TE Vfgh Erkenntnis 2020/9/21 V341/2020 (V341/2020-10)

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Veröffentlicht am 21.09.2020
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Index

L9200 Sozialhilfe, Grundsicherung, Mindestsicherung

Norm

B-VG Art139 Abs1 Z2
Oö MindestsicherungsG §13
Oö MindestsicherungsV §1 Abs1 Z3 lita
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Aufhebung der Höhe der monatlichen Geldleistungen für in einer Haushaltsgemeinschaft lebende Personen nach der Oö MindestsicherungsV wegen Unterschreitung der gesetzlichen Mindesthöhe im Jahr 2019

Spruch

I. 1. Der Betrag "649,10 Euro" in §1 Abs1 Z3 lita der Verordnung der Oö. Landesregierung, über die Leistungen der bedarfsorientierten Mindestsicherung und den Einsatz der eigenen Mittel (Oö. Mindestsicherungsverordnung - Oö. BMSV), LGBl für Oberösterreich Nr 75/2011 idF LGBl für Oberösterreich Nr 89/2016, wird als gesetzwidrig aufgehoben.

2. Die Oberösterreichische Landesregierung ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Landesgesetzblatt für Oberösterreich verpflichtet.

II. Die Wortfolge "pro Person" in §1 Abs1 Z3 lita der Verordnung der Oö. Landesregierung, über die Leistungen der bedarfsorientierten Mindestsicherung und den Einsatz der eigenen Mittel (Oö. Mindestsicherungsverordnung - Oö. BMSV), LGBl für Oberösterreich Nr 75/2011 idF LGBl für Oberösterreich Nr 89/2016, wird nicht als gesetzwidrig aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Anlassverfahren, Prüfungsbeschluss und Vorverfahren

1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zur Zahl E2959/2019 eine auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde anhängig, der folgender Sachverhalt zugrunde liegt:

1.1. Die Beschwerdeführerin, die mit ihrem Lebensgefährten (der sich im Asylverfahren befindet) und ihrem Sohn im gemeinsamen Haushalt lebt, stellte am 6. Februar 2019 einen Antrag auf Erteilung von Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes und des Wohnbedarfes.

1.2. Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Eferding vom 19. Februar 2019 wurde der Beschwerdeführerin ab 1. April 2019 befristet bis 30. November 2020 Mindestsicherung für sie und ihren minderjährigen Sohn nach §1 Abs1 Z3 lita und Z5 lita Oö. Mindestsicherungsverordnung (im Folgenden: Oö. BMSV) zuerkannt. Nach erhobener Beschwerde änderte die Behörde mit Beschwerde-vorentscheidung vom 13. März 2019 den Bescheid insoweit ab, als die Leistungen ab 1. März 2019 zuerkannt wurden.

1.3. Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich wies mit Erkenntnis vom 17. Juni 2019 die Beschwerde als unbegründet ab und bestätigte den Bescheid in der Fassung der Beschwerdevorentscheidung. Der Beschwerdeführerin sei der Mindeststandard für "Mitbewohner" (volljährige Personen, die in Haushaltsgemeinschaft leben) nach §1 Abs1 Z3 lita Oö. BMSV und nicht für "Alleinstehende" nach Z1 leg.cit. zu gewähren: Es bestehe eine Wohn- bzw Wirtschaftsgemeinschaft, wodurch sich Synergieeffekte ergeben würden, auch wenn der Lebensgefährte keinen Anspruch auf Mindestsicherung habe oder keine finanziellen Beiträge leiste bzw leisten könne.

2. Bei der Behandlung der gegen diese Entscheidung gerichteten Beschwerde sind im Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Gesetzmäßigkeit des §1 Abs1 Z3 lita Oö. BMSV entstanden. Der Verfassungsgerichtshof hat daher am 25. Februar 2020 beschlossen, diese Verordnungsbestimmung von Amts wegen auf ihre Gesetzmäßigkeit zu prüfen.

