltstitel des anderen Mitgliedstaates erlassen. In diesem Fall ist (zwingend) zunächst die Ausschreibung gem § 24 Z 2 der VO (EU) 2006/1987 vorzunehmen und anschließend das Konsultationsverfahren Abs 2 zu führen.

Dem Akt ist nicht zu entnehmen, dass die belangte Behörde abgeklärt hat, ob ein entsprechendes Konsultationsverfahren mit Italien zu führen ist bzw. dass sie dieses in die Wege geleitet hätte.

Ob die Behörde davon ausging, dass eine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich war (siehe § 52 Abs. 6 letzter Satz FPG) bleibt ebenfalls offen. Bei der Interpretation dieser Bestimmung ist insbesondere auf das strafrechtswidrige Verhalten eines Beschwerdeführers Bedacht zu nehmen, welches gravierend die öffentlichen Interessen beeinflusst haben muss und demgegenüber die familiären Anknüpfungspunkte zurückzutreten hätten. Die bB hat jedoch nicht einmal den Sachverhalt, auf Basis dessen eine derartige Abwägung zu erfolgen hat, ermittelt. Sie hat sich, wie noch auszuführen sein wird, auch nicht mit den Straftaten des BF auseinandergesetzt.

Der Vollständigkeit halber ist festzuhalten, dass die Behörde auch nicht ermittelt hat, ob familiäre Bindungen in Italien, Deutschland oder anderen "Schengen-Staaten" bestehen. Familiären Bindungen ist nämlich dadurch Rechnung zu tragen, dass die bei Erlassung einer Rückkehrentscheidung sowie eines Einreiseverbotes zu beantwortende Frage nach einem – zulässigen – Eingriff in das Privat- oder Familienleben des Drittstaatsangehörigen nicht allein im Hinblick auf seine Verhältnisse in Österreich beurteilt werden darf, sondern dass auch die Situation in dem anderen "Schengen-Staat" in den Blick zu nehmen ist (siehe aus jüngerer Zeit VwGH vom 20.12.2018, Zl. Ra 2018/21/0236; VwGH vom 3.7.2018, Ro 2018/21/0007, Rn. 10, mit Hinweis auf das grundlegende Erkenntnis VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237, VwSlg. 18.295 A, Punkt 3. der

Text


Entscheidungsgründe).

II.3.3.4. Da es sich beim BF um einen Staatsangehörigen der Türkei handelt, erscheinen zudem im gegenständlichen Fall im Hinblick auf die Erlassung eines Einreiseverbotes Ermittlungen über den Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers in Italien vor dem Hintergrund des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 zwischen EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) im Zusammenhang mit einer möglichen Anwendung der Bestimmungen des 4. Abschnittes des 8. Hauptstückes des FPG ebenso als notwendig und erforderlich.

II.3.3.5. Die bB stellte auch keine Ermittlungen zu den den im Strafregister aufgelisteten Verurteilungen zugrundeliegenden Taten an, zumal nicht einmal die Urteile beschafft wurden. Auch blieb auch die Stellungnahme des BF zu seinen Taten und Resozialisierungsbemühungen völlig unberücksichtigt.

Die bB traf keine konkreten Feststellungen und zählte lediglich die im Strafregister ersichtlichen Daten zu den Verurteilungen des BF auf, ohne die Art und Schwere der den Verurteilungen zu Grunde liegenden Straftaten und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild zu beurteilen und eine Zukunftsprognose zu erstellen. Dem Verfahrensakt sind keine Informationen zu entnehmen, auf Basis derer die Gefährdungsannahme der bB (schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit) nachvollziehbar ist und eine Zukunftsprognose vorgenommen werden könnte.

Für die im gegenständlichen Fall vorzunehmende Prognosebeurteilung ist das gesamte Fehlverhalten einzubeziehen, wobei für die Beurteilung nicht das Vorliegen der rechtskräftigen Bestrafung oder Verurteilung, sondern das dieser zu Grunde liegende Verhalten der Fremden maßgeblich ist, demzufolge ist auf die Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und auf das daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. etwa VwGH vom 22.3.2011, 2008/21/0246 mwN, auch Erk. vom 16.11.2012, 2012/21/0080).

II.3.3.6. Die bB trifft keine Feststellungen zur abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat, vor deren Hintergrund die diesbezüglichen Ausführungen der bB nachvollziehbar wären.

II.3.3.7. Angemerkt sei schlussendlich, dass das Verfahren den vorgelegten Dokumenten der bB zufolge bereits im Jahr 2018 eingeleitet wurde bzw. teilte die Behörde dem BF am 11.08.2020 mit, dass ein Verfahren zur Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen am 10.07.2017 gegen ihn eingeleitet wurde. Insoferne ist es nicht verständlich, weshalb die Rechtssache – ohne dass nennenswerte Ermittlungsschritte gesetzt wurden – erst kürzlich zum Abschluss gebracht und dem Bundesverwaltungsgericht drei Tage vor der bedingten Entlassung des BF aus der Strafhaft und einer möglichen Anschluss-Schubhaft bzw. seiner Rückführung in die Türkei vorgelegt wurde.

