TE Bvwg Beschluss 2020/12/11 G314 2231485-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.12.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

11.12.2020

Norm

B-VG Art133 Abs4
FPG §67
FPG §70
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch


G314 2231485-1/15E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde des slowakischen Staatsangehörigen XXXX, geboren am XXXX, vertreten durch den Rechtsanwalt Mag. Robert IGÁLI-IGÁLFFY als Erwachsenenvertreter und den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX.05.2020, Zl. XXXX, betreffend die Erlassung eines Aufenthaltsverbots samt Nebenentscheidungen:

A)       Der Beschwerde wird insofern Folge gegeben, als die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheids gemäß § 28 Abs 3 VwGVG aufgehoben werden und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheids an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen wird.

B)       Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

Verfahrensgang und Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer (BF) wurde am XXXX.2018 in XXXX verhaftet und mit dem rechtskräftigen Urteil des XXXX vom XXXX, gemäß § 21 Abs 1 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen.

Der Einweisung lag zu Grunde, dass er unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (nämlich paranoider Schizophrenie) folgende Taten begangen hatte: Am XXXX.2018 beraubte er in XXXX zwei Frauen mit Gewalt und unter Verwendung eines Klappmessers, indem er die unversperrte Wohnung betrat und dort einem der Opfer einen Faustschlag gegen das Gesicht versetzte, sodass es zu Boden stürzte und einen Bruch des ersten Lendenwirbels erlitt. Anschließend zwang er die andere Frau unter Vorhalt des Messers, sich auf einen Sessel zu setzen, fesselte sie mit einer zerschnittenen Küchenschürze, durchsuchte die Wohnung und nahm Sachen im Gesamtwert von zumindest EUR 2.000 an sich. Anschließend versuchte er, die gefesselte Frau mit Gewalt und durch Entziehung der persönlichen Freiheit zur Duldung des Beischlafs zu nötigen, indem er ihr einen Strumpf in den Mund stopfte, sie in das Schlafzimmer zerrte und auf das Bett warf, die Leggings auszog, die Unterhose mit dem Messer aufschnitt und die Beine auseinanderdrückte, sie mit der Faust und einem Wecker in das Gesicht schlug und versuchte, mit seinem Penis gewaltsam in ihre Vagina einzudringen, wobei es ob der heftigen Gegenwehr des Opfers beim Versuch blieb. Danach entzog er den Frauen widerrechtlich die persönliche Freiheit, indem er mit den Worten „No police!“ die Wohnung verließ und diese mit dem einzigen vorhandenen Schlüssel von außen versperrte, sodass sie erst nach Verständigung der Polizei und Intervention der Feuerwehr befreit werden konnten.

Am XXXX.2018 versuchte der BF in XXXX, Beamte mit Gewalt an einer Amtshandlung zu hindern, indem er beim Vollzug der Festnahmeanordnung, die aufgrund der Taten vom XXXX.2018 erlassen worden war, mit seinem Oberkörper so heftig gegen die beiden einschreitenden Polizeibeamten stieß, dass diese zu Boden stürzten und dadurch eine Prellung an der linken Schulter bzw. eine Prellung des rechten Knies und eine Schürfwunde an der Hand erlitten.

Wäre der BF zum Tatzeitpunkt zurechnungsfähig gewesen, wären ihm diese Taten als die Verbrechen des schweren Raubes (§§ 142 Abs 1, 143 Abs 1 zweiter Fall und Abs 2 erster Fall StGB) und der Vergewaltigung (§§ 15, 201 Abs 1 StGB) sowie als die Vergehen der Freiheitsentziehung (§ 99 Abs 1 StGB), des Widerstands gegen die Staatsgewalt (§§ 15, 269 Abs 1 StGB) und der schweren Körperverletzung (§§ 83 Abs 1 und 84 Abs 2 StGB) zuzurechnen gewesen.

