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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
EMRK Art8 Abs2Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch eine Rückkehrentscheidung betreffend einen Staatsangehörigen der Russischen Föderation; mangelhafte Interessenabwägung zur Auswirkung der Aufenthaltsbeendigung auf die Fortsetzung des Familienlebens mit der Ehefrau sowie auf die Beziehung mit der minderjährigen Tochter in ÖsterreichSpruch
Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in die Russische Föderation und gegen die Feststellung einer zweiwöchigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wird, in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.
Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.
2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, reiste mittels Schengen-Visums über die Slowakei in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 29. März 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er lebt mit seiner asylberechtigten Ehefrau und gemeinsamen Tochter, beide Staatsangehörige der Russischen Föderation, im gemeinsamen Haushalt in Österreich.
2. Mit Bescheid vom 19. Oktober 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen und sprach eine Rückkehrentscheidung sowie die Zulässigkeit der Abschiebung unter Setzung einer zweiwöchigen Frist ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise aus. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 29. Jänner 2020 als unbegründet ab. Zur Begründung führt das Bundesverwaltungsgericht in Bezug auf die hier wesentlichen Fragen wie folgt aus:
2.1. Der Beschwerdeführer habe im August 2014 in Aserbaidschan nach muslimischem Ritus eine russische Staatsangehörige geehelicht, welche in Österreich asylberechtigt ist. Im Februar 2018 sei die standesamtliche Trauung in Österreich erfolgt. Die gemeinsame Tochter, die ebenfalls russische Staatsangehörige sei, sei am 1. März 2016 im Bundesgebiet geboren. Der Beschwerdeführer lebe in Österreich mit seiner Ehefrau und dem Kind im gemeinsamen Haushalt. Im Herkunftsland würden sich unter anderem seine Eltern und drei Brüder aufhalten, mit welchen der Beschwerdeführer in Kontakt stehe.
2.2. Es sei von einem bestehenden Familienleben auszugehen, welches jedoch hinsichtlich der Ehefrau bereits beim erstmaligen persönlichen Treffen im Jahr 2014 in Aserbaidschan begründet worden sei. Auch sei die Tochter bei einem weiteren gemeinsamen Treffen im Jahr 2015 dort gezeugt worden. Im März 2016 sei der Beschwerdeführer letztlich ins Bundesgebiet eingereist und lebe seit Juli 2016 mit seiner Frau und seiner Tochter zusammen. Das geltend gemachte Familienleben sei daher jedenfalls zu einem Zeitpunkt begründet worden, in welchem der Beschwerdeführer noch nicht einmal über ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet verfügt habe und sich bewusst sein hätte müssen, dass er in Österreich über keinen Aufenthaltsstatus verfügt habe und die Erlangung eines solchen auch keinesfalls gewiss gewesen sei. Das dadurch entstandene Familienleben sei daher auch unter dem Aspekt der subjektiven Sicht des Beschwerdeführers in seinem Gewicht gemindert.
2.3. Es werde davon ausgegangen, dass keine unüberwindbaren Hindernisse vorlägen, die der Fortsetzung des Familienlebens des Beschwerdeführers mit seiner in Österreich niedergelassenen Ehefrau und der Tochter im gemeinsamen Herkunftsland entgegenstünden, wenngleich es wahrscheinlich wäre, dass dies für seine Familienangehörigen mit einer gewissen Härte verbunden wäre. Unabhängig davon wäre es dem Beschwerdeführer unter Abwägung aller bisher ausgeführten Faktoren letztlich aber selbst für den Fall der Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Familienlebens im Herkunftsland immer noch zuzumuten, unter den gegebenen Umständen zumindest für die Dauer eines ordnungsgemäß geführten Niederlassungsverfahrens, für das der Beschwerdeführer vorübergehend ins Herkunftsland ausreise, die Beziehung zwischenzeitlich über Besuche, Telekommunikation bzw elektronische Medien und Treffen in Drittländern, aufrechtzuerhalten. Dies gelte umso mehr, als das Familienleben des Beschwerdeführers mit seiner Ehefrau ebenfalls in einem Drittstaat begründet worden sei und die beiden ihr Familienleben in den Jahren 2014 und 2015 nur auf diesem Weg ausgeübt hätten. Darüber hinaus habe die Ehefrau, welche sich seit ihrem siebten Lebensjahr in Österreich befinde, angegeben, das Leben in ihrer Heimat nicht zu kennen und in der Russischen Föderation bei null anfangen zu müssen. Sie habe auch angegeben, abgesehen von diesen Umständen keine Probleme im Herkunftsland zu haben. Eine Fortführung des Familienlebens sei somit auch im Herkunftsland möglich, zumal sämtliche Familienmitglieder die russische Staatsangehörigkeit besitzen würden.
2.4. Der Beschwerdeführer halte sich seit seiner Einreise im März 2016 nicht ganz vier Jahre im Bundesgebiet auf. Er habe keine Anhaltspunkte für eine außergewöhnliche Integration dartun können. In Summe könne nicht festgestellt werden, dass dem subjektiven Interesse des Beschwerdeführers am Verbleib im Inland der Vorzug zu geben sei gegenüber dem maßgeblichen öffentlichen Interesse an der Einhaltung, der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften, denen aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ein hoher Stellenwert zukomme.
3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird. Begründend wird dazu im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:
3.1. Das Bundesverwaltungsgericht übersehe, dass die Fortsetzung des Familienlebens mit der Ehefrau im gemeinsamen Herkunftsland tatsächlich unzumutbar wäre. Die Ehefrau habe Asyl erhalten, damit sei festgestellt, dass sie im gemeinsamen Herkunftsland asylrelevanten Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen sei.
3.2. Zudem sei die gemeinsame minderjährige Tochter in Österreich geboren und seitdem in Österreich aufhältig. Bei richtiger Gewichtung dieser Tatsachen und hinreichender Berücksichtigung des Kindeswohles sei offenkundig, dass der Beschwerdeführer durch die angefochtene Entscheidung in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens verletzt werde.
4. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der es den Beschwerdebehauptungen Folgendes entgegenhält:
Es werde übersehen, dass die Ehefrau des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung zu konkreten Problemen bei der Rückkehr in das Herkunftsland ausdrücklich befragt worden sei. Unabhängig davon erscheine es gerade in der vorliegenden Konstellation im Hinblick auf Art8 EMRK jedenfalls zumutbar, das Familienleben – auch mit dem Kind – für die Dauer eines ordnungsgemäß geführten Verfahrens über einen Aufenthaltstitel nach dem NAG mittels Telekommunikation, elektronischer Medien und insbesondere durch Besuche in einem Drittland wie Aserbaidschan, wo ja bereits das Eheleben begründet und 2014 sowie 2015 fortgeführt worden sei, aufrechtzuerhalten.
II. Erwägungen
Die Beschwerde ist zulässig.
A. Soweit sie sich gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in die Russische Föderation und gegen die Feststellung einer zweiwöchigen Frist zur freiwilligen Ausreise richtet, ist sie auch begründet.
1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).
2. Dem Bundesverwaltungsgericht ist bei der gemäß Art8 Abs2 EMRK gebotenen Abwägung ein solcher in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen:
2.1. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausgeführt hat, darf eine Aufenthaltsbeendigung nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte). Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind die Auswirkungen der Entscheidung und die Konsequenzen einer Außerlandesbringung des Beschwerdeführers auf das Familienleben und auf das Kindeswohl etwaiger Kinder des Betroffenen zu erörtern (vgl hiezu VfGH 24.9.2018, E1416/2018; zur Bedeutung der mit einer Trennung des Beschwerdeführers von seinem Kind verbundenen Auswirkungen VfSlg 19.362/2011). Einer mit der Ausweisung verbundenen Trennung von Familienmitgliedern kommt eine entscheidungswesentliche Bedeutung zu (vgl VfSlg 18.388/2008, 18.389/2008, 18.392/2008). Die Intensität der privaten und familiären Bindungen im Inland ist dabei zu berücksichtigen (VfSlg 18.748/2009).
2.2. Dabei sind insbesondere die Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Familienleben zwischen Eltern und Kindern in der Abwägung zu berücksichtigen. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entsteht ein von Art8 Abs1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt (vgl EGMR 21.6.1988, Fall Berrehab, Appl 10.730/84 [Z21]; 26.5.1994, Fall Keegan, Appl 16.969/90 [Z44]). Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (EGMR 19.2.1996, Fall Gül, Appl 23.218/94 [Z32]). Ferner ist es nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ein grundlegender Bestandteil des Familienlebens, dass sich Eltern und Kinder der Gesellschaft des jeweiligen anderen Teiles erfreuen können; die Familienbeziehung wird insbesondere nicht dadurch beendet, dass das Kind in staatliche Pflege genommen wird (vgl VfSlg 16.777/2003 mit Hinweis auf EGMR 25.2.1992, Fall Margareta und Roger Andersson, Appl 12.963/87 [Z72] mwN; zu den Voraussetzungen für ein [potentielles] Familienleben zwischen einem Kind und dessen Vater siehe auch EGMR 15.9.2011, Fall Schneider, Appl 17.080/07 [Z81] mwN). Davon ausgehend kann eine unzureichende Berücksichtigung des Kindeswohles zur Fehlerhaftigkeit der Interessenabwägung und somit zu einer Verletzung des Art8 EMRK führen (vgl VfGH 28.2.2012, B1644/10 mit Hinweis auf EGMR 31.1.2006, Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Appl 50.435/99 sowie insbesondere EGMR 28.6.2011, Fall Nunez, Appl 55.597/09; VfGH 12.10.2016, E1349/2016).
2.3. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes sind die konkreten Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung für einen Elternteil auf das Wohl eines Kindes zu ermitteln und bei der Interessenabwägung nach Art8 Abs2 EMRK zu berücksichtigen (vgl VfSlg 19.362/2011; VfGH 25.2.2013, U2241/2012; 19.6.2015, E426/2015; 9.6.2016, E2617/2015; 12.10.2016, E1349/2016; 14.3.2018, E3964/2017; 11.6.2018, E343/2018 ua; 11.6.2018, E435/2018). Der Verfassungsgerichtshof geht davon aus, es sei lebensfremd anzunehmen, dass der Kontakt zwischen einem Kleinkind und einem Elternteil über Telekommunikation und elektronische Medien aufrechterhalten werden könne (vgl dazu VfGH 25.2.2013, U2241/2012; 19.6.2015, E426/2015; 12.10.2016, E1349/2016; 11.6.2018, E343/2018 ua; 3.10.2019, E3456/2019; 28.11.2019, E707/2019).
2.4. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Interessenabwägung nach Art8 Abs2 EMRK, die das Bundesverwaltungsgericht vornimmt, als unzureichend:
2.5. Das Bundesverwaltungsgericht führt in seinen Feststellungen aus, dass der Beschwerdeführer eine am 1. März 2016 geborene Tochter in Österreich habe. Er lebe mit dieser und seiner Ehefrau im gemeinsamen Haushalt.
2.6. Aus diesen Umständen schließt das Bundesverwaltungsgericht zunächst zutreffend, dass zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Kind sowie seiner Ehefrau ein Familienleben im Sinne des Art8 EMRK bestehe und es wird außerdem ausgeführt, dem Kindeswohl komme im Rahmen der Interessenabwägung nach Art8 EMRK ein besonderes Gewicht zu.
2.7. Das Bundesverwaltungsgericht führt jedoch aus, dass einer Fortsetzung des Familienlebens im gemeinsamen Herkunftsland – wenngleich mit einer gewissen Härte verbunden – keine unüberwindbaren Hindernisse entgegenstehen würden. Selbst für den Fall der Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Familienlebens im Herkunftsland wäre es nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes dem Beschwerdeführer immer noch zuzumuten, für die Dauer eines ordnungsgemäß geführten Niederlassungsverfahrens die Beziehung zwischenzeitlich über Besuche, Telekommunikation bzw elektronische Medien und Treffen in Drittländern aufrechtzuerhalten. Dabei lässt das Bundesverwaltungsgericht zum einen den Aufenthaltsstatus der Ehefrau, die in Österreich asylberechtigt ist, außer Betracht; daran ändert auch – wie vom Bundesverwaltungsgericht in der Gegenschrift vorgebracht – die Befragung in der mündlichen Verhandlung nichts, ob die Ehefrau abgesehen von den Problemen bei einer neuen Existenzgründung und dass ihr der Asylstatus genommen werden könnte, wenn sie in die Russische Föderation zurückkehren würde, noch andere Probleme im Herkunftsland hätte. Zum anderen widerspricht es der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (vgl zB VfGH 12.10.2016, E1349/2016; 11.6.2018, E343/2018 ua) anzunehmen, der Kontakt könne mit einem Kind im Alter von vier Jahren bloß über Telekommunikation bzw elektronische Medien aufrechterhalten werden.
2.8. In der rechtlichen Beurteilung zur Rückkehrentscheidung hält das Bundesverwaltungsgericht weiters fest, das Familienleben des Beschwerdeführers sei zu einem Zeitpunkt eingegangen worden, in welchem der Beschwerdeführer noch nicht einmal über ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet verfügt habe und sich bewusst sein hätte müssen, dass er in Österreich über keinen Aufenthaltsstatus verfügt habe und die Erlangung eines solchen auch keinesfalls gewiss gewesen sei. Das Bundesverwaltungsgericht unterlässt eine konkrete Auseinandersetzung sowohl mit der Beziehung des Beschwerdeführers zu seinem Kind als auch mit dem Kindeswohl der Tochter (vgl VfGH 3.10.2019, E3456/2019). Damit lässt es die konkrete Lebenssituation wie zB gemeinsamer Haushalt, Intensität der Beziehung, Betreuung des Kindes, Alter und Bedürfnisse des Kindes etc. sowie die Auswirkungen auf das Kindeswohl außer Acht. Das Bundesverwaltungsgericht kommt somit der grundrechtlichen Verpflichtung nicht nach, die Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung auf die Beziehung des Beschwerdeführers zu seiner Tochter und das Kindeswohl zu ermitteln (VfGH 28.11.2019, E707/2019 mwN).
2.9. Vor dem Hintergrund seiner Feststellungen zum Sachverhalt hätte das Bundesverwaltungsgericht eingehend begründen müssen, weshalb die aufenthaltsbeendende Maßnahme gegenüber dem Beschwerdeführer und die damit verbundene Trennung von seinem Kind im öffentlichen Interesse geboten ist. Damit hat das Bundesverwaltungsgericht einen wesentlichen Gesichtspunkt des konkreten Sachverhaltes, nämlich die Auswirkungen der Aufenthaltsbeendigung auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers – insbesondere die Beziehung zu seinem minderjährigen Kind – sowie das Kindeswohl dieses Kindes vollständig außer Acht gelassen (vgl VfSlg 19.776/2013; VfGH 11.3.2015, E1884/2014; 27.2.2018, E3775/2017, jeweils mwN).
2.10. Indem das Bundesverwaltungsgericht diese Umstände bei seiner Interessenabwägung nicht berücksichtigt hat, hat es – unabhängig davon, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich der Beschwerdeführer seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein hätte müssen (vgl zur Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, wonach dieser Umstand zwar zu berücksichtigen ist, einen Eingriff in das Recht aus Art8 EMRK aber nicht ausschließt, etwa VfSlg 18.223/2007; VfGH 3.10.2012, U119/12; 25.3.2013, U2241/12) – diese mit einem in die Verfassungssphäre reichenden Fehler belastet.
2.11. Die Entscheidung ist daher insoweit aufzuheben, als mit ihr die im angefochtenen Bescheid getroffene Rückkehrentscheidung bestätigt wird.
B. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigte Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten und gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:
1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.
2. Die vorliegende Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen insoweit nicht anzustellen.
Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde, soweit sie sich gegen die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und gegen die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten richtet, abzusehen und sie insoweit gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG; zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Russische Föderation unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.
2. Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben.
3. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten.
4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.
Schlagworte
Asylrecht, Privat- und Familienleben, Rückkehrentscheidung, EntscheidungsbegründungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2020:E738.2020Zuletzt aktualisiert am
15.02.2021