3. Der Verfassungsgerichtshof legte seine Bedenken, die ihn zur Einleitung des Verordnungsprüfungsverfahrens bestimmt haben, in seinem Prüfungsbeschluss wie folgt dar:

"3. Der Verfassungsgerichtshof hegt gegen die hiemit in Prüfung gezogene Bestimmung dahingehend Bedenken, dass der in der Verordnung festgesetzte Mindeststandard für volljährige Personen, die in Haushaltsgemeinschaft leben, den gesetzlichen Vorgaben widersprochen haben dürfte:

3.1. Die Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes und Wohnbedarfes erfolgte durch laufende monatliche Geldleistungen (§13 Abs1 Oö. BMSG). Diese sog Mindeststandards hatte die Landesregierung jährlich durch Verordnung entsprechend den in im Gesetz geregelten Relationen festzusetzen. Die Höhe der Mindeststandards orientierte sich am Netto-Ausgleichszulagen-Richtsatz für Alleinstehende (um die Beiträge für die gesetzliche Krankenversicherung reduzierte Ausgleichszulage); in §13 Abs3 Oö. BMSG waren Mindestprozentsätze vorgegeben:

3.2. Gemäß §13 Abs3 Z2 Oö. BMSG waren anscheinend für in Haushaltsgemeinschaft lebende volljährige Personen pro Person mindestens 75% des Netto-Ausgleichszulagen-Richtsatzes in der Verordnung festzusetzen. Der Netto-Ausgleichszulagen-Richtsatz betrug für das Jahr 2019 anscheinend € 885,47 (vgl §293 Abs1 lita sublitbb ASVG).

3.3. Seit dem 1. Jänner 2017 (LGBl 89/2016) bis zum Außerkrafttreten der Oö. BMSV (mit LGBl 107/2019 auf Grund des Inkrafttretens des Oö. Sozialhilfe-Ausführungsgesetzes am 1. Jänner 2020) dürfte gleichbleibend ein Mindeststandard idHv € 649,10 für volljährige Personen, die in Haushaltsgemeinschaft leben, festgelegt gewesen sein (§1 Abs1 Z3 lita Oö. BMSV). Nach den gesetzlichen Vorgaben hätte die Landesregierung für das Jahr 2019 Geldleistungen von mindestens 75% von € 885,47, somit zumindest € 664,11 bestimmen sollen. Da in der Verordnung lediglich ein Betrag idHv € 649,10 festgesetzt war, scheint diese Bestimmung insofern dem Gesetz widersprochen zu haben. Mit LGBl 2/2019 dürfte lediglich der Betrag für unterhaltsberechtigte minderjährige Personen, die in Haushaltsgemeinschaft leben, für die ein Anspruch auf Familienbeihilfe besteht für die ersten drei minderjährigen Kinder (§1 Abs1 Z5 lita Oö. BMSV) angepasst worden sein, nicht hingegen auch der Mindeststandard für in Haushaltsgemeinschaft lebende volljährige Personen (Z3 lita leg.cit.).

3.4. Der Verfassungsgerichtshof geht somit vorläufig davon aus, dass §1 Abs1 Z3 lita Oö. BMSV, LGBl 75/2011 idF LGBl 89/2016, gesetzwidrig war."

4. Die Oberösterreichische Landesregierung hat die Akten betreffend das Zustandekommen der in Prüfung gezogenen Verordnung vorgelegt, von einer Äußerung aber Abstand genommen.

II. Rechtslage

1. Die maßgebliche Bestimmung der Verordnung der Oö. Landesregierung, über die Leistungen der bedarfsorientierten Mindestsicherung und den Einsatz der eigenen Mittel (Oö. Mindestsicherungsverordnung - Oö. BMSV), LGBl 75/2011 idF LGBl 2/2019, lautete wie folgt (die in Prüfung gezogene Bestimmung wurde zuletzt mit LGBl 89/2016 geändert und ist hervorgehoben):

"§1

Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts und des Wohnbedarfs

(1) Die laufenden monatlichen Geldleistungen (Mindeststandards) zur Sicherung des Lebensunterhalts und des Wohnbedarfs betragen für

1. alleinstehende oder alleinerziehende Personen  921,30 Euro

2. alleinstehende oder alleinerziehende volljährige Personen, für die ein An-spruch auf Familienbeihilfe besteht und die als Kind unterhaltsberechtigt sind oder sein könnten und nicht unter §11 Abs3 Z5 Oö. BMSG fallen  682,70 Euro

3. volljährige Personen, die in Haushaltsgemeinschaft leben

       a) pro Person                                                            649,10 Euro

       b) ab der dritten leistungsberechtigten volljährigen Person, wenn diese einer anderen Person im gemeinsamen Haushalt gegenüber unterhaltsberechtigt ist oder sein könnte  450,70 Euro

       c) ungeachtet der lita) und b) pro familienbeihilfebeziehender Person gemäß §11 Abs3. Z5 Oö. BMSG, wenn diese als Kind unterhaltsberechtigt ist oder sein könnte und mit zumindest einem Elternteil im gemeinsamen Haushalt lebt   212,00 Euro

