TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/29 W257 2181562-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.11.2020
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Entscheidungsdatum

29.11.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W257 2181562-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Herbert MANTLER, MBA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , unstet, StA. Afghanistan, unvertreten, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.11.2017, Zahl: 1112556908-160577227, berichtigt mit Bescheid vom 02.01.2018, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird abgewiesen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe

1.       Verfahrensgang:

1.1.    Der Beschwerdeführer stellte am 22.04.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Die Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes fand am 23.04.2016 statt, die Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: belangte Behörde) fand am 04.05.2017 statt.

Bei der Ersteinvernahme brachte er vor, dass er aus Afghanistan stamme, der Volksgruppe der Tadschiken angehöre und Moslem mit sunnitischer Glaubensausrichtung sei. Er hätte 12 Jahre die Grundschule besucht und stamme aus der Provinz Baghlan in Kunduz. Er hätte einen Vater, eine Mutter und eine Schwester. Die Schwester sei 12 Jahre alt. Als Fluchtgrund brachte er vor, dass er von den Taliban verfolgt worden wäre, weil er in einer privaten Sicherheitsfirma – welche Aufträge von den US-Streitkräften bekommen hätte - gearbeitet hätte. Er sei kinderlos und sei ledig.

1.2.    Bei der behördlichen Einvernahme brachte er vor, dass sein Vater bereits verstorben sei, seine Mutter würde bei ihrem Bruder in Baghlan leben. Er hätte nur eine jüngere Schwester, die bei der Mutter leben würde. Er hätte außerdem Verwandte in Kunduz. Hier in Österreich würde in er im XXXX leben, würde auch österreichische Freunde haben und würde für den Deutschkurs lernen. Er hätte 12 Jahre die Schule besucht und hätte anschließend in Kabul nebenbei zwei Jahre am Institut für Englisch studiert. Er hätte in Kabul in einer Sicherheitsfirma im Büro gearbeitet. Die Firma hätte den Namen „ XXXX “ und er wäre Teamleader gewesen. Er hätte die Guards für die einzelnen privaten Firmen, welche ihren Service gebraucht hätten, „bereitgestellt“. Er könne aber keine private Firma beim Namen nennen, denn dies wäre Aufgabe des Chefs gewesen. Er wäre zweimal von der IS angerufen worden. Beim ersten Mal hätte an ihm gesagt, dass er als Moslem mit ihnen zusammenarbeiten solle. Diesen Anruf habe er selbst beendet. Vier Tage später wäre wieder angerufen worden und man hätte ihn damit bedroht, dass er einen IS-Angehörigen in diese Sicherheitsfirma einschleusen solle. Acht oder neun Tage später wäre er mit dem Auto von den IS angehalten worden und man hätte auf ihn ca eine halbe Stunde eingeschlagen und man hätte ihn gefragt warum er die beiden Anrufe nicht ernst genommen hätte. Er hätte ihnen versprochen, dass er alles was sie fordern tun werde und man hätte von ihn abgelassen. Ca 10 Tage später hätte er Afghanistan verlassen, wobei er in diesen 10 Tagen sich im Büro der Sicherheitsfirma aufgehalten habe. Vorgelegt wurden noch Lichtbilder, die den BF an einem Schreibtisch mit einem aufgeklappten Laptop und zwei Sicherheitsleuten (Guards) zeigen, sowie diese zwei Gurads mit ihm an verschiedenen Stellen im Außenbereich, wobei er eine erklärende oder – gegenüber den beiden Gurads – offensichtliche führende Rolle einnahm.

1.3.    Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.). Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan unzulässig sei (Spruchpunkte III. bis V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde folgendes aus:

„Bereits im Ansatz in Frage zu stellen ist Ihre Behauptung, bis unmittelbar vor der Ausreise bei der besagten Sicherheitsfirma in einer maßgeblichen Position gearbeitet zu haben. Sie legten nämlich zur Bescheinigung dieser Tätigkeit einen Dienstausweis vor, der im Englischen zahlreiche grobe Rechtschreib- und Grammatikfehler aufweist und das von Ihnen vorgelegte Empfehlungsschreiben des Arbeitgebers weist nicht einmal ein Ausstellungsdatum auf. Weiters machten Sie zu Ihrer eigentlichen Tätigkeit widersprüchliche Angaben. Sie behaupteten nämlich zunächst, als Teamleader tätig gewesen zu sein und die Guards an ausländische Firmen vermittelt zu haben. Als Sie jedoch danach gefragt wurden, an welche konkreten ausländischen Firmen die Guards vermittelt wurden, waren Sie außerstande, auch nur ein einziges Unternehmen beim Namen zu nennen, und zogen sich rasch darauf zurück, lediglich die Guards bereitgestellt zu haben, alles andere habe Ihr Chef erledigt. Ihre Aufgabe sei es lediglich gewesen, die Guards an den Einsatzort zu schicken. Auf Nachfrage nach den Einsatzorten der Guards wichen Sie zunächst erneut aus und erklärten, der Chef habe alles erledigt, erst dann nannten Sie zwei Einsatzorte. Hätten Sie tatsächlich die Aufgabe gehabt, die Guards zu den Einsatzorten zu schicken, wäre jedoch davon auszugehen, dass Sie ausführliche Angaben zu den regionalen Gegebenheiten machen können. Dass Sie dies nicht gemacht haben, weist klar darauf hin, dass Ihre Angaben nicht der Wahrheit entsprechen und Sie nicht in der von Ihnen behaupteten Funktion im Unternehmen tätig waren. Schließlich gestanden Sie auf Nachfrage auch ein, keinerlei persönlichen Kontakt zu den ausländischen Unternehmen gehabt zu haben. Zusammenfassend ergibt sich somit das Bild, dass Sie allenfalls in einer sehr untergeordneten Funktion für das besagte Unternehmen tätig gewesen sein können, ohne dispositive Gewalt und ohne jeden Kontakt zu ausländischen Unternehmen, sodass bereits im Ansatz nicht nachvollziehbar ist, dass Sie aufgrund dieser beruflichen Tätigkeit ins Visier der Taliban geraten sein könnten.