Der BF, der aufgrund einer Niereninsuffizienz dialysepflichtig ist, beherrscht die slowakische Sprache, versteht aber kaum Deutsch. Er wird seit XXXX.2018 in der Krankenabteilung der Justizanstalt XXXX angehalten, wo bisher noch keine ausreichende Symptomkontrolle erzielt werden konnte und er weder Einsicht in seine Krankheit noch in die Behandlungsnotwendigkeit zeigt. Es liegen keine Berichte über sozialrehabilitative Schritte vor. Seine Betreuung wird durch die Sprachbarriere und die Bedingungen in der Justizanstalt XXXX erschwert. Eine Verlegung in die Justizanstalt XXXX, wo flexiblere Behandlungsmöglichkeiten bestehen, ist wegen der Notwendigkeit einer Dialyse nicht möglich.

Mit dem Schreiben des BFA vom XXXX.2018 wurde der BF über die beabsichtigte Erlassung eines Aufenthaltsverbotes informiert und aufgefordert, sich dazu zu äußern. Er erstattete keine Stellungnahme.

Mit Beschluss des XXXX vom XXXX, wurde der Rechtsanwalt Mag. Robert Igáli-Igálffy zum gerichtlichen Erwachsenenvertreter des BF für folgende Angelegenheiten bestellt: Vertretung gegenüber der XXXX in der Slowakei und gegenüber dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA). Ein Genehmigungsvorbehalt iSd § 242 ABGB wurde nicht angeordnet.

Mit dem an den Erwachsenenvertreter des BF gerichteten Schreiben vom 06.12.2019 wiederholte das BFA die Information über die Absicht, gegen den BF ein Aufenthaltsverbot zu erlassen, und die Aufforderung, dazu Stellung zu nehmen. Mit Eingabe vom 20.01.2020 übermittelte der Erwachsenenvertreter des BF dem BFA daraufhin ein ihm vom BF übergebenes, mit 17.12.2019 datiertes Schreiben in slowakischer Sprache. Eine Übersetzung ins Deutsche wurde weder vorgelegt noch vom BFA veranlasst.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid erließ das BFA gegen den BF gemäß § 67 Abs 1 und 2 FPG ein mit zehn Jahren befristetes Aufenthaltsverbot (Spruchpunkt I.), erteilte ihm gemäß § 70 Abs 3 FPG keinen Durchsetzungsaufschub (Spruchpunkt II.) und erkannte einer Beschwerde gemäß § 18 Abs 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt III.). Es begründet diese Entscheidung im Wesentlichen mit dem Urteil des XXXX und dem diesem zugrundeliegenden Fehlverhalten.

Dagegen richtet sich die vom Verein Menschenrechte Österreich (VMÖ) für den BF eingebrachte, wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und der Verletzung von Verfahrensvorschriften erhobene Beschwerde mit den Anträgen auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung und auf Durchführung einer Beschwerdeverhandlung, die primär die Behebung des angefochtenen Bescheids, insbesondere des zehnjährigen Aufenthaltsverbots, anstrebt. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Rückverweisungsantrag gestellt und die Reduktion der Dauer des Aufenthaltsverbots beantragt. Dies wird unter anderem damit begründet, dass der BF am Verfahren mitgewirkt und alle zur Aufklärung des Sachverhalts aus seiner Sicht notwendigen Angaben gemacht habe. Er leide an paranoider Schizophrenie mit Denkstörungen, deutlicher Reizbarkeit, Konfliktbereitschaft, eingeschränkter Realitätsprüfung, mangelhafter Kritikfähigkeit und erhöhter Bereitschaft zur Bagatellisierung. Er sei zwar verurteilt worden, bereue aber seinen Fehler, werde sich bessern und hoffe auf eine zweite Chance. Von ihm gehe keine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit aus. Ein zehnjähriges Aufenthaltsverbot sei unverhältnismäßig. Mit der Beschwerde wurden die Bestellungsurkunde des Erwachsenenvertreters und die dem VMÖ von diesem erteilte Vollmacht vorgelegt.

Das BFA legte die Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) unter Anschluss der Akten des Verwaltungsverfahrens mit dem Antrag vor, sie als unbegründet abzuweisen.

Mit dem Teilerkenntnis vom 12.06.2020 wies das BVwG den Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung als unzulässig zurück. Gleichzeitig gab es der Beschwerde gegen die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung (Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheids) Folge, behob diesen Spruchpunkt und sprach aus, dass der Beschwerde die aufschiebende Wirkung gemäß § 18 Abs 5 BFA-VG zuerkannt werde.