4. volljährige Personen, die in Haushaltsgemeinschaft leben, für die ein Anspruch auf Familienbeihilfe besteht, die als Kind unterhaltsberechtigt sind oder sein könnten und nicht unter §11 Abs3 Z5 Oö. BMSG fallen

       a) pro Person, wenn diese mit keinem Elternteil im gemeinsamen Haushalt lebt   410,50 Euro

       b) pro Person, wenn diese mit zumindest einem Elternteil im gemeinsamen Haushalt lebt  212,00 Euro

5. unterhaltsberechtigte minderjährige Personen, die in Haushaltsgemeinschaft leben,

       a) für die ein Anspruch auf Familienbeihilfe besteht für die ersten drei minderjährigen Kinder  216,20 Euro

       b) für die ein Anspruch auf Familienbeihilfe besteht ab dem vierten minder-jährigen Kind  184,00 Euro

       c) für die kein Anspruch auf Familienbeihilfe besteht          450,70 Euro

6. Entfallen

7. die Deckung persönlicher Bedürfnisse von in Einrichtungen gemäß §§63 und 64 Oö. SHG 1998 und §12 Abs2 Z2 Oö. ChG untergebrachten volljährigen Hilfeempfängerinnen und Hilfeempfängern  156,60 Euro

(2) Unter Alleinerziehenden im Sinn des Abs1 Z1 und 2 werden Personen verstanden, die nur mit ihnen gegenüber unterhaltsberechtigten minderjährigen Kindern oder familienbeihilfebeziehenden volljährigen Kindern im gemeinsamen Haushalt leben.

(3) Leben mehr als zwei leistungsberechtigte volljährige Personen nach §13 Abs3 Oö. BMSG in Haushaltsgemeinschaft, ist für die beiden ältesten Personen der Mindeststandard gemäß Abs1 Z3 lita heranzuziehen, soweit die leistungs-berechtigten volljährigen Personen keine davon abweichende Vereinbarung getroffen haben.

(5) Sofern eine Person gemäß §13 Abs4 Oö. BMSG

1. alleinstehend oder alleinerziehend ist, ist ihr Mindeststandard um bis zu 152 Euro zu verringern,

2. volljährig im Sinn des Abs1 Z3 lita oder Z4 lita ist, ist ihr Mindeststandard um bis zu 76 Euro zu verringern.

Bei anderen Personen ist kein Abzug im Sinn des §13 Abs4 Oö. BMSG vorzunehmen.

(6) Sofern bei einer leistungsberechtigten Person nach §13 Abs3a Oö. BMSG die Differenz zwischen dem Mindeststandard gemäß Abs1 Z2 oder Z4 lita und dem jeweiligen für nicht familienbeihilfebeziehende Personen anzuwendenden Mindeststandard größer ist als die Summe aus dem Grundbetrag der Familienbeihilfe und dem Kinderabsetzbetrag, besteht in diesem Ausmaß ein Rechtsanspruch auf eine Ausgleichszahlung." (Zitat ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen)

2. §13 des Landesgesetzes, mit dem das Gesetz über die bedarfsorientierte Mindestsicherung in Oberösterreich (Oö. Mindestsicherungsgesetz - Oö. BMSG) erlassen wird, LGBl 74/2011 idF LGBl 136/2018, lautete wie folgt:

"1. ABSCHNITT

LEISTUNGEN MIT RECHTSANSPRUCH

§13

Monatliche Leistungen im Rahmen der Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts und des Wohnbedarfs

(1) Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts und des Wohnbedarfs erfolgt durch laufende monatliche Geldleistungen (Mindeststandards), soweit keine Hilfe in Form von Sachleistungen in Betracht kommt und auch keine Bedarfsdeckung durch die Inanspruchnahme von Hilfe zur Arbeit besteht.

(2) Die Landesregierung hat durch Verordnung

1. jährlich zum 1. Jänner die Höhe der Mindeststandards gemäß Abs1 und

2. die näheren Kriterien zur Zuordnung zu einzelnen Mindeststandardkategorien gemäß Abs3

festzusetzen: sie hat dabei auf die Höhe der um die Beiträge für die gesetzliche Krankenversicherung reduzierte Ausgleichszulage nach den pensionsversicherungsrechtlichen Bestimmungen Bedacht zu nehmen.

(2a) Die Landesregierung kann durch Verordnung jene Sachleistungen und deren anrechenbaren Wert in absoluten Beträgen oder Prozentsätzen des Mindeststandards, die jedenfalls vorrangig vor monatlichen Geldleistungen im Sinn der Anlage in Betracht kommen, sowie nähere Vorschriften über die Anrechnung solcher Sachleistungen einschließlich Gutscheinen festlegen.