Hinsichtlich der angeblichen persönlichen Verfolgung tätigten Sie ebenfalls widersprüchliche und nicht plausible Angaben, die nicht geeignet waren, Ihrem Vorbringen Glauben zu schenken. Sie berichteten nämlich davon, insgesamt zwei Drohanrufe erhalten zu haben, dann einmal persönlich behelligt worden zu sein und sich anschließend bereits zur Ausreise entschlossen zu haben. Die Anrufe seien von einer unbekannten Nummer erfolgt. Später behaupteten Sie hingegen, die Nummer gar nicht zu kennen, da diese unterdrückt gewesen sei. Über den Anrufer selbst gaben Sie zunächst an, es habe sich beide Male um dieselbe Person gehandelt, um dann sofort wieder zu relativieren, dass die Stimmen doch unterschiedlich geklungen hätten. Beim ersten Anruf habe man zu Ihnen gesagt, man wisse, wo Sie arbeiten und es sei Ihre Pflicht, den Anrufern zu helfen. Ohne sich anzuhören, worin die Hilfe bestehen sollte, hätten Sie bereits das Gespräch beendet. Der zweite Anruf sei vier Tage später erfolgt. Diesmal habe man Sie gewarnt, dass es sich um die letzte Kontaktaufnahme handle und man werde Ihnen jemanden schicken, den Sie in der Firma unterbringen sollten. Es sei aber anschließend niemand geschickt worden, vielmehr hätte man Ihnen aufgelauert und Sie persönlich bedroht. Bei der Schilderung dieses angeblichen Vorfalls verwickelten Sie sich in zahlreiche Widersprüche. So behaupteten Sie zunächst, nach dem zweiten Drohanruf seien drei bei vier Tage vergangen, bis es zu dem Übergriff gekommen sei. Später gaben Sie hingegen an, es seien 8-9 Tage bis dahin vergangen. Äußerst vage sprachen Sie von drei oder vier Angreifern, konnten diese aber nicht beschreiben und behaupteten, diese seien soweit vermummt gewesen, dass Sie diesbezüglich keine Angaben machen könnten. Weiters gaben Sie anfangs an, man habe Sie zur Rede gestellt, warum Sie die Anrufe nicht ernst genommen hätten, woraufhin Sie darum gebeten hätten, Ihnen noch eine Chance zu geben. Anschließend habe man Ihnen diese Chance gewährt, Ihnen aber mit dem Umbringen gedroht, wenn Sie sich erneut nicht daran halten würden. Später schilderten Sie dies gänzlich anders und behaupteten nun, dass man Sie sofort töten hätte wollen, woraufhin Sie um eine letzte Chance gebeten hätten. Über die Tätlichkeiten gaben Sie an, drei Männer hätten ca. 20-30 Minuten lang auf Sie eingetreten, während Sie auf dem Boden gekniet seien. Dennoch wollen Sie anschließend lediglich blaue Flecken gehabt und nicht geblutet haben. Vielmehr hätten Sie bereits eine halbe Stunde später mit dem Auto wieder selbständig in die Arbeit fahren können, ohne auch nur einen Arzt konsultieren zu müssen. Auch dies ist im Hinblick auf Ihre Tatschilderung nicht im Geringsten nachvollziehbar, da Sie bei einer halbstündigen Misshandlung durch Fußtritte von drei Personen weit stärkere Verletzungen erlitten haben müssten und sicherlich auch nicht eine halbe Stunde knieend während der Misshandlungen zugebracht hätten. Ihre Beschreibung des Tathergangs ist daher völlig unzulänglich und nicht einmal ansatzweise glaubhaft. Auch über die Zeitspanne nach dem angeblichen Übergriff machten Sie vage und widersprüchliche Angaben und behaupteten zunächst, der Übergriff habe sich 5 oder 10 Tage vor der Ausreise ereignet. Auf Nachfrage gaben Sie an, es seien doch 10 Tage gewesen. Später führten Sie jedoch aus, erst 10 Tage nach dem Übergriff Anzeige bei der Polizei erstattet zu haben, dies wiederum sei 2 Tage vor der Ausreise gewesen. Sie haben also auch in diesem Zusammenhang Angaben getätigt, die nicht miteinander in Einklang zu bringen sind, ohne dass es Ihnen auf Vorhalt gelungen wäre, diese Diskrepanzen aufzuklären. Weiters behaupteten Sie, in dieser Zeit nicht mehr behelligt worden zu sein, weil Sie sich durchgängig am Arbeitsplatz aufgehalten hätten. Zugleich wollen Sie in dieser Zeit aber auch Anzeige in Kabul erstattet haben, woraus sich schlüssig ergibt, dass Sie die Büroräumlichkeiten sehr wohl verlassen haben mussten.

Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass Sie bereits im Ansatz nicht glaubhaft machen konnten, in einer beruflichen Position gearbeitet zu haben, die eine Gefährdung durch die Taliban bzw. „islamischen Emirate“ auch nur im Geringsten glaubhaft machen würde, und dass Sie weiters auch nicht glaubhaft machen konnten, im Zusammenhang mit dieser Tätigkeit einer Verfolgung bzw. Gefährdung seitens der Taliban bzw. „islamischen Emirate“ ausgesetzt gewesen zu sein. Ihrem Vorbringen ist daher zur Gänze die Glaubwürdigkeit abzusprechen.

Darüber hinaus haben Sie sich in Ihrem Heimatstaat nicht politisch engagiert und hatten nach eigenen Angaben auch nie persönlich Probleme mit den Behörden Ihres Heimatlandes.

Eine Gefährdungslage für den Fall der Rückkehr wurde daher nicht glaubhaft gemacht und es waren die entsprechenden Feststellungen zu Ihrer Rückkehrsituation zu treffen.

Die Feststellungen zur Sicherheitslage und der Möglichkeit, sich in Kabul niederzulassen, beruhen auf den Länderfeststellungen der Staatendokumentation.

Im Fall der Rückkehr sind Sie mit den kulturellen Rahmenbedingungen in Afghanistan vertraut, da Sie Ihr gesamtes Leben in Afghanistan verbracht haben. Sie selbst verfügen über Schulbildung und Berufserfahrung, was Ihnen die Arbeitssuche im Fall der Rückkehr wesentlich erleichtern wird. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass Ihre Familie Sie auch finanziell unterstützen kann.

Die Feststellung zu den Erwerbsmöglichkeiten und der Grundversorgung in Ihrem Herkunftsland wurde auch anhand der Länderfeststellungen getroffen.“

1.4.    Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde. Er brachte im Wesentlichen vor, dass die Behörde auf Textbausteine benutzte und nicht auf seinen Fall eingegangen worden wäre. Es sei nicht richtig, dass er „keine ausreichenden Informationen über die fluchtauslösenden Ereignisse gemacht habe“, dies ihm die Behörde vorgehalten habe. Auf die konkrete Situation des Beschwerdeführers wurde in einem Absatz (Seite 2 von 19) eingegangen und darin festgehalten, dass er in einer Sicherheitsfirma gearbeitet habe und deswegen von den Taliban verfolgt worden wäre. Eine konkrete Replik auf den Inhalt des Bescheides wurde unterlassen. Aktuellere Tatsachen wurden ebenso nicht vorgebracht. Auf folgende Berichte wurde hingewiesen (bzw. der Text dieser Bericht ein die Beschwerde eingebracht): UNHCR-Richtlinie, ohne Datum, beginnend auf Seite 5 und endet auf Seite 11., Bericht in Englisch von der Internetseite www.efe.com, beginnend auf Seite 12 und endet auf Seite 13, Update der Schweizer Flüchtlingshilfe, ein Bericht des Spiegels, online auf drei Seiten, EASO Bericht vom Dez 2016 auf einer Seite.

1.5.    Mit Bescheid vom 02.01.2018 wurde der Erstbescheid wegen eines Schreibfehlers berichtigt. Seitdem ist die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung zulässig (Änderung des Spruchpunktes V).

1.6.    Am 02.04.2020 stellte der Beschwerdeführer einen Asylantrag in Deutschland.

1.7.    Am 20.04.2020 (OZ 7) entschied das Verwaltungsgericht Giessen, Deutschland, dass das Asylverfahren eingestellt wird. Am 07.10.2020 wurde ein Laissez Passer zur Rückführung nach Österreich auf der Grundlage des Dublin-Verfahrens ausgestellt. Der Beschwerdeführer führte folgende Aliasnamen:

XXXX

XXXX

XXXX

XXXX 1.8. Am 16.10.2020 wurde eine Überstellung nach Österreich bekannt gegeben (OZ 8). Am 14.10.2020 wurde mitgeteilt, dass die Überstellung nicht stattfindet (OZ 9).

1.9.    Für den 27.11.2020 wurde eine mündliche Verhandlung vor dem BvWG für den anberaumt. Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurden ihm die ua aktuellen Länderberichte zugesandt. Ihm wurde Gelegenheit geboten binnen 14 Tagen dazu Stellung zu nehmen. Eine Stellungnahme seitens des Beschwerdeführers, aber auch seitens der belangten Behörde, welcher die Berichte ebenso zugesandt wurden, langten nicht ein. Es handelt sich um folgende Länderberichte:

1.9.1.  Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019 mit Stand 29.06.2020 (LIB),

1.9.2.  UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR), https://www.ecoi.net/en/file/local/1449845/90_1542006632_unhcr-2018-08-30-afg-richtlinien.pdf (Zugriff: 17.07.2020)

1.9.3.  EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO) https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/Country_Guidance_Afghanistan_2019.pdf (Zugriff: 17.06.2020)

1.9.4.  ecoi.net Themendossier zu Afghanistan: „Sicherheitslage und die soziökonomische Lage in Herat und in Masar-e Scharif“ vom 26.05.2020 (ECOI Herat und Masar-e Sharif)

1.9.5.  ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif) https://www.ecoi.net/de/dokument/2030482.html (Zugriff am 17.07.2020)

1.9.6.  ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat)

1.9.7.  Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 (Landinfo 1)

1.9.8.  Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban“ vom 29.06. 2017 (Landinfo 2)

1.9.9.  ACCORD Afghanistan: Covid-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen; Reaktionen der Taliban, Stigmatisierung) vom 05.06.2020, https://www.ecoi.net/de/dokument/2031621.html (Zugriff: 17.07.2020).

1.10.   Am 12.11.2020 legte die Rechtsvertreterin die Vollmacht nieder und bringt vor, dass sie den Beschwerdeführer nicht antreffen konnte.

1.11.   Am 13.11.2020 (OZ 14) wurde die örtliche Polizeiinspektion mit Erhebungen am letzten Wohnort ersucht. Sie berichtete am 26.11.2020 das er dort nicht angetroffen werden konnte und auch der Unterkunftgeber keine Kenntnis über dessen Aufenthalt habe. Seine letzte Wohnadresse war XXXX , wo er bis zum 20.08.2019 angemeldet war. Von dort ist er nach unbekannt verzogen. Dies ergibt sich auch durch eine Nachsicht im zentralen Melderegister.