Aufgrund der Aufforderung des BVwG, die Vollmacht eines befugten Vertreters vorzulegen, weil der Wirkungsbereich des Erwachsenenvertreters nicht auch die Vertretung gegenüber dem BVwG umfasse, legte der VMÖ die ihm vom BF direkt erteilte Vollmacht vom 01.07.2020 vor.

Am 05.10.2020 langte am BVwG die deutsche Übersetzung der Stellungnahme des BF vom 17.12.2019 ein. Darin führt er aus, dass er am XXXX.2018 mit dem Zug nach Österreich eingereist sei; den Grund könne er nicht erklären. Er sei insgesamt drei Mal nach Österreich gereist, erinnere sich aber nicht, wann und für wie lange. Er habe in der Slowakei neun Jahre lang eine Sonderschule und danach 1 ½ Jahre lang eine XXXX Schule besucht. Seit seinem 18. Lebensjahr beziehe er eine Invalidenrente. 2016 habe er ein Jahr lang bei XXXX gearbeitet. Er habe einen Freund in XXXX, den er auch in Zukunft gerne besuchen würde.

Das XXXX übermittelte dem BVwG auftragsgemäß Unterlagen zum Ergebnis der letzten Überprüfung der Notwendigkeit der weiteren Anhaltung des BF im Maßnahmenvollzug. Demnach wurde er am XXXX.2020 und am XXXX.2020 von einem psychiatrischen Sachverständigen untersucht. Laut dessen Gutachten vom XXXX.2020 liegt bei ihm weiterhin eine schwere psychische Störung (paranoide Schizophrenie) vor. Bei einer Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug sei mit sehr großer Wahrscheinlichkeit eine neuerliche Tat mit schweren Folgen für Leib und Leben eventueller Opfer zu erwarten. Eine bedingte Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug sei verfrüht, weil erst eine Behandlung unter kontrollierten Lebensbedingungen, verbunden mit einer langfristig angelegten Lockerung der Kontrolle der Lebensbedingungen und einer effektiven Behandlung der bestehenden Symptomatik etabliert werden müsse. Eine Weiterbetreuung des BF in einer dem Maßnahmenvollzug entsprechenden Einrichtung in der Slowakei wurde für sinnvoll erachtet. Basierend auf diesem Gutachten stellte das XXXX als Vollzugsgericht mit dem Beschluss vom XXXX, fest, dass die weitere Unterbringung des BF in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher notwendig sei; gleichzeitig wurde sein Antrag auf bedingte Entlassung abgewiesen. Dies wurde unter anderem damit begründet, dass die bedingte Entlassung einer gründlichen Vorbereitung und eines (bislang noch nicht erstellten) Programms für seine Weiterbetreuung bedürfe. Seine Belastungsfähigkeit unter weniger strukturierten Bedingungen und die Unterbrechung der Unterbringung seien bislang nicht ausreichend erprobt worden. Der Maßnahmenvollzug könne wegen der spezifischen Gefährlichkeit des BF derzeit nicht durch Weisungen oder die Anordnung der Bewährungshilfe substituiert werden.

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang und die Feststellungen ergeben sich aus dem Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des BFA und des Gerichtsakts des BVwG, insbesondere aus den oben genannten Urkunden und Aktenbestandteilen sowie aus Abfragen im Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR), im Zentralen Melderegister (ZMR) und im Strafregister. Entscheidungswesentliche Widersprüche liegen somit nicht vor, sodass sich eine eingehendere Beweiswürdigung erübrigt.

Rechtliche Beurteilung:

Die Beschwerde ist zulässig und wurde insbesondere von einem befugten Vertreter des BF eingebracht. Der Erwachsenenvertreter des BF wurde zwar nur für die Vertretung gegenüber dem BFA bestellt und nicht auch für die Vertretung vor dem BVwG. Der BF, dessen Handlungsfähigkeit durch die Bestellung des Erwachsenenvertreters nicht eingeschränkt ist, hat dem für ihn einschreitenden VMÖ aber auch selbst eine Vollmacht erteilt. Sein auf den Verfahrensgegenstand bezogenes, sinnvolles und zielgerichtetes Vorbringen in der Stellungnahme vom 17.12.2019 zeigt, dass er – jedenfalls in Bezug auf die Bestellung eines gewillkürten Vertreters für das Beschwerdeverfahren vor dem BVwG – ausreichend handlungsfähig ist.

Zu Spruchteil A):

Gemäß § 28 Abs 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über eine Bescheidbeschwerde iSd Art 130 Abs 1 Z 1 B-VG wie die vorliegende dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht (Z 1) oder dessen Feststellung durch das Gericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist (Z 2). Wenn diese Voraussetzungen nicht vorliegen, hat das Gericht gemäß § 28 Abs 3 VwGVG dann meritorisch zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheids an die Behörde zurückverweisen, die dann an die rechtliche Beurteilung, von der das Gericht ausgegangen ist, gebunden ist.

§ 28 VwGVG normiert einen prinzipiellen Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte (siehe z.B. VwGH 19.06.2020, Ra 2019/06/0060). Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt nur dann in Betracht, wenn die Behörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Behörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterlassen hat, damit diese durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden. Wenn die Behörde den entscheidungswesentlichen Sachverhalt unzureichend festgestellt hat, indem sie keine für die Sachentscheidung brauchbaren Ermittlungsergebnisse geliefert hat, ist eine Zurückverweisung gemäß § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG zulässig (VwGH 28.03.2017, Ro 2016/09/0009). Solche gravierenden Ermittlungslücken liegen hier vor.

Dabei ist von folgender rechtlicher Beurteilung auszugehen: Für die Frage, ob ein Aufenthaltsverbot zu erlassen ist, ist auf den Zeitpunkt seiner Durchsetzbarkeit abzustellen. Gemäß § 70 Abs 1 zweiter Satz FPG ist der Eintritt der Durchsetzbarkeit eines Aufenthaltsverbotes aber für die Dauer eines Freiheitsentzuges aufgeschoben, auf den wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung erkannt wurde. Das gilt auch für die Dauer der gemäß § 21 Abs 1 StGB verfügten Anhaltung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher. Vor allem bei der Gefährdungsprognose ist daher auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der (hypothetischen) Entlassung des BF aus der Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher abzustellen. Das bedeutet allerdings noch nicht, dass die Gefährdungsprognose jedenfalls zu seinen Gunsten auszufallen hat, weil eine Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug gemäß § 47 Abs 2 StGB nur bei einem Wegfall der Gefährlichkeit in Betracht kommt. Der Prognose einer vom BF ausgehenden Gefahr iSd § 67 FPG steht nicht entgegen, dass die Gefährlichkeit auf eine Krankheit zurückzuführen ist. Eine solche Gefährdung kann grundsätzlich auch bei Vorliegen einer psychischen Erkrankung bejaht werden, wenn nicht etwa eine Behandlung und Medikation Gewähr dafür bieten, dass eine derartige Gefährdung künftig auszuschließen sein wird (siehe VwGH 29.09.2020, Ra 2020/21/0297 mwN).

Das BFA hat vor Erlassung des angefochtenen Bescheids jegliche Ermittlungen dazu unterlassen, wann das Aufenthaltsverbot voraussichtlich durchsetzbar sein wird und welche Gefährdung dann noch vom BF – insbesondere im Hinblick auf seine Behandlung und Medikation sowie auf die Bedingungen der Entlassung aus der Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher (z.B. Weisungen, Anordnung von Bewährungshilfe) – ausgehen wird. Der Bescheid wurde vielmehr – ohne nähere Auseinandersetzung mit dem aktuellen psychischen Gesundheitszustand des BF – zentral auf sein „Gesamtfehlverhalten“ sowie darauf gestützt, dass er in das Bundesgebiet eingereist sei, um hier „Strafrechtsdelikte“ zu begehen und sich insbesondere seinen Unterhalt durch die Begehung von Eigentumsdelikten zu sichern. Dies lässt unberücksichtigt, dass er bei der Tatbegehung nicht zurechnungsfähig war und ihm sein Verhalten am XXXX.2018 und am XXXX.2018 daher gerade nicht vorgeworfen werden können.