(3) Mindeststandards nach Abs2 sind in folgenden Relationen bezogen auf den Netto-Ausgleichszulagen-Richtsatz für Alleinstehende jedenfalls festzusetzen für

1. alleinstehende und alleinerziehende hilfebedürftige Personen  mindestens                                                                100 %

2 für in Haushaltsgemeinschaft lebende volljährige Personen

       a) pro Person                                                      mindestens 75 %

       b) ab der dritten leistungsberechtigten volljährigen Person, wenn diese einer anderen Person im gemeinsamen Haushalt gegenüber unterhaltsberechtigt ist oder sein könnte  mindestens 50 %

3. in Haushaltsgemeinschaft lebende unterhaltsberechtigte minderjährige Personen, für die ein Anspruch auf Familienbeihilfe besteht

       a) für die ersten drei minderjährigen Kinder                mindestens 18 %

       b) ab dem vierten minderjährigen Kind                         mindestens 15 %

4. die Deckung persönlicher Bedürfnisse von in stationären Einrichtungen untergebrachten Personen mindestens 16 %

(3a) Gesonderte Mindeststandards sind für volljährige Personen festzusetzen, für die ein Anspruch auf Familienbeihilfe besteht, die als Kind unterhaltsberechtigt sind oder sein könnten und nicht unter §11 Abs3 Z5 fallen.

(3b) Personen gemäß §4 Abs3 erhalten aus der bedarfsorientierten Mindestsicherung die sich aus der Anlage ergebenden Sach- oder Geldleistungen. Ein Anspruch auf diese Leistungen besteht nur insoweit, als deren Lebensunterhalt und Wohnbedarf nicht im Rahmen der Grundversorgung oder auf der Grundlage des Oö. Sozialhilfegesetzes 1998 oder des Oö. Chancengleichheitsgesetzes gedeckt werden.

(3c) Zusätzlich zur Leistung nach Abs3b wird diesen Personen ein vorläufiger Steigerungsbetrag zuerkannt, wenn sie gegenüber der Behörde eine Integrationserklärung abgeben.

(4) Sofern bei hilfesuchenden Personen keine Aufwendungen für den Wohnbedarf zu tätigen sind, ist die Summe der für den Haushalt festgesetzten Mindest-standards um 18 % des Netto-Ausgleichszulagen-Richtsatzes für Alleinstehende zu verringern. Sofern die von der hilfesuchenden Person nach Abzug der Wohnbeihilfe nach dem Oö. Wohnbauförderungsgesetz 1993 und sonstiger unterkunftsbezogener Beihilfen zu tragenden Aufwendungen für den Wohnbedarf 18 % des Netto-Ausgleichszulagen-Richtsatzes für Alleinstehende unterschreiten, ist der Mindeststandard gleichfalls um diesen Betrag zu verringern und der tatsächliche Wohnungsaufwand zuzuschlagen.

(5) Bei der Berechnung der Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts und des Wohnbedarfs ist grundsätzlich situationsbezogen auf die aktuelle Notlage im Monat der Hilfeleistung abzustellen. Im ersten und letzten Monat der Hilfeleistung ist eine tageweise Aliquotierung vorzunehmen.

(6) Bei wechselnden Einkommen bzw Anspruchszeiten sowie bei Vorschussleistungen kann zum Ausgleich von allfälligen monatlichen Überbezügen eine Aufrollung vorgenommen werden. Dabei darf im Rahmen der monatlichen Auszahlungen maximal ein Betrag in Höhe von 15 % der zuerkannten Mindeststandards einbehalten werden. Davon unberührt bleiben Rückerstattungs- bzw Kostenersatzansprüche." (Zitat ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen)

III. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit des Verfahrens

Im Verfahren hat sich nichts ergeben, was an der Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Bestimmung zweifeln ließe. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich das Verordnungsprüfungsverfahren insgesamt als zulässig.

2. In der Sache

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hält seine im Prüfungsbeschluss geäußerten Bedenken gegen die Gesetzmäßigkeit des §1 Abs1 Z3 lita Oö. BMSV grundsätzlich aufrecht. Die Oberösterreichische Landesregierung hat von der Erstattung einer Äußerung Abstand genommen.