1.12.   Am 26.11.2020 teilte die belangte Behörde mit, dass der Beschwerdeführer am 02.04.2020 in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat und eine Rückführung nach Österreich am 16.10.2020 wegen dessen Einspruch nicht vollstreckt werden konnte.

1.13.   Die Verhandlung wurde in der Folge für den 27.11.2020 abgesagt.

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Der entscheidungswesentliche Sachverhalt steht fest!

2.       Feststellungen

2.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist ein volljähriger afghanischer Staatsangehöriger. Er trägt den im Erkenntniskopf genannten Namen und Asylnamen und ist am dort angeführten Datum geboren. Er ist sunnitischer Muslim und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Seine Muttersprache ist zwar Dari, er spricht aber zudem Englisch und Deutsch. Er ist ledig und kinderlos.

Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Baghlan in Kunduz geboren und wuchs auch dort auf. Er lebte die letzten beiden Jahre in Kabul, von wo er auch geflohen ist.

Es kann nicht festgestellt werden, dass er in Kabul in einer Sicherheitsfirma gearbeitet hat. Er hat in der Provinz Baghlan noch eine Mutter, eine Schwester und einen Onkel.

Der Beschwerdeführer reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 22.04.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der Beschwerdeführer hat den Umzug nach Deutschland der Behörde bzw dem VwG nicht mitgeteilt und seine Mitwirkungspflicht verletzt. Er stellte am 02.04.2020 seinen zweiten Asylantrag innerhalb der EU. Die Durchführung der Rücküberstellung nach Dublin im Oktober 2020 musste abgesagt werden, nachdem der Beschwerdeführer ein Rechtsmittel gegen die Rücküberstellung nach Österreich gestellt hat.

Der Beschwerdeführer ist gesund.

2.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat einer systematischen Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, dh. wegen der Zugehörigkeit zu einer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung ausgesetzt war oder ihm in Falle einer Rückkehr derartiges droht.

Auch sonst haben sich keine Hinweise für eine dem Beschwerdeführer in Afghanistan individuell drohende Verfolgung ergeben.

2.3.    Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrolle nach Österreich ein und befindet sich seit seiner Antragstellung im April 2016 auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet.

Er ist in Österreich vermutlich 2019 untergetaucht und stellte im April 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz in Deutschland.

Der Beschwerdeführer hat keinen Deutschkurs abgeschlossen und betätigte sich in an seinem Wohnort in NÖ bei der örtlichen Gemeinde. Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Familienangehörigen. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

2.4.    Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat

Dem Beschwerdeführer könnte sich bei einer Rückkehr nach Kabul niederlassen. Der Beschwerdeführer ist jung, anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.

Der Beschwerdeführer ist mit den kulturellen Gepflogenheiten und der Sprache seines Herkunftsstaates vertraut. Er hat zwei Jahre in Kabul gewohnt und ist mit der Stadt vertraut.

Er hat die Schule 12 Jahre besucht und zwei Jahre Englisch in Kabul studiert. Er ist Tadschike und hat in Österreich bei der Gemeinde im handwerklichen Bereich gearbeitet.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Kabul kann der Beschwerdeführer grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Herat oder Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten.

Es ist dem Beschwerdeführer möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Kabul Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Als gesunder junger Mann, droht ihm auch keine Gefahr einer tödlichen Erkrankung im Falle einer Ansteckung durch das Corona-Virus.

2.5.    Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan

Die nachfolgenden Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf in den eingebrachten Länderberichten (sh dazu Punkt Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.).

Die seitens des Beschwerdeführers mit der Beschwerde vom 21.12.2017 eingebrachten Länderberichte sind nicht mehr aktuell und von den seitens des VwG eingebrachten Länderberichten auch inhaltlich überholt worden.

2.5.1.  Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 1).

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen), andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (LIB, Kapitel 2).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 2)

2.5.2.  Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers:

2.5.2.1. Kabul

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (CSO 2019; vgl. IEC 2018).

Laut dem UNODC Opium Survey 2018 verzeichnete die Provinz Kabul 2018 eine Zunahme der Schlafmohnanbaufläche um 11% gegenüber 2017. Der Schlafmohnanbau beschränkte sich auf das Uzbin-Tal im Distrikt Surubi (UNODC/MCN 11.2018).

Kabul-Stadt – Geographie und Demographie

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 Personen für den Zeitraum 2019-20 (CSO 2019). Die Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten. Einige Quellen behaupten, dass sie fast 6 Millionen beträgt (AAN 19.3.2019). Laut einem Bericht, expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile – auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.3.2019) – zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die afghanische zentrale Statistikorganisation (Central Statistics Organization, CSO) schätzt die Bevölkerung der Provinz Kabul für den Zeitraum 2019-20 auf 5.029.850 Personen (CSO 2019). Sie besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).

Abb.1: Kabul, Police Distrikts (Darstellung der Staatendokumentation)

(Quelle: BFA 13.2.2019)

Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014). In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit internationalen und nationalen Passagierflügen bedient wird (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).

Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).

Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen: Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine disruptive Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.3.2019).

Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalen oder ethnischen Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018).

Aufgrund eben dieser öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.9.2017). So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem, Hilfsorganisationen und internationale Organisationen (RFERL 2.9.2019; vgl. FAZ 2.9.2019) sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind (FAZ 2.9.2019). Die Anlage wird stark von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern gesichert (AJ 3.9.2019). Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil, der nicht unweit des Green Villages liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden – so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und andere britische Einrichtungen (RFERL 2.9.2019).

