TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/11 W182 2214508-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.11.2020
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Entscheidungsdatum

11.11.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §54 Abs1 Z2
AsylG 2005 §55 Abs2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


W182 2214508-2/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch RA Mag. Hubert Wagner, LLM, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.10.2019, Zl. 760889000 - 180733584 / BMI-BFA_BGLD_RD, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013 idgF, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. bis III. des bekämpften Bescheides gemäß §§ 7 Abs. 1 Z 2 und Abs. 4, 8 Abs. 1 Z 2, 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, als unbegründet abgewiesen.

II. Die Spruchpunkte IV. bis VI. des bekämpften Bescheides werden behoben, eine Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 9 Abs. 2 und Abs. 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl I Nr. 87/2012 idgF, auf Dauer für unzulässig erklärt und XXXX gemäß § 54 Abs. 1 Z 2, § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 2 AsylG 2005, der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz, BGBl. I Nr. 1/1930 (B-VG), nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, gehört der tschetschenischen Volksgruppe an, reiste im August 2006 illegal mit seiner Frau und drei gemeinsamen Kindern über die Slowakei ins Bundesgebiet ein und stellte am 25.08.2006 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der BF begründete seinen Antrag bei einer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 25.08.2006 sowie einer Einvernahme beim Bundesasylamt am 29.08.2006, 06.09.2006 und 21.02.2007 im Wesentlichen damit, dass er im ersten Tschetschenienkrieg aktiv an Kampfhandlungen teilgenommen habe und im Jahr 2000 nach einer Kontrolle von russischen Soldaten verschleppt und für drei Tage angehalten und dann wieder freigelassen worden sei. Danach habe er sich bei Verwandten versteckt gehalten, weil von seiner Einheit aus dem ersten Tschetschenienkrieg zehn Personen festgenommen und ermordet worden seien. Ein Mann namens XXXX , der für die Militärpolizei oder den FSB arbeite, suche alle Personen aus seiner Einheit, weil er im ersten Tschetschenienkrieg von dieser festgenommen und später wieder freigelassen worden sei. Der BF sei bei der Festnahme persönlich damals nicht dabei gewesen und von dem Mann auch nicht gesehen worden. Weiters sei die Gattin des BF im Juni oder Juli 2006 von Russen oder Tschetschenen, welche mit den Russen zusammenarbeiten, bedroht worden. Nachgefragt, gab der BF dazu an, dass seine Frau wegen des Umstandes, dass der BF im ersten Krieg gekämpft und im zweiten Krieg seinen Cousin, der Kämpfer gewesen sei, unterstützt habe, bedroht worden sei. Der BF habe im August 2006 das Herkunftsland verlassen und sei über Polen, wo er auch einen Asylantrag gestellt, aber das Ergebnis nicht abgewartet habe, nach Österreich gereist.

Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats vom 06.12.2007, Zl. 305.533-3/6E-XIII/65/07, wurde dem BF nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.12.2007 gemäß § 3 AsylG 2005 der Status eines Asylberechtigten zuerkannt und gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 festgestellt, dass dem BF kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.

Dazu wurde im Wesentlichen festgestellt, dass der BF im ersten Tschetschenienkrieg als Kämpfer aktiv gewesen sei und sich im zweiten Krieg sein Engagement auf Unterstützungsleistungen für seinen Cousin beschränkt habe. Letzterer sei 2006 wegen seiner Tätigkeiten als Rebell im ersten und zweiten Tschetschenienkrieg von Kadyrov-Leuten ermordet worden. Nach dem BF, der seit einer Festnahme durch russische Militärs im Jahr 2000 versteckt gelebt habe, werde von russischen und tschetschenischen Kräften gesucht, einerseits wegen seiner aktiven Beteiligung am ersten Tschetschenienkrieg, andererseits wegen einer Feindschaft mit einem namentlich genannten Tschetschenen, der für eine russische Geheimdienststruktur arbeite. Diese Feindschaft gehe auf einen Vorfall im ersten Krieg zurück, als der Tschetschene, der damals auf russischer Seite gekämpft habe, von der Gruppe, in der der BF gekämpft habe, gefangen genommen worden sei und bei seiner Freilassung Rache geschworen habe. Zehn Kameraden aus der Gruppe des BF seien von ihm bereits ermordet worden. Dazu wurde in der Begründung u.a. ausgeführt, dass der persönliche Rachefeldzug eines für den russischen Geheimdienst arbeitenden Tschetschenen die ohnehin schon bestehende Gefährdungslage des BF verschärfe, wobei insbesondere auch unter Beachtung der ernsten Möglichkeit "illegaler" Verfolgungsmaßnahmen nicht mit hinreichender Sicherheit gesagt werden könne, dass es dem BF mit hinreichender Wahrscheinlichkeit möglich sein würde, einem Zugriff dieser Kräfte zu entgehen. Eine innerstaatliche Schutzalternative könne auch im Hinblick auf eine Zusammenarbeit respektive einem Informationsaustausch zwischen den Kadyrov-Kräften und föderalen russischen Staatsorganen auf Basis der vorhandenen Erkenntnisquellen pro futuro weiterhin nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.