II.3.4. Unter den oben angeführten Gesichtspunkten leidet der angefochtene Bescheid unter erheblichen Ermittlungsmängeln in Bezug auf verschiedene grundlegende Fragen und sind dem Verfahrensakt auch Hinweise auf grobe Verfahrensmängel zu entnehmen. Damit hat die bB im Sinne der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht einmal ansatzweise ermittelt. Auf Grund der dargestellten Mängel ist es dem Bundesverwaltungsgericht nicht möglich, den maßgeblichen Sachverhalt festzustellen.

Die bB hat daher im fortgesetzten Verfahren den BF persönlich einzunehmen und unter Berücksichtigung der oben getätigten Ausführungen zu seinen privaten und familiären Anknüpfungspunkten in Österreich und anderen Schengen-Staaten zu befragen und auf Basis der beizuschaffenden strafgerichtlichen Urteile die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten festzustellen und unter Einbeziehung der Angaben des BF eine Zukunftsprognose zu erstellen. Dabei ist es erforderlich, sich mit den Inhalten der Strafurteile auseinanderzusetzen. Ein bloßes Aufzählen der Verurteilungen ist keinesfalls ausreichend. Die bB hat auch darzulegen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die Annahme einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit gerechtfertigt ist. Es bedarf auch konkreter Feststellungen zum Gesamtverhalten des BF einschließlich der Berücksichtigung eines Wohlverhaltens und seiner Resozialisierungsbemühungen.

Sollte die bB neuerlich zum Schluss kommen, dass eine Rückkehrentscheidung zu treffen ist, so wird sie sich auch mit den Voraussetzungen für die Anwendung des § 52 Abs. 6 FPG auseinanderzusetzen haben. Bei Vorliegen eines Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung, beispielsweise für Italien, ist vor Erlassung einer Rückkehrentscheidung auch das Konsultationsverfahren gem. Art 25 Abs. 2 SDÜ einzuleiten.

Die bB wird auch Ermittlungen über den Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers in Italien vor dem Hintergrund des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 zwischen EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) zu tätigen haben und den Sachverhalt für ein allenfalls zu verhängendes Einreiseverbot unter die richtige Rechtsnorm zu subsumieren haben.

Die Rechtmäßigkeit einer allfälligen Entscheidung über Rückkehr und Abschiebung ist vor dem Hintergrund aktueller Länderfeststellungen zu prüfen.

II.3.5. Zusammengefasst und in einer Gesamtschau vermochte es die belangte Behörde nicht, ihre Entscheidung tragfähig zu begründen und geht aus der Aktenlage vielmehr hervor, dass die Behörde kein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt hat. Zudem ist im vorliegenden Fall auch die Verfahrensführung nicht nachvollziehbar.

II.3.6. Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens und eine erstmalige Ermittlung und Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Bundesverwaltungsgericht kann nicht im Sinne des Gesetzes liegen, vor allem weil das Ermittlungsverfahren nicht erst beim Bundesverwaltungsgericht beginnen und zugleich enden soll.

Im vorliegenden Fall ist schon aufgrund des organisatorischen Aufbaues des Gerichtes und der belangten Behörde sowie aufgrund des Aufenthaltsortes des BF und der gesetzlichen Anordnung des § 28 Abs. 2 u 3 VwGVG nicht mit einer Ersparnis an Zeit und Kosten oder mit einer wesentlichen Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens im Falle einer Weiterführung des Verfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht zu rechnen.

Zudem ist eine erstmalige Prüfung bzw. die Durchführung der im vorliegenden Fall möglicherweise relevanten Verfahren, etwa des im SDÜ genannten Konsultationsverfahrens, nach der Systematik des europäischen und österreichischen Fremdenrechts wohl eher durch operativ tätige Spezialbehörden vorzunehmen als durch ein Gericht.

Im gegenständlichen Fall ist auch hervorzuheben, dass das Verfahren auf Initiative der Behörde eingeleitet wurde und kann gerade in einem solchen Fall erwartet werden, dass kurz vor der Haftentlassung bzw. einer Anschluss-Schubhaft und Rückführung eines Beschwerdeführers alle für eine rasche Entscheidung des Gerichtes notwendigen Fakten von der Behörde in einem ordnungsgemäßen und fairen Verfahren erhoben wurden.

II.3.7. Der Bescheid war aus den oben genannten Gründen nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückzuverweisen.

II.3.8. Im weiteren Verfahren wird die belangte Behörde auch die zwischenzeitlich vorgelegten Dokumente und Stellungnahmen zu berücksichtigen haben. Der Vollständigkeit halber sei auch noch auf die Wahrung der Grundsätze des Parteiengehörs hingewiesen.

II.3.9.Gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG konnte eine mündliche Verhandlung unterbleiben, weil bereits auf Grund der Aktenlage feststand, dass der Beschwerde stattzugeben bzw. der angefochtene Bescheid zu beheben war.

II.3.10. Eine Übersetzung des Spruches und der Rechtsmittelbelehrung konnte unterbleiben, da den Eingaben des BF zu entnehmen ist, dass er über hinreichende Deutschkenntnisse verfügt.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. beispielshaft Erk. d. VwGH v. 16.12.2009, GZ. 2007/20/0482; Erk. d. VwGH vom 19.11.2009, 2008/07/0167) auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

aktuelle Länderfeststellungen Aufenthaltstitel Ermittlungspflicht Kassation Konsultationsverfahren mangelnde Sachverhaltsfeststellung Privat- und Familienleben Straftat

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:L526.2235864.4.00

Im RIS seit

16.02.2021

Zuletzt aktualisiert am

16.02.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten