Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Bernhard Kirchl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und KR Karl Frint (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E*****, vertreten durch Ganzert & Partner Rechtsanwälte OG in Wels, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Heimopferrente, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 24. August 2020, GZ 11 Rs 40/20m-35, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom 6. Mai 2020, GZ 10 Cgs 101/19h-28, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 209,39 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 34,90 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
[1] Die 1948 geborene Klägerin bezieht von der beklagten Pensionsversicherungsanstalt eine Invaliditätspension. Strittig ist im Verfahren der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung einer Heimopferrente nach dem Heimopferrentengesetz (HOG), wegen der während ihres Aufenthalts im Kloster der ***** in F***** (in der Folge: Kloster) von 1962 bis 1964 erlittenen Gewalt. Nicht mehr Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens ist der stationäre Aufenthalt der Klägerin in der Psychiatrischen Kinderstation der Klinik H***** in W***** im Zeitraum von 21. 5. 1953 bis 14. 7. 1953.
[2] Während ihres Aufenthalts im Kloster zwischen 1962 und 1964 war die Klägerin als „Lehrling“ im Kloster beschäftigt. Die Klägerin sollte den Beruf der Kindergärtnerin erlernen. Dazu sollte sie jede Woche von Mittwoch bis Freitag die Kindergärtnerinnenschule in R***** besuchen und dort auch wohnen. Ihr wurde allerdings dazu keine Gelegenheit gegeben. An den restlichen Tagen der Woche sollte sie im Kindergarten des Klosters mitarbeiten und dafür monatlich 500 ATS erhalten. Dieses Geld wurde jedoch von Schwester R***** mit der Aussage einbehalten, die Klägerin habe das nicht verdient. Die Klägerin musste von 4:30 Uhr bis 21:00 Uhr arbeiten; im Kindergarten musste sie teilweise allein 38 Kinder betreuen und Reinigungsarbeiten verrichten.
[3] Während dieser ganzen Zeit lebte die Klägerin im Kloster. Sie musste sich ein Zimmer mit zwei weiblichen Bediensteten des Klosters (aus Küche und Landwirtschaft) teilen. Im Kloster war auch ein Knabeninternat untergebracht. Die Schüler schliefen in Einzelbetten in einem großen Schlafsaal. Etwa alle zwei bis drei Wochen – im Winter wegen der schwierigen Anfahrt seltener – durfte die Klägerin zu ihren Eltern nach Hause fahren.
[4] Die Klägerin erlitt physische und psychische Gewalt. Sie wurde täglich von Schwester R***** geschlagen, musste „Scheiterlknien“ und wurde gezwungen, ihr Erbrochenes zu essen. Sie wurde mit einem Gartengerät geschlagen und mit dem Umbringen bedroht. Einmal wurde die Klägerin mit einem Schürhaken so geschlagen, dass dieser im Rücken stecken blieb, weshalb eine Ärztin geholt werden musste.
[5] Die Klägerin berichtete ihrem Vater von den erlittenen Misshandlungen. Dieser kündigte zwar einmal an, mit der Direktorin von Internat und Kindergarten zu sprechen, dazu kam es dann aber nicht.
[6] Am Tag vor Heiligabend des Jahres 1964 kam die Klägerin nach Hause. Am Dreikönigstag hatte sie zu ihrer Arbeitsstelle zurückzukehren. Als sie dort ankam, warf ihr Schwester R***** den Diebstahl von Kleidung vor. In der Nacht stieg die Klägerin aus dem Fenster und flüchtete zu Fuß nach Hause. Sie erkrankte in der Folge an einer Lungenentzündung. Ihre Eltern fuhren mit ihr ins Kloster, erhoben dort Vorwürfe und drohten mit einer Anzeige, die sie dann aber nicht erstatteten. Das Beschäftigungsverhältnis der Klägerin war damit beendet.
[7] Die Klägerin erhielt von der Stiftung Opferschutz der Katholischen Kirche in Österreich eine Entschädigungsleistung von 15.000 EUR zuerkannt. Die Stiftung teilte der Beklagten dazu nach dem nicht bestrittenen Inhalt der Beilage ./2 mit:
„Wir haben zwar eine pauschalierte Entschädigungsleistung ausbezahlt, die Voraussetzungen des § 1 HOG liegen jedoch nicht vor.
Begründung: keine stationäre Unterbringung in öffentlichen, kirchlichen oder privaten Einrichtungen oder in Pflegefamilien iSd § 1 Abs 1 HOG.“
[8] Mit Bescheid vom 27. 2. 2019 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin vom 5. 2. 2019 auf Zuerkennung einer Heimopferrente ab.
[9] Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage die Zuerkennung einer Heimopferrente im gesetzlichen Ausmaß. Sie habe im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses im Kloster Gewalt erlitten, die Anspruchsvoraussetzungen seien erfüllt.
[10] Die Beklagte wandte dagegen ein, dass es an der Anspruchsvoraussetzung der Unterbringung der Klägerin in einer kirchlichen Einrichtung im Sinn des § 1 Abs 1 HOG fehle.
[11] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Klägerin habe zwar von 1962 bis 1964 in einer geeigneten Einrichtung der Kirche gewohnt und in dieser Einrichtung unermessliche Gewalt erlitten. Es liege jedoch keine Unterbringung im Sinn des HOG vor, weil die Klägerin weder „Heimkind“ noch „Pflegekind“ gewesen sei. Die Klägerin habe nach ihren eigenen Angaben im Rahmen eines Lehrverhältnisses im Kloster gewohnt, sie habe sich daher nicht in Fremdpflege befunden.
[12] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin gegen dieses Urteil nicht Folge. Die Klägerin habe Gewalt erlitten, ihr Schicksal sei höchst bedauerlich. Sie habe diese Gewalt jedoch nicht als Zögling eines Kinder- oder Jugendheims, sondern als Lehrling durch den Lehrherrn erfahren, der auch eine Unterkunft zur Verfügung gestellt habe. Gewalt gegen Lehrlinge oder jugendliche Dienstnehmer sei nicht vom HOG umfasst. Die Revision sei zulässig, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Auslegung des Begriffs „Unterbringung“ in § 1 Abs 1 HOG fehle.
[13] Gegen dieses Urteil richtet sich die von der Beklagten nicht beantwortete Revision der Klägerin, mit der sie die Stattgebung des Klagebegehrens beantragt.
[14] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[15] Die Revisionswerberin hält an ihrem Rechtsstandpunkt fest, dass sie im Kloster untergebracht gewesen sei, sodass der Tatbestand des § 1 Abs 1 HOG erfüllt sei. Davon sei schon deshalb auszugehen, weil die Kirche ihr eine Entschädigung bezahlt habe. Die Klägerin habe das Kloster de facto nicht verlassen dürfen. Sie habe die Kindergartenschule nicht besuchen und auch nur alle zwei bis drei Wochen nach Hause zurückkehren dürfen. Die Klägerin sei neben dem Raum mit den Internatsschülern untergebracht gewesen. Sie habe sich gegen die ihr angetane Gewalt nicht wehren und das Lehrverhältnis nicht beenden können. Sie sei nicht „außerhalb“ der Einrichtung gestanden wie etwa ein Teilnehmer am Firmunterricht, dem Gewalt angetan worden sei. Eine Differenzierung der Situation der Klägerin gegenüber jener der Internatsschüler im Kloster wäre gleichheits- und daher verfassungswidrig, sodass eine Prüfung durch den Verfassungsgerichtshof angeregt werde.
[16] Dem kommt keine Berechtigung zu:
[17] 1. Der Rechtsweg ist für die vorliegende Rechtsstreitigkeit im Rahmen der sukzessiven Kompetenz der Arbeits- und Sozialgerichte gemäß § 6 HOG zulässig.
[18] 2.1 Die Klägerin stützt ihren Anspruch auf § 1 Abs 1 HOG. Diese Bestimmung lautete in der Stammfassung, BGBl I 2017/69:
„§ 1. (1) Personen, die eine pauschalierte Entschädigungsleistung wegen nach dem 9. Mai 1945 bis zum 31. Dezember 1999 erlittener Gewalt im Rahmen einer Unterbringung in Kinder- oder Jugendheimen des Bundes, der Länder und der Kirchen oder in Pflegefamilien von einem Heim- oder Jugendwohlfahrtsträger oder den von diesen mit der Abwicklung der Entschädigung beauftragten Institutionen erhalten haben, haben ab dem Zeitpunkt und für die Dauer der Zuerkennung einer Eigenpension, spätestens aber mit Beginn des Monats, der auf die Erreichung des Regelpensionsalters (§§ 253 und 617 Abs. 11 ASVG) folgt, Anspruch auf eine monatliche Rentenleistung nach diesem Bundesgesetz.“
[19] 2.2 Die Gesetzesmaterialien führen zu dieser Bestimmung ua aus (2155/A 25. GP 7):
„Personen, die als Opfer von Gewalt in Kinder-
und Jugendheimen (wozu auch Internate zählen) des Bundes, der Länder und der Kirche eine pauschalierte Entschädigungsleistung vom jeweiligen Heim oder Jugendwohlfahrtsträger erhalten haben (sie betrug je nach Heimträger etwa zwischen 5.000 und 25.000 € einmalig), sollen eine Rentenleistung erhalten. … Die pauschalierte Entschädigungsleistung der Heimträger (mit Schmerzengeldcharakter), die Voraussetzung für die zwölfmal jährlich zu erbringende Rentenleistung ist, wurde von den Heimträgern ohne gesetzliche Regelung auf privatwirtschaftlicher Basis für vorsätzliche Gewalttaten in Heimen geschaffen. … Hat ein Opfer eine pauschalierte Entschädigungsleistung vom Heimträger erhalten, ist im Verfahren nach § 1 Abs. 1 der Opferstatus (die erlittene Gewalttat) vom Entscheidungsträger nicht mehr gesondert zu prüfen. …“
[20] 2.3 Nach dieser Bestimmung waren unabhängig von der Staatsbürgerschaft nur jene Personen anspruchsberechtigt, die zwischen 9. 5. 1945 und 31. 12. 1999 im Rahmen einer Unterbringung in Kinder- oder Jugendheimen des Bundes, der Länder und der Kirchen oder in Pflegefamilien Opfer von Gewalt wurden (Czellary-Ulrich/Eminger in Poperl/Trauner/Weißenböck, ASVG [69. Lfg] HOG Rz 4). Dazu sollten nach den Erläuterungen auch Internate zählen, was allerdings im Gesetzestext keinen Niederschlag fand.
[21] 2.4 Nachdem aufgrund der Tätigkeit der Rentenkommission der Volksanwaltschaft (§ 15 HOG) Opfer systematischer Misshandlungen sowohl in Kranken- und Heilanstalten als auch in Kinderheimen privater Träger sowie solchen von Städten und Gemeindeverbänden bekannt geworden waren, wurde § 1 Abs 1 HOG mit der Novelle BGBl I 2018/49 dahin geändert, dass diese Bestimmung seither lautet:
„(1) Personen, die eine pauschalierte Entschädigungsleistung wegen nach dem 9. Mai 1945 bis zum 31. Dezember 1999 erlittener Gewalt im Rahmen einer Unterbringung in Kinder- oder Jugendheimen, als Kinder oder Jugendliche in Kranken-, Psychiatrie- und Heilanstalten beziehungsweise in vergleichbaren Einrichtungen der Gebietskörperschaften oder Gemeindeverbände, in entsprechenden privaten Einrichtungen, sofern diese funktional für einen Jugendwohlfahrtsträger tätig wurden, in entsprechenden Einrichtungen der Kirchen oder in Pflegefamilien von einem Heim-, Jugendwohlfahrts-, Krankenhausträger oder Träger der vergleichbaren Einrichtung beziehungsweise den von diesen mit der Abwicklung der Entschädigung beauftragten Institutionen erhalten haben, haben ab dem Zeitpunkt und für die Dauer der Zuerkennung einer Eigenpension, spätestens aber mit Beginn des Monats, der auf die Erreichung des Regelpensionsalters (§§ 253 und 617 Abs. 11 ASVG) folgt, Anspruch auf eine monatliche Rentenleistung nach diesem Bundesgesetz.“
[22] 2.5 Mit dieser Novelle wurde rückwirkend mit 1. 7. 2017 (vgl § 20 Abs 6, § 19b HOG) der Kreis der anspruchsberechtigten Personen auch auf Missbrauchsopfer ausgeweitet, die in Kinder- oder Jugendheimen der Gemeinden oder Gemeindeverbände, als Kinder oder Jugendliche in einer Kranken-, Psychiatrie- oder Heilanstalt oder in vergleichbaren Einrichtungen der Gebietskörperschaften, Gemeindeverbände oder Kirchen oder in entsprechenden privaten Einrichtungen, sofern die Zuweisung durch einen Jugendwohlfahrtsträger (funktionale Zuständigkeit) erfolgt ist, untergebracht waren (Czellary-Ulrich/Eminger, HOG Rz 5; vgl auch Pinggera/Körner, Das Heimopferrentengesetz – Überblick und Ausblick, Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2019, 171 [172]). Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte durch diese Novellierung eine „Lücke“ rückwirkend geschlossen werden, um eine „Ungleichbehandlung“ zu vermeiden und auch diesen Personen eine monatliche Rentenleistung zu ermöglichen (216/A 26. GP 3 sowie AB 229 BlgNR 26. GP 3). Intention des Gesetzes ist es, einen konkreten Schritt zu setzen und der betroffenen Personengruppe den Einkommensnachteil, der durch staatliches Wegsehen bzw nicht Hinsehen entstanden ist, in einem – wenngleich begrenzten – Ausmaß auszugleichen; dies über die oft erfolgten einmaligen Entschädigungs- bzw Anerkennungsleistungen hinaus in Form einer monatlichen Rentenleistung (Madlener, Heimopferrentengesetz [HOG] in Reissner/Mair [Hrsg], Innsbrucker Jahrbuch zum Arbeitsrecht und Sozialrecht 2018, 215 [224]).
[23] 3. Der Gesetzgeber hat den Kreis der nach § 1 Abs 1 HOG anspruchsberechtigten Personen eng umschrieben. Er hat die Gewährung einer Heimopferrente als besondere Fürsorgeleistung und spezifische Reaktion auf ein Unrecht geschaffen, das typischerweise und in besonderer Intensität sogenannten „Heimkindern“ bzw „Pflegekindern“ widerfahren ist. Er stellt daher auf kindliche und jugendliche Opfer von Gewalt ab, die solcher Gewalt im Rahmen einer regelmäßig länger dauernden Unterbringung in Fremdpflege, der sie sich nicht entziehen konnten, ausgesetzt waren. Er stellt diese nicht allen anderen Opfern von Gewalt gleich. Da der Gewährung einer Fürsorgeleistung wie der Heimopferrente keine Gegenleistung des Anspruchsberechtigten gegenübersteht und keine sonstige Verpflichtung des Staats zugrunde liegt, hat der Gesetzgeber nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs durch die dargestellte enge Umschreibung des Kreises der anspruchsberechtigten Personen nicht den ihm zustehenden weiten rechtspolitischen Gestaltungsspielraum verletzt (VfGH G 189/2018; G 226/2018).
[24] 4.1 In Übereinstimmung mit der Rechtslage und der dargestellten Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs haben die Vorinstanzen zu Recht die Anspruchsberechtigung der Klägerin verneint:
[25] 4.2 Der Umstand, dass die Klägerin eine pauschalierte Entschädigungsleistung von der Stiftung Opferschutz der Katholischen Kirche in Österreich erhalten hat, hat – entgegen den Ausführungen in der Revision – (nur) zur Folge, dass ihr Opferstatus (die erlittene Gewalt), nicht mehr gesondert zu prüfen ist. Die Intention ist, jene Opfer, welche eine pauschalierte Entschädigungsleistung erhalten haben, nicht neuerlich mit dieser Gewalttat zu konfrontieren (Madlener, HOG 237). Dies ändert jedoch nichts daran, dass die weiteren Anspruchsvoraussetzungen vom Entscheidungsträger, und – infolge der sukzessiven Kompetenz: neuerlich und von dessen Entscheidung unabhängig – vom Arbeits- und Sozialgericht zu prüfen ist, was sich aus den Verfahrensbestimmungen des HOG ergibt:
[26] Der Antragsteller hat gemäß § 5 Abs 1 HOG die Anspruchsvoraussetzungen durch Vorlage entsprechender Unterlagen zu belegen. Verletzt er seine Mitwirkungspflicht ohne triftigen Grund und trotz Mahnung, kann die Leistung gemäß § 5 Abs 4 und 5 HOG abgelehnt werden. Eine Mitwirkungspflicht trifft gemäß § 11 HOG ua auch die mit der Entschädigungsleistung befassten Stellen. Diese haben insbesondere gemäß § 11 Abs 4 Z 2 lit b HOG personenbezogene Daten betreffend die Opfereigenschaft, nämlich „Bezeichnung, Name, Ort, Zeitraum hinsichtlich der Unterbringung im Heim, bei den Pflegeeltern oder in einer Krankenanstalt oder vergleichbaren Einrichtung“ mitzuteilen. Diese Angaben dienen der Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen, die – wie sich auch im vorliegenden Fall aus den Angaben der Stiftung Opferschutz ergibt – nicht in jedem Fall, in dem eine Entschädigungsleistung gewährt wird, gegeben sein müssen.
[27] 4.3 Die Argumente der Revisionswerberin zielen darauf ab, dass eine Fremdunterbringung der Klägerin in den Jahren 1962 bis 1964 vorlag, die den gesetzlich umschriebenen Tatbeständen gleichzuhalten ist. Es steht außer Frage, dass die Klägerin während ihres Aufenthalts im Kloster F***** außerordentliche Gewalt und Misshandlungen erleiden musste. Ungeachtet der – de facto, infolge des Verbots, die Kindergärtnerinnenschule zu besuchen – räumlichen Unterbringung der Klägerin allein im Kloster bleibt im Hinblick auf die dargestellte Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs kein Raum für die von der Klägerin gewünschte extensive Auslegung des Tatbestands des § 1 Abs 1 HOG:
[28] 4.4 Denn die Klägerin hatte – anders als „Heimkinder“ oder „Pflegekinder“ – zumindest rein rechtlich die Möglichkeit, das Autoritätsverhältnis selbst zu beenden, unabhängig davon, ob es sich beim Beschäftigungsverhältnis der Klägerin tatsächlich um eine „Lehre“ handelte oder ob ein Dienstvertrag abgeschlossen wurde: Sowohl die Klägerin selbst, als auch – nach damaliger Rechtslage – ihr(e) gesetzlicher(n) Vertreter waren sowohl berechtigt, ein Lehrverhältnis bei Vorliegen eines wichtigen Grundes gemäß § 101 Z 2 GewO 1859, als auch ein Dienstverhältnis (vgl § 152 ABGB alt, nunmehr § 171 ABGB iVm § 1162 ABGB) vorzeitig zu lösen (ausführlich 8 ObA 63/09m mwH; Hopf/Höllwerth in KBB6 § 171 Rz 1 mwH).
[29] 5. Die Klägerin erlitt daher zwar außerordentliche Gewalt und erhielt dafür eine Entschädigungsleistung. Sie erlitt diese Gewalt aber nicht „im Rahmen einer Unterbringung“ im Sinn des § 1 Abs 1 HOG, sondern im Rahmen ihres Beschäftigungsverhältnisses. Die Anspruchsvoraussetzungen des § 1 Abs 1 HOG sind daher nicht zur Gänze erfüllt.
[30] Der Revision war nicht Folge zu geben.
[31] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Da die Entscheidung von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage (§ 502 Abs 1 ZPO) abhängt, entspricht es der Billigkeit, der unterlegenen Klägerin den Ersatz der Hälfte ihrer Kosten im Revisionsverfahren zuzusprechen (RIS-Justiz RS0085871).
Textnummer
E130631European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2021:010OBS00148.20T.0119.000Im RIS seit
12.02.2021Zuletzt aktualisiert am
22.06.2021