Da der Zeitpunkt der Durchsetzbarkeit eines allfälligen Aufenthaltsverbots gegen den BF derzeit (auch aufgrund der bislang eher eingeschränkten Behandlungs- und Betreuungsmöglichkeiten in der Justizanstalt XXXX) nicht einmal ansatzweise eingeschätzt werden kann, und auch noch gänzlich unbekannt ist, ob zum Zeitpunkt seiner Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug die bis dahin erzielten Therapieerfolge und die flankierenden Maßnahmen Gewähr dafür bieten werden, eine Gefährdung iSd § 67 FPG künftig auszuschließen, ist die Angelegenheit noch nicht entscheidungsreif. Das BFA wird zweckmäßigerweise erst dann wieder ein Aufenthaltsverbot gegen den BF konkret in Erwägung zu ziehen haben, wenn der Zeitpunkt und die Rahmenbedingungen für seine Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug konkret absehbar sind. Dafür kann beispielsweise auf die Ergebnisse der vom Vollzugsgericht alljährlich vorzunehmenden Überprüfung der Notwendigkeit seiner weiteren Anhaltung zurückgegriffen werden. Angesichts der psychischen Beeinträchtigung des BF und seiner schlechten Deutschkenntnisse wird voraussichtlich auch seine persönliche Einvernahme zu den Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbots geboten sein, zumal in dieser Konstellation nicht mit der Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme das Auslangen gefunden werden kann. Das BFA wird im fortzusetzenden Verfahren jedenfalls eine Übersetzung von allenfalls vorgelegten fremdsprachigen Urkunden zu veranlassen haben.

Derzeit kann noch keine Gefährdungsprognose erstellt werden, zumal die Rechtsprechung, wonach der Gesinnungswandel eines Straftäters grundsätzlich daran zu messen ist, ob und wie lange er sich - nach dem Vollzug einer Haftstrafe - in Freiheit wohlverhalten hat (vgl. VwGH 07.09.2020, Ra 2020/20/0184) nicht ohne weiteres auf in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesene, bei der Tatbegehung zurechnungsunfähige Personen übertragen werden kann. Auf diesen Personenkreis ist auch § 133a StVG, der ein vorläufiges Absehen vom Strafvollzug wegen eines Einreise- oder Aufenthaltsverbotes nach Verbüßung der Hälfte der Strafzeit ermöglicht, nicht anwendbar.

Das bisherige Ermittlungsverfahren bietet somit keine geeignete Grundlage für die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen den BF, insbesondere für die vorzunehmende Gefährdungsprognose. Der Sachverhalt ist vielmehr in zentralen Bereichen ergänzungsbedürftig. Da die Angelegenheit noch nicht entscheidungsreif ist und relevante Ermittlungsergebnisse nur ansatzweise vorhanden sind, ist die Angelegenheit gemäß § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG an das BFA zurückzuverweisen. Die notwendige Ergänzung des Ermittlungsverfahrens erreicht ein solches Ausmaß, dass ihre Nachholung durch das BVwG weder im Interesse der Raschheit gelegen noch mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist, zumal zentrale Entscheidungsgrundlagen fehlen.

Aufgrund der signifikanten Ermittlungslücken kann derzeit noch nicht beurteilt werden, ob gegen den BF ein Aufenthaltsverbot zu erlassen ist und wenn ja, für wie lange. Der angefochtene Bescheid ist daher - dem Eventualantrag in der Beschwerde entsprechend - gemäß § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG aufzuheben und die Angelegenheit zur allfälligen Erlassung eines neuen Bescheids nach Verfahrensergänzung an das BFA zurückzuverweisen.

Eine mündliche Verhandlung entfällt gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG, weil schon aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben ist.

Zu Spruchteil B):

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil sich das BVwG bei dieser Entscheidung an der zitierten höchstgerichtlichen Rechtsprechung orientieren konnte und keine darüber hinausgehende grundsätzliche Rechtsfrage iSd Art 133 Abs 4 B-VG zu lösen war. Die einzelfallbezogene Anwendung des § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG berührt im Allgemeinen keine grundsätzliche Rechtsfrage (siehe VwGH 08.08.2019, Ra 2018/04/0115).

Schlagworte

Aufenthaltsverbot Ermittlungspflicht Erwachsenenvertreter Gefährdungsprognose Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Maßnahmenvollzug psychische Erkrankung Straffälligkeit strafrechtliche Verurteilung Zurechnungsfähigkeit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:G314.2231485.1.01

Im RIS seit

16.02.2021

Zuletzt aktualisiert am

16.02.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten