TE Bvwg Beschluss 2020/12/9 L511 2235307-1

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Veröffentlicht am 09.12.2020
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Entscheidungsdatum

09.12.2020

Norm

BBG §40
BBG §41
BBG §45
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch


L511 2235307–1/3E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a JICHA als Vorsitzende und den Richter Dr. DIEHSBACHER sowie den fachkundigen Laienrichter RR PHILIPP als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice Landesstelle XXXX vom 09.04.2020, Zahl: OB XXXX , betreffend Abweisung des Antrags auf Ausstellung eines Behindertenpasses, in nicht öffentlicher Sitzung beschlossen

A)

In Erledigung der Beschwerde wird der Bescheid vom 09.04.2020, Zahl: XXXX , behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice, Landesstelle XXXX , zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang und Verfahrensinhalt

1.       Verfahren vor dem Sozialministeriumservice [SMS]

Der Beschwerdeführer stellte am 19.11.2019 einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses, sowie für den Fall, dass die Aktenlage die Vornahme von Zusatzeintragungen rechtfertige, die Aufnahme der entsprechenden Zusatzeintragungen in den Behindertenpass (Aktenzahl der elektronisch übermittelten Aktenteile [AZ] 2.6). Dem Antrag waren medizinische Befunde beigelegt (AZ 2.7-2.13).

1.1.    Das SMS holte in der Folge ein Sachverständigengutachten aus dem Fachgebiet der Allgemeinmedizin ein. Dieses Gutachten vom 11.02.2020 wurde auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung des Beschwerdeführers am 10.02.2020 unter Berücksichtigung der vorgelegten Befunde erstattet. Als Ergebnis der Begutachtung wurden die Funktionseinschränkungen den entsprechenden Leidenspositionen nach der Einschätzungsverordnung zugeordnet und ein Gesamtgrad der Behinderung [GdB] von 30 v.H. sowie die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel festgestellt (AZ 2.26).

1.2.    Mit Bescheid des SMS vom 09.04.2020, Zahl: XXXX , wurde der Antrag des Beschwerdeführers vom 19.11.2019 gemäß §§ 40, 41 und 45 BBG abgewiesen, da der Beschwerdeführer mit einem Grad der Behinderung von 30 % die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses nicht erfülle (AZ 2.27).

1.3.    Mit Schreiben vom 20.05.2020 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde [Bsw] gegen den oben bezeichneten Bescheid des SMS (AZ 1.2).

Darin führt der Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, seine körperlichen Beschwerden hätten sich verschlimmert, eine Infiltration im Bereich eines Wirbels habe keine Verbesserung erreicht und weitere Maßnahmen hätten aufgrund der Beschränkungen der durch das Coronavirus hervorgerufenen Pandemie nicht stattfinden können.

2.       Die belangte Behörde legte dem Bundesverwaltungsgericht [BVwG] am 23.09.2020 die Beschwerde samt Auszügen aus dem Verwaltungsakt in elektronischer Form vor (Ordnungszahl des gegenständlichen Gerichtsaktes OZ 1 [=AZ 1.1-1.3, 2.1 -2.27]) und teilte mit, dass der Beschwerdeführer erst nach der Frist für die Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung weitere Befunde vorgelegt habe.

II.      Zu A) Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       entscheidungswesentliche Feststellungen

1.1.    Der Beschwerdeführer stellte am 19.11.2019 erstmalig einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses (AZ 2.6).

1.2.    Das für den Bescheid herangezogene Sachverständigengutachten (AZ 2.26) erfolgte durch einen Allgemeinmediziner, der folgende Funktionseinschränkungen festtellt:

Lfd. Nr.

Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktions-einschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:

Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:

Pos.Nr.

Gdb %

1

Gelenksentzündungen bei Psoriasisarthritis wechselnde Gelenksbeschwerden, derzeit etwas Schmerzen Knie und Schulter links, ohne Funktionseinschränkungen, inkl. Sensibilitätsminderung Füsse bei small fibre Polyneuropathie ohne Lähmungen

02.02.02

30

2

Abnützungen Wirbelsäule

bei flachen Discusprotrusionen C4-6 wiederholt Schmerzen, geringe Funktionseinschränkung

02.01.01

20

3

Schuppenflechte

derzeit frei von Psoriasisherden

01.01.01

10

4

Hypertonie

Monotherapie

05.01.01

10

5

Ohrgeräusche (Tinnitus)

leichtgradiger Tinnitus links

12.02.02

10

1.3.    Der Beschwerdeführer legte im Verfahren mehrere Befunde vor, beinhaltend ua die Diagnose chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Einflussfaktoren (AZ 2.18)

2.       Beweisaufnahme und Beweiswürdigung

2.1.    Die Beweisaufnahme erfolgte durch Einsicht in die dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Auszüge aus dem Verwaltungsverfahrensakt (OZ 1), aus denen sich auch der unter I. dargelegte Verfahrensgang ergibt. Zur Entscheidungsfindung wurden vom BVwG insbesondere folgende Unterlagen herangezogen:

?        Sachverständigengutachten aus dem Fachgebiet der Allgemeinmedizin vom 11.02.2020 (AZ 2.26)

?        Ärztlicher Befund einer interdisziplinären Schmerzambulanz vom 16.10.2019 (AZ 2.13)

?        Antrag des Beschwerdeführers (AZ 2.6)

?        Bescheid des SMS vom 09.04.2020 (AZ 2.27)

?        Beschwerde vom 20.05.2020 (AZ 1.2)

2.2.    Sämtliche Feststellungen ergeben sich ohne weitere Interpretation aus dem vorliegenden Verwaltungsakt und sind im Verfahren unbestritten geblieben.