In Bezug auf die Anwesenheit von staatlichen Sicherheitskräften liegt die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train, Advise and Assist Command – Capital (TAAC-C) untersteht. Der Distrikt Surubi fällt in die Zuständigkeit des 201. ANA Corps (USDOD 6.2019). Darüber hinaus wurde eine spezielle Krisenreaktionseinheit (Crisis Response Unit) innerhalb der afghanischen Polizei, um Angriffe zu verhindern und auf Anschläge zu reagieren (LI 5.9.2018).

Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet (TN 26.3.2019; vgl. SAS 26.3.2019). Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung (WOR 10.9.2018).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Der folgenden Tabelle kann die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle bzw. Todesopfer für die Provinz Kabul gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) für das Jahr 2019 und das erste Quartal 2020 entnommen werden (Quellenbeschreibung s. Disclaimer, hervorgehoben: Distrikt der Provinzhauptstadt): [...]

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2020).

Die afghanischen Sicherheitskräfte führten insbesondere im Distrikt Surubi militärische Operationen aus der Luft und am Boden durch, bei denen Aufständische getötet wurden (KP 27.3.2019; vgl. TN 26.3.2019, SAS 26.3.2019, TN 23.10.2018,. KP 23.10.2018, KP 9.7.2018). Dabei kam es unter anderem zu zivilen Opfern (TN 26.3.2019; vgl. SAS 26.3.2019). Außerdem führten NDS-Einheiten Operationen in und um Kabul-Stadt durch (TN 7.8.2019; vgl. PAJ 7.7.2019, TN 9.6.2019, PAJ 28.5.2019). Dabei wurden unter anderem Aufständische getötet (TN 7.8.2019) und verhaftet (TN 7.8.2019; PAJ 7.7.2019; vgl TN 9.6.2019, PAJ 28.5.2019), sowie Waffen und Sprengsätze konfisziert (TN 9.6.2019; vgl. PAJ 28.5.2019).

2.5.3.  Regierungsfeindliche Gruppen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

2.5.3.1. Taliban

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4)

2.5.3.2. Rekrutierung durch die Taliban

Menschen schließen sich den Taliban zum einen aus materiellen und wirtschaftlichen Gründen zum anderen aus kulturellen und religiösen Gründen an. Die Rekruten sind durch Armut, fehlende Chancen und die Tatsache, dass die Taliban relativ gute Löhne bieten, motiviert. Es spielt auch die Vorstellung, dass die Behörden und die internationale Gemeinschaft den Islam und die traditionellen Standards nicht respektieren würden, eine zentrale Rolle, wobei sich die Motive überschneiden. Bei Elitetruppen sind beide Parameter stark ausgeprägt. Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junger Männer, deren Motiv der Wunsch nach Rache, Heldentum gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen sind (Landinfo 2, Kapitel 4.1). Die Billigung der Taliban in der Bevölkerung ist nicht durch religiöse Radikalisierung bedingt, sondern Ausdruck der Unzufriedenheit über Korruption und Misswirtschaft (Landinfo 2, Kapitel 4.1.1).

Die Taliban sind aktiver als bisher bemüht Personen mit militärischem Hintergrund sowie mit militärischen Fertigkeiten zu rekrutieren. Die Taliban versuchen daher das Personal der afghanischen Sicherheitskräfte auf ihre Seite zu ziehen. Da ein Schwerpunkt auf militärisches Wissen und Erfahrungen gelegt wird, ist mit einem Anstieg des Durchschnittsalters zu rechnen Landinfo 2, Kapitel 3). Durch das Anwerben von Personen mit militärischem Hintergrund bzw. von Mitgliedern der Sicherheitskräfte erhalten Taliban Waffen, Uniformen und Wissen über die Sicherheitskräfte. Auch Personen die über Knowhow und Qualifikationen verfügen (z.B. Reparatur von Waffen), können von Interesse für die Taliban sein (Landinfo 2, Kapitel 5.1).

Die Mehrheit der Taliban sind Paschtunen. Die Rekrutierung aus anderen ethnischen Gruppen ist weniger üblich. Um eine breitere Außenwirkung zu bekommen, möchte die Talibanführung eine stärkere multiethnische Bewegung entwickeln. Die Zahl der mobilisierten Hazara ist unerheblich, nur wenige Kommandanten der Hazara sind mit Taliban verbündet. Es ist für die Taliban wichtig sich auf die Rekruten verlassen zu können (Landinfo 2, Kapitel 3.3).

Die Taliban waren mit ihrer Expansion noch nicht genötigt Zwangsmaßnahmen zur Rekrutierung anzuwenden. Zwangsrekrutierung ist noch kein herausragendes Merkmal für den Konflikt. Die Taliban bedienen sich nur sehr vereinzelt der Zwangsrekrutierung, indem sie männliche Dorfbewohner in von ihnen kontrollierten Gebieten, die mit der Sache nicht sympathisieren, zwingen, als Lastenträger zu dienen (Landinfo 2, Kapitel 5.1). Die Taliban betreiben eine Zwangsrekrutierung nicht automatisch. Personen die sich gegen die Rekrutierung wehren, werden keine rechtsverletzenden Sanktionen angedroht. Eine auf Zwang beruhende Mobilisierungspraxis steht auch den im Pashtunwali (Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen) enthaltenen fundamentalen Werten von Familie, Freiheit und Gleichheit entgegen. Es kommt nur in Ausnahmefällen und nur in sehr beschränktem Ausmaß zu unmittelbaren Zwangsrekrutierungen durch die Taliban. Die Taliban haben ausreichend Zugriff zu freiwilligen Rekruten. Zudem ist es schwierig einen Afghanen zu zwingen, gegen seinen Willen gegen jemanden oder etwas zu kämpfen (Landinfo 2, Kapitel 5.1).

Im Kontext Afghanistans verläuft die Grenze zwischen Jungen und Mann fließend. Ausschlaggebend für diese Beurteilung sind Faktoren wie Pubertät, Bartwuchs, Mut, Unabhängigkeit, Stärke und die Fähigkeit die erweiterte Familie zu repräsentieren. Der Familienälteste ist das Oberhaupt, absolute Loyalität gegenüber getroffenen Entscheidungen wird vorausgesetzt. Kinder unterstehen der Obrigkeit der erweiterten Familie. Es stünde im Widerspruch mit der afghanischen Kultur, würde man Kinder gegen den Wunsch der Familie und ohne entsprechende Entscheidung des Familienverbandes aus dem Familienverband „herauslösen“ (Landinfo 2, Kapitel 6).

2.5.4.  Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Außerdem wurde Afghanistan für den Zeitraum 2018-2020 erstmals zum Mitglied des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen gewählt. Die Menschenrechte haben in Afghanistan eine klare gesetzliche Grundlage. Die 2004 verabschiedete afghanische Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog. Darüber hinaus hat Afghanistan die meisten der einschlägigen völkerrechtlichen Verträge – zum Teil mit Vorbehalten – unterzeichnet und/oder ratifiziert. Die afghanische Regierung ist jedoch nicht in der Lage, die Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten. Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken in Anliegen von Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen den Zugang der Bürger zu Justiz ein. In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

2.5.5.  RückkehrerInnen

Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Es gibt jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (LIB, Kapitel 22).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB, Kapitel 22).

2.5.6.  COVID-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen; Reaktionen der Taliban, Stigmatisierung)

Am 3. Juni 2020 berichtet UNOCHA, dass in Afghanistan 15.451 Personen positiv auf Covid-19 getestet worden seien. Etwa 1.522 Personen hätten sich bislang von der Krankheit erholt und 297 Personen seien verstorben. Insgesamt seien 42.273 Personen getestet worden. Afghanistan habe 37,6 Millionen EinwohnerInnen. Unter den Covid-19-Toten befänden sich 13 MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens. Über fünf Prozent der bestätigten Covid-19 Fälle seien unter MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens aufgetreten. Großteils seien Personen zwischen 40 und 69 Jahren an Covid-19 verstorben (ACCOR Covid-19).

Am 2. Mai 2020 habe die afghanische Regierung angekündigt, den landesweiten Lockdown auszuweiten. Die bestehenden landesweiten Maßnahmen würden einer Überprüfung unterzogen. Die Regierung in Kabul habe am 26. Mai 2020 unterdessen einen neuen Plan zur Lockerung des Covid-19-Lockdowns vorgestellt, der einen „Gerade-Ungerade-Ansatz“ („odds-and-evens“) vorsehe, um den Menschen eine Rückkehr an den Arbeitsplatz und andere Aktivitäten zu ermöglichen. Dies erfolge etwa mithilfe der letzten Ziffern der Nummerntafel von Privatautos. Friederike Stahlmann berichtet in ihrem Vortrag vom Mai 2020 über verschiedene Konsequenzen bei Nicht-Einhaltung der Lockdown-Regelungen. Manche Polizisten würden Personen verprügeln oder festnehmen oder Geldstrafen verhängen. Manchmal würden Anzeigen bis vor die Staatsanwaltschaft kommen und in anderen Fällen würde die Nicht-Einhaltung einfach ignoriert. Auch habe Stahlmann von Bestechung gehört, um die Regelungen umgehen zu können. Obdachlose sollen zudem aus Kabul weggebracht worden sein, Stahlmann wisse aber nicht, wohin, und ob diese etwa Zelte erhalten hätten (ACCOR Covid-19).

Die Kapazitäten Afghanistans zur Bekämpfung des Coronavirus seien einem Bericht des Central Asia-Caucasus Analyst vom 26. Mai 2020 zufolge eingeschränkt. Die Gesundheitsinfrastruktur sei schon immer fragil und schlecht auf die Bedürfnisse der Bevölkerung vorbereitet gewesen. Der Mangel an Einrichtungen sei nun umso mehr spürbar. Ein akuter Mangel an Testsets, Medikamenten und persönlicher Schutzausrüstung (personal protection equipment, PPE) lege die afghanischen Kapazitäten zum Kampf gegen Covid-19 lahm. Auch der andauernde Krieg wirke sich auf die Kapazitäten zur Bekämpfung des Coronvirus aus. Die Reichweite der Regierung für Tests und Behandlung auf von Aufständischen kontrollierte Gebiete sei aufgrund der andauernden Angriffe der Taliban und des Islamischen Staates stark eingeschränkt. Zusätzlich sei die Regierung auf die Unterstützung der Sicherheitskräfte zur Umsetzung der Lockdownmaßnahmen sowie den Transport grundlegender Güter angewiesen. Jedoch könnten diese nicht zur Bekämpfung des Coronavirus eingesetzt werden, solange Angriffe von Aufständischen weiter andauern würden (ACCOR Covid-19).

Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF schätzt Ende Mai 2020, dass in Afghanistan 11,9 Millionen Menschen vom Entzug der Nahrungsmittelsicherheit bedroht sein könnten, was wiederum zum Anstieg der multidimensionalen Armut (Einzelindikatoren zur Bemessung: Bildung, Gesundheit und Lebensstandard, Anm. ACCORD) von 51,7 auf 61,4 Prozent führen könnte. Berichte würden UNOCHA zufolge zudem darauf hinweisen, dass die Lockdown-Maßnahmen weiterhin Auswirkungen auf die Mobilität humanitärer Organisationen hätten, Hilfslieferungen verzögern würden und Auswirkungen auf den Zugang zu humanitärer Hilfe hätten. Humanitäre Partnerorganisationen würden jedoch weiterhin landesweit aktiv auf Krisen reagieren (ACCOR Covid-19).