Gemäß §13 Abs3 Z2 Oö. BMSG waren für in Haushaltsgemeinschaft lebende volljährige Personen pro Person mindestens 75% des Netto-Ausgleichszulagen-Richtsatzes in der Verordnung festzusetzen. Der Netto-Ausgleichszulagen-Richtsatz betrug für das Jahr 2019 € 885,47 (vgl §293 Abs1 lita sublitbb ASVG). Nach diesen gesetzlichen Vorgaben hätte die Landesregierung für das Jahr 2019 in der Verordnung Geldleistungen für volljährige Personen, die in Haushaltsgemeinschaft leben, von mindestens 75% von € 885,47, somit zumindest € 664,11 bestimmen müssen. Da in §1 Abs1 Z3 lita Oö. BMSV lediglich ein Betrag idHv € 649,10 festgesetzt war, hat diese Bestimmung insofern dem Gesetz widersprochen. Der Betrag "€ 649,10" in §1 Abs1 Z3 lita Oö. BMSV, LGBl 75/2011 idF LGBl 89/2016, stand somit im Jahr 2019 in Widerspruch zu den gesetzlichen Vorgaben. Durch die Aufhebung dieses Betrages wird den geäußerten Bedenken Rechnung getragen:

2.2. Der Verfassungsgerichtshof hat den Umfang der zu prüfenden und allenfalls aufzuhebenden Bestimmungen derart abzugrenzen, dass einerseits nicht mehr aus dem Rechtsbestand ausgeschieden wird, als Voraussetzung für den Anlassfall ist, dass aber andererseits der verbleibende Teil keine Veränderung seiner Bedeutung erfährt; da beide Ziele gleichzeitig niemals vollständig erreicht werden können, ist in jedem Einzelfall abzuwägen, ob und inwieweit diesem oder jenem Ziel der Vorrang vor dem anderen gebührt (VfSlg 7376/1974, 16.929/2003, 16.989/2003, 17.057/2003, 18.227/2007, 19.166/2010, 19.698/2012).

Zur Herstellung eines Rechtszustandes, gegen den die im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken nicht bestehen, genügt es, lediglich den Betrag "€ 649,10" in §1 Abs1 Z3 lita Oö. BMSV, LGBl 75/2011 idF LGBl 89/2016, aufzuheben. Die Wortfolge "pro Person" steht hingegen nicht im Widerspruch zur gesetzlichen Bestimmung und verdeutlicht, dass – auch nach der Aufhebung des Betrages idHv € 649,10 durch den Verfassungsgerichtshof – jeder volljährigen Person, die in Haushaltsgemeinschaft lebt, ein dem Gesetz entsprechender Betrag zu gewähren war. Diese Wortfolge ist daher nicht als gesetzwidrig aufzuheben.

2.3. Die Oö. BMSV ist mit LGBl 107/2019 auf Grund des Inkrafttretens des Oö. Sozialhilfe-Ausführungsgesetzes am 1. Jänner 2020 außer Kraft getreten. Sie steht jedoch mit einem auf die Vergangenheit bezogenen Geltungsbereich weiterhin in Geltung. Der Verfassungsgerichtshof hat daher "€ 649,10" in §1 Abs1 Z3 lita Oö. BMSV, LGBl 75/2011 idF LGBl 89/2016, als gesetzwidrig aufzuheben (vgl VfSlg 19.660/2012, 19.913/2014 sowie VfGH 10.6.2013, V77/2012 ua; 21.11.2014, V60/2014).

IV. Ergebnis

1. Der in Prüfung gezogene Betrag "€ 649,10" in §1 Abs1 Z3 lita Oö. BMSV, LGBl 75/2011 idF LGBl 89/2016, erweist sich sohin als gesetzwidrig. Trotz des Außerkrafttretens der Verordnung mit LGBl für Oberösterreich 107/2019 auf Grund des Inkrafttretens des Oö. Sozialhilfe-Ausführungsgesetzes am 1. Jänner 2020, gehört sie mit einem auf die Vergangenheit bezogenen Geltungsbereich weiterhin dem Rechtsbestand an. Der Verfassungsgerichtshof hat daher die genannte Bestimmung als gesetzwidrig aufzuheben.

Hingegen ist die Wortfolge "pro Person" der in Prüfung gezogenen Bestimmung nicht als gesetzwidrig aufzuheben.

Die Verpflichtung der Landesregierung zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art139 Abs5 erster Satz B-VG und §59 Abs2 VfGG iVm §4 Abs1 Z2 litb Oberösterreichisches Verlautbarungsgesetz 2015, LGBl für Oberösterreich 91/2014.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Mindestsicherung, Verordnung, Geltungsbereich (zeitlicher) einer Verordnung, VfGH / Verwerfungsumfang, Sozialhilfe, Armenwesen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:V341.2020

Zuletzt aktualisiert am

15.02.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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