Ebenso wurde mit zeitgleich ergehenden Bescheiden des Unabhängigen Bundesasylsenats den vier minderjährigen Kindern sowie der Gattin des BF gemäß §§ 3, 34 AsylG 2005 Asyl gewährt und rechtskräftig festgestellt, dass diesen gemäß § 3 Abs. 5 AsylG leg. cit. die Flüchtlingseigenschaft zukomme.

1.2. Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX 2010, Zl. XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des Diebstahles nach § 127 StGB zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je € 4,--rechtskräftig verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am XXXX 2009 in Supermärkten Waren im Gesamtwert von XXXX € gestohlen hat. Als mildernd wurden das Geständnis und die Unbescholtenheit, als erschwerend mehrere Vorfälle gewertet.

Der BF wurde mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX 2011, Zl. XXXX , wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Wochen rechtskräftig verurteilt, wobei die verhängte Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am XXXX 2011 in einem Supermarkt versucht hat, einen XXXX im Wert von XXXX € zu stehlen. Als mildernd wurden die geständige Verantwortung sowie die Tatsache, dass die Tat beim Versuch geblieben ist, als erschwerend eine einschlägige Vorverurteilung gewertet.

Der BF wurde mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX 2014, Zl. XXXX , rechtskräftig wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 1 dritter Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt, wobei die verhängte Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am XXXX 2013 von einer anderen Person infolge einer Straßenverkehrssituation ursprünglich attackiert wurde, wobei es mit Unterbrechungen zu weiteren körperlichen Auseinandersetzungen gekommen ist, bei dem die andere Person vom BF durch Versetzen mehrere Faustschläge und Fußtritte vorsätzlich am Körper verletzt worden ist, wobei diese dadurch eine an sich schwere Verletzung ( XXXX ) erlitten hat und der BF seinerseits durch einen Faustschlag und mehrere Fußtritte der anderen Person eine Prellung der Scheitelbeinregion und des Oberschenkels samt Abschürfungen davongetragen hat. Es wurde kein Umstand als mildernd oder erschwerend gewertet.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX 2019, Zl. XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des versuchten schweren Betruges nach §§ 15 Abs. 1, 146, 147 Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt, wobei die verhängte Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF in Zusammenwirken mit drei Mittätern versucht hat, am XXXX 2016 Verfügungsberechtigte einer Versicherung durch ein fingiertes PKW-Unfallereignis am XXXX 2016 zur Zahlung von XXXX € zu verleiten, wobei es beim Versuch geblieben ist.

Als mildernd wurden das reumütige Geständnis, der Umstand, dass es nur beim Versuch geblieben ist sowie der untergeordnete Tatbeitrag, als erschwerend zwei einschlägige (wenn auch lang zurückliegende) Vorstrafen gewertet.