Einem Vortrag von Friederike Stahlmann im Mai 2020 zufolge seien RückkehrerInnen aufgrund der Covid-19-Maßnahmen mit fehlenden Übernachtungsmöglichkeiten konfrontiert. Hotels und Teehäuser seien geschlossen. Stahlmann wisse von drei im März 2020 abgeschobenen Personen, die obdachlos geworden seien. Stahlmann erwähnt hinsichtlich RückkehrerInnen zudem, dass eine Flucht nach Europa sehr teuer sei und mit besonderen wirtschaftlichen Risiken verbunden sei, da viele dafür ihr sämtliches Hab und Gut verkauft hätten. Daher seien bei einer Rückkehr oft keine finanziellen Ressourcen mehr vorhanden, auf die sie zurückgreifen könnten. Zudem bedeute die regelmäßige Verweigerung von Familien Betroffene aufzunehmen, dass sie im Zweifelsfall nicht auf ein in Krankheitsfällen essentielles Betreuungsnetzwerk zählen könnten. Selbst wenn sie finanzielle Unterstützung hätten, sei so selbst die Beschaffung von Medikamenten und Zugang zu Pflege unrealistisch (ACCOR Covid-19).

3.       Beweiswürdigung

3.1.    Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Staats-, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit des Beschwerdeführers gründen sich auf seine diesbezüglich übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in den beiden Verfahren; das Bundesverwaltungsgericht sieht keine Veranlassung, an diesen Angaben zu zweifeln, weil diese im Laufe der Verfahren gleichgeblieben sind und mit den Länderberichten zu Afghanistan im Einklang stehen.

Er führt, seitdem er sich in Deutschland aufhält, mehrere Aliasnamen und Aliasgeburtsdaten, die er offensichtlich vor den Behörden verwendet hat. Deswegen wurde der Spruch auch auf diese Namen und Daten erweitert. Die zur Identität des Beschwerdeführers (Name und Geburtsdatum) getroffenen Feststellungen gelten ausschließlich für die Identifizierung des Beschwerdeführers im Verfahren. Die Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Geburtsort sowie seinen Aufenthaltsorten in Afghanistan, der Ausreise mit seiner Familie aus Afghanistan in den Iran, seinem schulischen sowie beruflichen Werdegang, seiner Ausreise aus dem Iran und seinen Familienangehörigen sind chronologisch stringent und vor dem Hintergrund der in Afghanistan bestehenden sozio-ökonomischen Strukturen sowie der Länderfeststellungen plausibel; die vom Beschwerdeführer hierzu getätigten Angaben waren im Kern widerspruchsfrei und sind daher nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes glaubhaft.

Das nicht festgestellt werden kann, dass er in einer Sicherheitsfirma gearbeitet hat, ergibt sich ausfolgender Würdigung: (i) Er meinte, dass er als „Teamleader“ in dieser Firma gearbeitet habe. Er hätte die Guards zu den Firmen zugeteilt. Er konnte aber keine einzige Firma nennen, zu denen die Gurads von ihm zugeteilt oder „bereitgestellt“ wurden. Wäre er tatsächlich Teamleader gewesen, oder wäre er nur tatsächlich auch nur Guard in dieser Firma gewesen, dann hätte er zumindest eine Firma nennen können. Dies konnte er vor der Behörde nicht. Zudem legte er Lichtbilder vor, die ihm am Schreibtisch vor einem Laptop zeigen. Vor dem Schreibtisch offenbar zwei Guards, die ihn anblickten. Hätte er tatsächlich solch eine Position in dieser Firma, wie auf den Lichtbildern abgebildet, hätte er vor der Behörde nähere Angaben über die Firmen und über die Örtlichkeiten sagen können. Er brachte jedoch vor, dass dies alles sein Chef gemacht hätte. Zudem wirkten die Bilder einstudiert und gestellt, dies auch durch den Dienstausweis bestätigt wird, der zwar in Englisch abgefasst wurde, jedoch grobe Rechtsschreib- und Grammatikfehler aufweise. Die vorgelegte Dienstbestätigung zudem nicht einmal ein Datum auf. Aus all dem kann mit Sicherheit geschlossen werden, dass die Vorlage von diesen „Beweisen“ vorgetäuscht sind um ihn in eine „gefährliche“ Position darzustellen, sodass er darauf eine Geschichte aufbauen könne, die ihm für die Taliban bzw den IS als Angriffsziel erscheinen lassen könnte.

Das er in Baghlan noch Familienangehörige hat, ergibt sich aus seinen Angaben vor der Behörde

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen Aussagen. Das Datum der Antragstellung ergibt sich aus dem Akteninhalt.

Das er in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, ergibt sich aus dem Verwaltungsakt (sh dazu OZ 13).

3.2.    Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer brachte als fluchtauslösendes Ereignis im Wesentlichen vor, dass er von den IS verfolgt worden wäre. Nachdem jedoch die Tatsache, dass er selbst in keiner Sicherheitsfirma gearbeitet hat, nicht glaubhaft war, steht für das Gericht zwei Punkte fest: (i) Der Beschwerdeführer selbst ist nicht glaubwürdig, denn wenn er einmal so weit geht, dem Gericht gefälschte Ausweise oder falsche Fotos vorzulegen um ihn in einer für die IS/Taliban auffälligen Position darstellen, kann das Gericht mit gutem Grund davon ausgehen, dass er die Darstellungen, die er auf diese – nicht vorhandene Position stützt – unglaubhaft sind. Die wäre sie auch, wenn er glaubhaft hätte nachweisen können, dass er Sicherheitsmitarbeiter gewesen wäre, die die darauf aufbauende Geschichte ist in zwei zentralen Punkt vollkommen unglaubwürdig. (ii) Er brachte vor, dass er, nachdem er eine halbe Stunde von zumindest drei Taliban/IS geschlagen worden wäre, er sich am Boden befand und diese ihn mit den Füßen getreten hätten, nicht in das Spital gehen musste. Vor dem Hintergrund der Lebenserfahrungen ist die vollkommen unglaubwürdig. Wenn man eine halbe Stunde mit den Füßen getreten wird, hat man mit Sicherheit größere Verletzungen, die eine ärztliche Versorgung notwendig machen. Diese Darstellungen sind nicht nachvollziehbar. Zudem brachte er vor, dass er nach dieser Tat und vor der Flucht sich im Büro aufgehalten habe, wo er auch gewohnt hätte. Das würde bedeuten, dass er von den Taliban/IS mit dem Tode bedroht worden wäre, er von diesen eine halbe Stunde misshandelt worden wäre, und er dann genau dort zurückkehrt weswegen er von den Taliban/IS mit dem Tode bedroht wurde. Warum der BF nicht bei einem Freund wohnte, oder gar nach Hause fuhr, ist vollkommen unglaubwürdig, vor allem auch weil diese Bedrohung für ihn so groß war aus Afghanistan zu flüchten. Wäre er tatsächlich bedroht worden, nämlich in dem Ausmaß die ihm zur Flucht aus seinem Heimatland gezwungen hätte, in eine unsichere Zukunft, dann hätte er wohl keinen Fuß mehr in das Büro gesetzt.

Zusammengefasst waren sämtliche Angaben des Beschwerdeführers im Zusammenhang mit seinen fluchtauslösenden Gründen und einer bestehenden Verfolgungsgefahr bei der Rückkehr nach Afghanistan sehr vage, oberflächlich, nicht nachvollziehbar, abstrakt, stützten sich auf bloße Vermutungen und daher letztlich unglaubwürdig. Der Beschwerdeführer hat somit mit seinem Vorbringen insgesamt keine konkreten Erlebnisse oder (schlechte) Erfahrungen vorgebracht, welche eine besondere Gefährdung seiner Person tatsächlich nahelägen würden und deshalb war folglich festzustellen, dass der Beschwerdeführer in seinem Heimatland keiner konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt war oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr zu befürchten hätte.

3.3.    Zu den Feststellungen hinsichtlich seines Privatlebens:

Diese Feststellungen ergeben sich aus dem Verwaltungsakt.

3.4.    Zu den Feststellungen zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zu den Folgen einer Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Herkunftsprovinz Kabul ergeben sich aus den oben angeführten Länderberichten.

Die Feststellung zur Anpassungsfähigkeit und Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers ergibt sich daraus, dass er bereits aus seinem Heimatdorf ausgezogen ist und in Kabul zwei Jahre studiert hat. Zudem ist er in Österreich untergetaucht und hat in Deutschland einen neuerlichen Asylantrag gestellt. Es sind im Verfahren keine Umstände hervorgekommen, die gegen eine grundsätzliche Anpassungsfähigkeit oder gegen eine Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers sprechen. Auch eine Erkrankung konnte ausgeschlossen werden.

Dass es dem Beschwerdeführer möglich sein wird in Kabul aufzubauen, und sei es auch unter Anwendung entsprechender Anstrengung und bei zunächst sehr schwierigen Bedingungen, kann das Gericht aus einer Gesamtschau des Beweismaterials, insbesondere den Länderfeststellungen schließen. Bei dieser Gesamtschau zu berücksichtigen ist zunächst auch der Umstand, dass bereits die mit Indizwirkung ausgestatteten UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 zwar grundsätzlich davon ausgehen, dass Rückkehrer dann eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative vorfinden, wenn sie im "voraussichtlichen Neuansiedlungsgebiet Zugang zu einem Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gemeinschaft" haben, dass diese Richtlinien aber gerade für den Fall von

"alleinstehende[n], leistungsfähige[n] Männer[n] ... im

erwerbsfähigen Alter ohne ... besondere Gefährdungsfaktoren" eine

Ausnahme von dieser Grundannahme festhalten und ausführen, dass diese Personengruppe "unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in städtischen und halbstädtischen Gebieten leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Lebensgrundlagen zur Sicherung der Grundversorgung bieten und die unter der tatsächlichen Kontrolle des Staates stehen" (UNCHR, 30.08.2018, deutsche Fassung S. 125, vgl. https://www.ecoi.net/en/file/local/1449845/90_1542006632_unhcr-2018-08-30-afg-richtlinien.pdf). Beim Beschwerdeführer handelt es sich um eine Person, die in diese Ausnahmekategorie fällt, außerdem hat er familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan. Seine Familie könnte ihn durch Zusendung von Geld unterstützten. Das Übersenden von Geld ist durch das Bankensystem möglich. Auch unter der Annahme der Verweigerung einer Unterstützung durch die Familie, kann der Beschwerdeführer gemäß den Länderfeststellungen auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.

Aus den Länderinformationen ergibt sich, dass die Stadt Kabul als relativ sicher gelten und unter der Kontrolle der Regierung steht. Die Erreichbarkeit ist durch den internationalen Fluchthafen gegeben. Die Versorgung der Bevölkerung ist in diesen Städten grundlegend gesichert.

Der Beschwerdeführer ist mit der afghanischen Kultur und den afghanischen Gepflogenheiten sozialisiert. Er kann sich daher in de

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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