3.       Rechtliche Beurteilung

3.1.1.  Die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichtes und die Entscheidung durch Senat ergeben sich aus § 6 Bundesgesetz über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes [BVwGG] iVm § 45 Abs. 3 und Abs. 4 Bundesbehindertengesetz [BBG]. Das Verfahren des Bundesverwaltungsgerichts ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) geregelt. Verfahrensgegenständlich sind demnach neben dem VwGVG auch die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, sowie jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen sinngemäß anzuwenden, die das SMS im erstinstanzlichen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte (§ 17 VwGVG).

3.1.2.  Die Beschwerde ist rechtzeitig und auch sonst zulässig.

3.2.    Behebung des bekämpften Bescheides gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG

3.2.1.  Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht (Z1) oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist (Z2). Gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen, in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Entsprechend der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes [VwGH] zu § 28 VwGVG verlangt es das in § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (VwGH 17.03.2016, Ra2015/11/0127; 29.04.2015, Ra2015/20/0038; 26.06.2014, Ro2014/03/0063 RS29).

3.2.2.  Das SMS stützt sich im vorliegenden Fall ausschließlich auf das Gutachten aus dem Fachgebiet der Allgemeinmedizin. Soweit aus den Befunden ersichtlich sind die beim Beschwerdeführer befundeten Leiden jedoch dem Orthopädischen bzw. Neurologischen Fachgebiet zuzuordnen. Ein Gutachten aus diesen Fachgebieten wurde aber trotz der aufliegenden Befunde nicht beauftragt.

3.2.3.  Da das SMS somit gegenständlich jene Ermittlungstätigkeiten unterlassen hat, welche für die Beurteilung des Sachverhaltes unabdingbar sind, liegen keine Ermittlungsergebnisse vor, welche das BVwG allenfalls im Zusammenhalt mit einer durchzuführenden Verhandlung ergänzen (und zu einer meritorischen Entscheidung heranziehen) könnte (vgl. dazu VwGH 09.03.2016, Ra 2015/08/0025, mwN; 10.09.2014, Ra 2014/08/0005), sondern es wäre das gesamte erforderliche Ermittlungsverfahren erstmalig durch das BVwG durchzuführen.

3.2.4.  Wenn die belangte Behörde im Rahmen ihrer amtswegigen Ermittlungspflicht iSd § 39 Abs. 2 AVG keine geeignete Schritte gesetzt hat, um die erforderlichen Beurteilungen vornehmen zu können, steht die Aufhebung des Bescheides der belangten Behörde und die Zurückverweisung der Angelegenheit an dieselbe im Einklang mit der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. dazu VwGH 17.03.2016, Ra 2015/11/0127), weshalb gegenständlich das dem BVwG gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG eingeräumte Ermessen im Sinne einer kassatorischen Entscheidung auszuüben und das Verfahren spruchgemäß an das SMS zur Durchführung eines Ermittlungsverfahrens und zur neuerlichen Entscheidung zurückzuverweisen ist.

4.       Aufgrund der Behebung des angefochtenen Bescheides konnte eine mündliche Verhandlung gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG entfallen

III.    ad B) Unzulässigkeit der Revision:
Das Verwaltungsgericht hat im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Dieser Ausspruch ist zu begründen (§ 25a Abs. 1 VwGG). Die Revision ist (mit einer hier nicht zum Tragen kommenden Ausnahme) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird (Art. 133 Abs. 4 B-VG).

Die gegenständliche Entscheidung stützt sich auf die umfangreiche Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 Abs. 3 VwGVG und bewegt sich im vom VwGH eng gesetzten Rahmen der Zulässigkeit einer Zurückverweisung. Etwa jüngst zur Zulässigkeit einer zurückverweisenden Entscheidung bei Fehlen jeglicher Ermittlungstätigkeit der belangten Behörde VwGH 30.03.2017, Ra 2014/08/0050; 09.03.2016, Ra 2015/08/0025 und VwGH 17.03.2016, Ra 2015/11/0127 sowie grundlegend VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063. Der Entfall der mündlichen Verhandlung ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz. Es ergeben sich auch keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage, so dass insgesamt die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Revision gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht vorliegen.

Schlagworte

Behindertenpass Ermittlungspflicht Grad der Behinderung Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Sachverständigengutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:L511.2235307.1.00

Im RIS seit

12.02.2021

Zuletzt aktualisiert am

12.02.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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