1.3. Der BF wurde in der Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) anlässlich eines eingeleiteten Aberkennungsverfahrens am 10.10.2018 im Wesentlichen zu seinen Verhältnissen in Österreich sowie zu Familienangehörigen im Herkunftsland befragt. Seinen Angaben zufolge lebe er in Österreich mit seiner Frau und fünf Kindern im gemeinsamen Haushalt zusammen und beziehe derzeit Notstandshilfe. Seine Familie lebe von der Erwerbstätigkeit seiner Gattin und der Notstandshilfe. In Tschetschenien würden sich die Mutter sowie ein Onkel und eine Tante des BF aufhalten. Sie würden alle von der Pension leben und hätten es finanziell schwer. Vom BF wurde ein Konvolut an Lohnzetteln, die im Wesentlichen den Zeitraum von 2009 bis 2012 betreffen, sowie diverse Deutsch- und sonstige Kursteilnahmebestätigungen vorgelegt. Der BF verneinte die Frage, ob sich zu seinen früher dargelegten Ausreisegründen bzw. Rückkehrbefürchtungen sowie zu jenen seiner Familienangehörigen etwas verändert habe. Dem BF wurde im Anschluss vorgehalten, dass ihm sein Asylstatus wegen seiner angeblichen aus einer aktiven Beteiligung am Krieg in Tschetschenien resultierenden Verfolgung im Jahr 2007 zuerkannt worden sei und sich mittlerweile die (allgemeinen) Verhältnisse geändert hätten und vorherige Widerstandskämpfer und deren Angehörige ungeachtet der Amnestiegesetze auch tatsächlich nicht mehr verfolgt werden würden, weshalb ihm der Status des Asylberichtigten abzuerkennen sei. Dies wurde vom BF bestritten, wobei er auf gegenteilige Informationen von Bekannten verwies. Der BF wurde darüber hinaus nicht weiter zu Fluchtgründen oder Rückkehrbefürchtungen befragt. Ihm wurden aktuelle Erkenntnisquellen des Bundesamts zur Russische Föderation zur Kenntnis gebracht.

In weitere Folge wurde ein Konvolut an medizinischen Befunden für den BF vorgelegt, die Diagnosen hinsichtlich einer Degeneration von Wirbelsäulenabschnitten, chronische Kopfschmerzen, rezidiv. Schwindelanfälle sowie Bluthochdruck enthalten.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 16.05.2019, Zl. 760889000 - 180733584/BMI-BFA_BGLD_RD, wurde dem BF der ihm mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats vom 06.12.2007, Zl. 305.533-3/6E-XIII/65/07, zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005 aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetztes nicht mehr zukommt. Weiters wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 nicht zuerkannt, ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist. Die Frist für seine freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung bestimmt sowie gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG gegen ihn ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen. Die Entscheidung wurde im Wesentlichen ausschließlich auf die herangezogenen Länderberichte gestützt.

In Erledigung einer dagegen erhobenen Beschwerde wurde der angefochtene Bescheid mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16.05.2019, Zl. W182 2214508-1/7E, gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG behoben und die Angelegenheit an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass das Bundesamt den BF weder zu seinem individuellen Vorbringen noch zu konkreten Rückkehrbefürchtungen oder einer inländischen Fluchtalternative befragt habe und es auch völlig verabsäumt habe, Ermittlungen zum Inhalt der strafrechtlichen Verurteilungen des BF und den zugrundeliegenden konkreten Straftaten anzustellen. Zudem seien auch keine aussagekräftigen Ermittlungen hinsichtlich der in Österreich aufhältigen Kinder des BF durchgeführt worden, zumal nicht einmal deren Alter erhoben worden sei.

2.1. In einer neuerlichen Einvernahme des BF beim Bundesamt am 09.10.2019 brachte der BF auf die Frage, was ihn an einer Rückkehr ins Herkunftsland hindere im Wesentlichen vor, dass er dort verschwinden oder begraben werde, weil er von der Regierung unter Kadyrow beschuldigt werde, Rebellen unterstütz zu haben. Dies gehe noch auf seinen Asylgrund zurück. Sonstige Gründe verneinte er auf Nachfragen. Unter Vorhalt, dass ihm Asyl gewährt worden sei, weil er die Rache einer gewissen Person befürchtet habe, und auf die Frage, ob es diese Person nicht mehr gebe, erklärte der BF, dass er „ XXXX “ meine. Wenn man die eigene Unzufriedenheit ausspreche, sei man „dran“. Unter Vorhalt, dass er damals eine andere Person gemeint habe, erklärte der BF, dass eine Person namens glaublich XXXX , seine Gruppe gejagt und eines Tages zehn oder elf Personen seiner Gruppe mitgenommen, gefoltert und umgebracht worden seien. An einen Spitznamen der Person könne sich der BF nicht mehr erinnern. Auf Nachfragen erklärte der BF, auch einmal festgenommen worden zu sein. Er sei jedoch nicht zusammengeschlagen worden. Er sei von Verwandten freigekauft worden, wobei er sich nicht mehr erinnern könne, für wie lange er festgehalten und welche Summe für ihn bezahlt worden sei. Auf die Frage, ob er Kämpfer unterstützt habe, gab er an, auch seinen Cousin unterstützt zu haben, der 2006 getötet worden sei. Eine Wohnsitzverlegung außerhalb von Tschetschenien innerhalb der Russischen Föderation habe keinen Sinn. Der BF wohne in Österreich mit seiner Frau und vier Kindern zusammen. Eine Tochter wohne bei ihrem Freund. Die übrigen Kinder würden noch zur Schule gehen. Der BF arbeite seit sechs Monaten als Kleintransportlenker bei einer Firma. In Tschetschenien würden die Mutter, die Tante und ein Onkel des BF leben. Weiters halten sich die Eltern und drei Schwester seiner Frau im Herkunftsland auf. Der BF nehme seit sieben Jahren das Medikament XXXX wegen Epilepsie und leide auch an Diabetes.

2.2. Mit dem im Spruch genannten Bescheid vom 25.10.2019 erkannte das Bundesamt dem BF den mit Bescheid vom 06.12.2007, Zl. 305.533-3/6E-XIII/65/07, zuerkannten Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Weiters erkannte das Bundesamt dem BF gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zu (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG 2005 ebensowenig erteilt (Spruchpunkt III.), sondern stattdessen gegen diesen gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 iVm § 9 BFA- VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Unter einem wurde dem BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung zur freiwilligen Ausreise eingeräumt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Asylgewährung im Jahre 2007 darauf beruht habe, dass der BF im ersten Tschetschenienkrieg als Kämpfer aktiv gewesen und deshalb gesucht worden wäre sowie eine Feindschaft mit einem Tschetschenen bestanden habe, welcher für eine russische Geheimdienststruktur gearbeitet hätte. Eine inländische Fluchtalternative sei damals laut Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats nicht zur Verfügung gestanden. Aufgrund der geänderten Lage in der Teilrepublik Tschetschenien treffe dies heute nicht mehr zu. Die Umstände, auf Grund derer er als Flüchtling anerkannt worden sei, seien weggefallen. Hinweise darauf, dass russische Behörden tschetschenische Kämpfer der beiden Kriege suchen würden, würden nicht vorliegen. So haben keine Hinweise auf eine Verfolgung von Veteranen der Tschetschenien-Kriege nach 2011 gefunden werden können. Hinweise darauf, dass Verwandte von Tschetschenien-Kämpfern durch russische oder tschetschenische Behörden zu deren Aufenthaltsort befragt worden seien, haben ebenfalls nicht gefunden werden können (ÖB Moskau 12.7.2017). Es würden sich nach wie vor Familienangehörige des BF in seinem Heimatland aufhalten und sei es nicht ersichtlich, warum sich nicht auch der BF dort aufhalte. Abgesehen davon habe der BF sich laut seinen Angaben mit seiner Mutter in der Ukraine getroffen. Es sei somit davon auszugehen, dass diese nicht mehr von der Ukraine in ihr Heimatland zurückgekehrt wäre, wenn diese wegen des BF Probleme mit den staatlichen Behörden oder Organen gehabt hätte bzw. haben würde. In diesem Zusammenhang werde jedoch vom Bundesamt davon ausgegangen, dass der BF seine Mutter nicht in der Ukraine getroffen, sondern diese vielmehr in Tschetschenien bzw. Russland besucht habe, was somit ebenfalls gegen die Glaubhaftigkeit einer individuellen aktuellen Verfolgungsgefahr spreche. Der BF habe nämlich keine konkreten Angaben bezüglich seines Aufenthalts in der Ukraine angeben können. Er habe nicht einmal gewusst, wann er in die Ukraine gereist wäre und habe auch keine genauen Angaben bezüglich seines Aufenthaltsortes in Kiew machen können. Soweit dem BF weiters im Jahre 2007 Asyl gewährt worden sei, weil er die Rache einer Person befürchtet habe, müsse bezweifelt werden, ob diese Bedrohung den Tatsachen entspreche. Im Zuge der Einvernahme am 09.10.2019 habe der BF diese Person vorerst überhaupt nicht als Hindernis für seine Rückkehr erwähnt. In weiterer Folge habe er für diese einen anderen Namen als bisher angegeben. Weiters habe er im Zuge der Einvernahme am 09.10.2019 angegeben, dass er schon sehr lange nichts mehr von dieser Person gehört habe, weshalb davon auszugehen sei, dass es diese Rache nicht mehr gebe. Wäre dieser nämlich nach wie vor rachsüchtig, sei es naheliegend, dass der BF davon gehört hätte, zumal er auch im Kontakt mit seinen Verwandten in Tschetschenien stehe und sich auch über diesen erkundigt hätte. Zentrale Aussage der aktuellen Länderfeststellungen des Bundesamtes sei, dass sich die Sicherheitslage besser darstelle als vergleichsweise zu den Jahren vor 2003. Großflächige Kampfhandlungen seien in Tschetschenien nicht ausgebrochen, groß angelegte „Satschistki“ finden nicht mehr statt. Im Falle seiner Rückkehr sei der BF heute in der Russischen Föderation (Tschetschenien) nicht mehr gefährdet. Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten sowie der Situation des BF im Falle seiner Rückkehr wurde ausgeführt, dass die im Heimatland herrschenden Verhältnisse basierend auf den aktuellen Länderberichten nicht zu einer Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Gefährdung des BF führen würden. Dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund, als dass er in Tschetschenien nicht nur über familiäre Bindungen verfüge, sondern sich auch als arbeitsfähig erweise. Die Voraussetzungen für die allfällige Erteilung eines Aufenthaltstitels aufgrund des Vorliegens besonderer Schutzbedürftigkeit wären in casu nicht erfüllt. Angesichts der zahlreichen Verurteilungen von 2010 bis 2019 sei zudem davon auszugehen, dass vom BF nach wie vor eine Gefahr für die Gemeinschaft ausgehe und er dadurch eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit darstelle und die Rückkehrentscheidung somit gerechtfertigt sei. In Bezug auf das Familienleben des BF wurde festgehalten, dass durch die Rückkehrentscheidung die Kontaktaufnahme zwischen dem BF und seiner Ehefrau bzw. seinen fünf Kindern zweifellos erschwert werde, es jedoch im Zeitalter moderner Medien möglich sei, diese zu nutzen, um den Kontakt aufrecht zu erhalten. Es stehe diesen auch frei, den BF in der Russischen Föderation bzw. Tschetschenien zu besuchen. In einer Interessensabwägung nach Art. 8 EMRK habe somit das öffentliche Interesse an der Verhinderung von Straftaten die privaten beziehungsweise familiären Interessen des BF deutlich überwogen, weshalb im Ergebnis spruchgemäß zu entscheiden gewesen sei.

Mit Verfahrensanordnung vom 25.10.2019 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater zugewiesen.

2.3. Gegen diesen Bescheid wurde binnen offener Frist Beschwerde erhoben. Inhaltlich wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es ohne ausreichende Begründung nicht nachvollziehbar sei, wieso der BF in sein Heimatland gereist sein soll. Auch eine schlechte Erinnerung nach zwölf Jahren liefere keinen konkreten Hinweis auf eine aktuell fehlende Verfolgungsgefahr. Aufgrund der unzureichenden bzw. sogar widersprüchlichen, jedenfalls aber nicht stichhaltigen Annahmen in der Begründung der angefochtenen Entscheidung sei der Bescheid mit Rechtswidrigkeit behaftet. Zur Situation im Herkunftsstaat wurde der Jahresbericht 2017 von Amnesty international zum Thema Nordkaukasus zitieret sowie auf einen Bericht des Berichterstatters des Moskauer Mechanismus, Prof. Dr. Wolfgang Benedek, an den Ständigen Rat der OSZE über mutmaßliche Menschenrechtsverletzungen in der Tschetschenischen Republik der Russischen Föderation vom 13.12.2018, den Auslandsbericht des Außenministeriums zur Russischen Föderation mit Stand 24.10.2019 sowie einer Stellungnahme des Kulturvereins für Tschetschenen und Inguschen in Österreich vom 24.10.2019 verwiesen. Weiters wurde ausgeführt, dass die Verurteilungen des BF eine positive Zukunftsprognose nicht völlig ausschließen würden. Vielmehr seien diese minderschwer und würden angesichts der starken Integration und der festen familiären Verankerung einer bereits in Österreich verwurzelten Kernfamilie in den Hintergrund zurücktreten. Als Verfahrensfehler werde zudem die unterlassene Würdigung des konkreten strafbaren Handelns des BF geltend gemacht. So habe sich das Bundesamt vielmehr auf ein schlichtes Zusammenrechnen der Urteilsergebnisse beschränkt. Die Frau und die fünf Kinder des BF seien in Österreich aufenthaltsberechtigt. Der Familie werde durch die gegenständliche Entscheidung die Existenzgrundlage entzogen, zumal die Gattin des BF mit den fünf Kindern jedenfalls nicht von sich aus ein ausreichendes Einkommen erziele, weshalb mit der gegenständlichen Entscheidung nicht nur schwerwiegend in die Interessen des BF eingegriffen werde, sondern auch in die Rechte der Familie. Ein Kontaktrecht zur eigenen Familie könne nicht in auch nur annähernder Form über moderne Medien aufrechterhalten werden, zumal es sich ja um ein Zusammenleben handle und keine getrennten Wohnsitze vorliegen würden. Faktum sei vielmehr, dass hier der Erziehungsberechtigte der Familie auch intern als Obsorgeberechtigter und- verpflichteter für zahlreiche Entscheidungen verantwortlich sei. Er sei für die Kindererziehung verantwortlich und habe regelmäßig finanzielle Aufwendungen zu bestreiten. Durch die gegenständliche Entscheidung werde die Familie zerrissen. Daher müsse in richtiger Weise trotz der minderschweren Verurteilungen für den BF in einer richtigen Gesamtbetrachtung seines Verhaltens und der Familien- und Lebensverhältnisse eine positive Zukunftsprognose angestellt werden. Die belangte Behörde habe die Ermessensentscheidung nicht nachvollziehbar und unrichtig rechtlich zu begründen versucht, wodurch der angefochtene Bescheid rechtswidrig sei. es wurde u.a. eine mündliche Beschwerdeverhandlung beantragt.

2.4. Anlässlich der öffentlichen mündlichen Verhandlung am 05.06.2020 wurde Beweis aufgenommen durch Einvernahme des BF in Anwesenheit des Vertreters des BF sowie eines Vertreters der belangten Behörde, weiters durch Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes sowie in den Akt des Bundesverwaltungsgerichtes.

In der Beschwerdeverhandlung wurden den Parteien aktuelle Feststellungen zur Situation in der Russischen Föderation zu Kenntnis gebracht.

In einer Stellungnahme des Rechtsvertreters des BF zu den in der Beschwerdeverhandlung dargetanen Länderdokumenten wurde neuerlich auf die in der Beschwerdeschrift beigefügten Berichte verwiesen.

In einer Stellungnahme des Vertreters des Bundesamtes vom 08.06.2020 wurde im Wesentlichen das Fortbestehen der Asylgründe des BF bestritten und auf widersprüchliche Angaben des BF hinsichtlich des namens seines angeblichen Cousins in der Beschwerdeverhandlung hingewiesen. Weiters wurde angemerkt, dass der BF hinsichtlich seiner angeblichen Erkrankungen keine Beweismittel vorgelegt und die Erkrankungen ständig ausgetauscht habe, weshalb davon auszugehen sei, dass er sie vortäusche. Unabhängig davon seien die Krankheiten den Länderfeststellungen zufolge im Herkunftsstaat behandelbar. Der BF sei angesichts seiner geringfügigen Deutschsprachkenntnisse, seines aus dem Auszug der Sozialversicherung ersichtlichen mangelnden Interesses an einer dauerhaften Arbeitstätigkeit sowie den gerichtlichen Verurteilungen nicht integrationswillig. Was die familiären Bindungen des BF in Österreich betreffe, so seien die Kernfamilienangehörigen weiterhin russische Staatsangehörige, die nach dem NAG aufenthaltsberechtigt seien. Eine zwingende „Trennung“ des BF von seiner Familie liege nicht vor und könne daher nicht als schützenswertes Familienleben zur Berücksichtigung kommen, da es der Ehegattin sowie den anpassungsfähigen Kindern, die zumindest eine Sprache des Herkunftsstaates sprechen und offenbar gut lernfähig seien, frei stehe, mit dem BF ins Herkunftsland zu übersiedeln oder aber das Familienleben durch Besuche aufrecht zu erhalten.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1. Zur Person des BF

Der BF ist russischer Staatsangehöriger, gehört der tschetschenischen Volksgruppe an, ist muslimischen Glaubens, im August 2006 im Alter von XXXX Jahren illegal mit seiner Familie nach Österreich eingereist und hat mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats vom 06.12.2007 den Status eines Asylberechtigten zuerkannt erhalten.

In Österreich lebt der BF mit seiner Gattin sowie seinen Kindern im Alter von XXXX , XXXX , XXXX und XXXX Jahren in gemeinsamen Haushalt zusammen. Eine XXXX ährige Tochter ist bereits ausgezogen, wohnt aber im Bundesgebiet. Die Gattin und Kinder des BF sind russische Staatsangehörige. Ihr Aufenthalt in Österreich stützte sich auf den Status von Asylberechtigten, wobei ihnen aktuell der Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ zukommt. Die vier minderjährigen Kinder des BF sind im Bundesgebiet geboren bzw. im Kleinkindalter nach Österreich gekommen.

Im Herkunftsland halten sich gegenwärtig zumindest die Mutter, ein Onkel und eine Tante sowie ein Cousin und Cousinen des BF auf.

Der BF wurde mit rechtskräftigem Urteil eines Bezirksgerichts vom XXXX 2010 wegen des Vergehens des Diebstahles nach § 127 StGB zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je € 4,- rechtskräftig verurteilt. Danach wurde er mit Urteil eines Bezirksgerichts vom XXXX 2011, wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Wochen rechtskräftig verurteilt, wobei die verhängte Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Im Anschluss wurde er mit rechtskräftigem Urteil eines Landesgerichts vom XXXX 2014 rechtskräftig wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 1 dritter Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt, wobei die verhängte Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Zuletzt wurde er mit Urteil eines Landesgerichtes vom XXXX 2019 wegen des Vergehens des versuchten schweren Betruges nach §§ 15 Abs. 1, 146, 147 Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt, wobei die verhängte Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Der BF leidet aktuell an keinen schwerwiegenden Erkrankungen und ist arbeitsfähig.

Der BF hat im Herkunftsland die Pflichtschule absolviert und war dort u.a. als LKW-Fahrer erwerbstätig. Er spricht Tschetschenisch und Russisch. Er konnte keine positiv abgeschlossene Deutschprüfung nachweisen und verfügt über Deutschkenntnisse auf sehr einfachem Niveau. Zuletzt konnte der BF für den Zeitraum zwischen 2019 und 2020 zusammengerechnet etwa 10 Monate an Zeiten legaler Erwerbstätigkeit nachweisen, wobei er von Juni bis Anfang September 2020 geringfügig beschäftigt war und aktuell Notstandshilfe bezieht.

Die Umstände, auf Grund deren der BF als Flüchtling anerkannt worden ist, bestehen nicht mehr. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF nach einer Rückkehr ins Herkunftsland dort wegen seiner aktiven Beteiligung am ersten Tschetschenienkrieg, seiner Unterstützung seines 2006 getöteten Cousins im zweiten Tschetschenienkrieg oder wegen einer Gefangennahme einer Einzelperson durch seine damalige Kampfeinheit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt ist. Weiters liegen auch sonst keine stichhaltigen Gründe vor, dass er konkret Gefahr liefe, im Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.

Es konnte ferner nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihm die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.

Es ist dem BF zudem grundsätzlich möglich und zumutbar, sich in der Russischen Föderation auch außerhalb der Republik Tschetschenien niederzulassen und sich dort anzumelden.

Im Übrigen wird der unter Punkt I. wiedergegebene Verfahrensgang der Entscheidung zugrundgelegt.

2. Zur Situation im Herkunftsland wird von den vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Länderinformationen zur Russischen Föderation bzw. Tschetschenien ausgegangen:

Politische Lage

(Letzte Änderung: 27.03.2020)

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 2.2020c, vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 2.2020a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 2.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der [derzeitigen] Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt (GIZ 2.2020a). Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c).

Im Jänner 2020 kündigte Präsident Putin bei seiner Neujahrsrede Verfassungsänderungen an. Daraufhin trat die Regierung unter Ministerpräsident Medwedew zurück (Spiegel Online 15.1.2020). Kurz darauf wurde Putins Kandidat Michail Mischustin, der zehn Jahre lang Leiter der russischen Steuerbehörde war, von der Duma zum neuen Ministerpräsident gewählt (Spiegel Online 16.1.2020). Dmitrij Medwedew wird Vizevorsitzender im Sicherheitsrat. Die angestrebte Verfassungsänderung ist ein umfangreicher Maßnahmenkatalog, bei dem es sich laut Putin um von der Gesellschaft geforderte Veränderungen handelt (Spiegel Online 15.1.2020). Das Volk wird über die Verfassungsänderungen abstimmen, um diese zu legitimieren (NZZ 19.3.2020), jedoch wird die Abstimmung aufgrund der Corona-Pandemie vom geplanten Termin im April nach hinten verschoben (ORF.at 25.3.2020). Vorgesehen ist nicht nur eine Ausweitung der Machtbefugnisse des Präsidenten. Putin soll nach einem Votum der Abgeordneten auch die Möglichkeit haben, sich noch einmal für maximal zwei Amtszeiten zu bewerben – er könnte also bei Wiederwahl bis 2036 im Amt bleiben. Nach bisheriger Verfassung könnte er 2024 nicht mehr antreten. Kritiker und Oppositionelle werfen Putin einen Staatsstreich vor. Das Verfassungsgericht hat den Änderungen bereits zugestimmt (NZZ 19.3.2020).

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 2.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016, vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht infrage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).

Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 2.2020a).

Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 2.2020a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (2.3.2020c): Russische Föderation – Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/politisches-portrait/201710, Zugriff 10.3.2020

?        CIA – Central Intelligence Agency (28.2.2020): The World Factbook, Central Asia: Russia, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 10.3.2020

?        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 10.3.2020

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 10.3.2020

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 10.3.2020

?        Global Security (21.9.2016): Duma Election - 18 September 2016, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/politics-2016.htm, Zugriff 10.3.2020

?        Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-bei-Kundgebung-in-Moskau, Zugriff 10.3.2020

?        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (19.3.2020): Putin hält trotz Coronavirus-Krise an der Verfassungsabstimmung fest, https://www.nzz.ch/international/coronavirus-in-russland-krise-ueberschattet-verfassungsabstimmung-ld.1547213, Zugriff 26.3.2020

?        ORF.at (25.3.2020): Putin verschiebt Abstimmung über Verfassungsänderung, https://orf.at/stories/3159340/, Zugriff 26.3.2020

?        ORF – Observer Research Foundation (18.9.2019): Managing democracy in Russia: Elections 2019, https://www.orfonline.org/expert-speak/managing-democracy-in-russia-elections-2019-55603/, Zugriff 10.3.2020

?        OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 10.3.2020

?        Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 10.3.2020

?        RIA Nowosti (23.9.2016): ??? ???????? ?????????? ??????? ? ???????, https://ria.ru/20160923/1477668197.html, Zugriff 10.3.2020

?        Spiegel Online (15.1.2020): Putins Operation Machterhalt, https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-putins-operation-machterhalt-a-aafe31f8-54b2-4d38-9bf4-6e613e586b96, Zugriff 2.3.2020

?        Spiegel Online (16.1.2020): Michail Mischustin ist neuer Premierminister Russlands, https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-michail-mischustin-ist-neuer-premierminister-a-1b3bd2eb-bc42-43cf-9033-25c8221cc7ed, Zugriff 2.3.2020

?        Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 10.3.2020

?        Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 10.3.2020

?        Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau, Zugriff 10.3.2020

Tschetschenien

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür

des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

?        HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html, Zugriff 3.3.2020

?        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (29.6.2019): Die Nordkaukasus-Republik Inguschetien ist innerlich zerrissen, https://www.nzz.ch/international/nordkaukasus-inguschetien-nach-protesten-innerlich-zerrissen-ld.1492435, Zugriff 11.3.2020

?        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 10.3.2020

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 27.03.2020

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS (Islamischer Staat) kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020

?        BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020

?        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020

?        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits, weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (14.9.2019): In Qua

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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