Index
82/02 Gesundheitsrecht allgemeinNorm
B-VG Art139 Abs1 Z1Leitsatz
Gesetzwidrigkeit einer Verordnung des Tiroler Landeshauptmanns betreffend das Verbot, den eigenen Wohnsitz – ausgenommen aus triftigen Gründen zur Deckung von Grundbedürfnissen – zu verlassen; Ermächtigung des COVID-19-MaßnahmenG nur zur Erlassung von Betretungsverboten für "bestimmte Orte"Spruch
I. 1. §4 Abs1, Abs2 und Abs5 der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. März 2020 nach §2 Z2 des COVID-19-Maßnahmengesetzes, LGBl für Tirol Nr 35/2020, war gesetzwidrig.
2. Die als gesetzwidrig festgestellten Bestimmungen sind nicht mehr anzuwenden.
3. Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt II verpflichtet.
II. Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Antrag
Mit dem vorliegenden, auf Art139 Abs1 Z1 B-VG gestützten Antrag begehrt das Landesverwaltungsgericht Tirol die Feststellung, dass §4 der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. März 2020 nach §2 Z2 des COVID-19-Maßnahmengesetzes, LGBl 35/2020, in eventu §4 Abs1 dieser Verordnung, in eventu §4 Abs1 und 2 dieser Verordnung, gesetzwidrig war.
II. Rechtslage
1. §2 und §3 des Bundesgesetzes betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 (COVID-19-Maßnahmengesetz), BGBl I 12/2020, lauteten in der Stammfassung auszugsweise wie folgt:
"Betreten von bestimmten Orten
§2. Beim Auftreten von COVID-19 kann durch Verordnung das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist. Die Verordnung ist
1. vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf das gesamte Bundesgebiet erstreckt,
2. vom Landeshauptmann zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf das gesamte Landesgebiet erstreckt, oder
3. von der Bezirksverwaltungsbehörde zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf den politischen Bezirk oder Teile desselben erstreckt.
Das Betretungsverbot kann sich auf bestimmte Zeiten beschränken.
Strafbestimmungen
§3. (1) […]
(3) Wer einen Ort betritt, dessen Betreten gemäß §2 untersagt ist, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von bis zu 3 600 Euro zu bestrafen."
2. Die Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. März 2020 nach §2 Z2 des COVID-19-Maßnahmengesetzes (im Folgenden: Verordnung des LH von Tirol), LGBl 35/2020, idF LGBl 41/2020 (der angefochtene §4 idF LGBl 35/2020 ist hervorgehoben) lautete auszugsweise wie folgt:
"§1
(1) Zur Verhinderung der weiteren Verbreitung von COVID-19 ist das Betreten öffentlicher Orte im gesamten Landesgebiet nach Maßgabe der §§2 bis 5 unter Gewährleistung der Versorgungssicherheit und des freien Warenverkehrs für alle Gemeinden verboten.
(2) […]
§2
(1) […]
(6) Als Wohnsitz im Sinn dieser Verordnung gelten der Hauptwohnsitz, der Nebenwohnsitz oder der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts im Landesgebiet.
[…]
§4
(1) Das Verlassen des eigenen Wohnsitzes (§2 Abs6) ist verboten.
(2) Ausgenommen vom Verbot nach Abs1 ist das Verlassen des eigenen Wohnsitzes aus triftigen Gründen zur Deckung von Grundbedürfnissen. Das Verlassen des eigenen Wohnsitzes ist dabei auf ein zeitlich und örtlich unbedingt notwendiges Minimum zu beschränken.
(3) Ab dem Verlassen des eigenen Wohnsitzes ist, abgesehen von Personen, die im gemeinsamen Haushalt leben, gegenüber anderen Personen ein Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten. Bei der Benützung von Kraftfahrzeugen zu nicht privaten Zwecken, die außer dem Lenkplatz Plätze für mehr als vier Personen aufweisen, oder bei Benützung von öffentlichen Verkehrsmitteln ist ein Abstand von mindestens einem Meter gegenüber anderen Personen einzuhalten.
(4) Beim Verlassen des eigenen Wohnsitzes aus triftigem Grund zur Deckung von Grundbedürfnissen ist das Überschreiten der Grenze des jeweiligen Gemeindegebietes verboten. Ein Übertreten der Grenzen des Gemeindegebietes zu dem im §3 Abs2 litd genannten Zweck ist nur dann zulässig, wenn nachweislich die Grundbedürfnisse nicht innerhalb der Grenzen des Gemeindegebietes gedeckt werden können. Dies ist im Falle von Kontrollen durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes glaubhaft zu machen.
(5) Triftige Gründe zur Deckung von Grundbedürfnissen, die ein Verlassen des eigenen Wohnsitzes rechtfertigen, sind die Ausübung beruflicher Tätigkeiten, die Inanspruchnahme medizinischer und veterinärmedizinischer Versorgungsleistungen (zB Arztbesuch, medizinische Behandlungen, Therapie), sonstige Handlungen zur Versorgung der Grundbedürfnisse (zB Lebensmitteleinkauf, Gang zur Apotheke oder zum Geldautomat, Besuch bei Alten, Kranken oder Menschen mit Einschränkungen in ihrem jeweiligen privaten Bereich) und Handlungen zur Versorgung von Tieren. Diese triftigen Gründe sind im Falle von Kontrollen durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes glaubhaft zu machen.
[…]
§6
Wer dieser Verordnung zuwiderhandelt, begeht gemäß §3 Abs3 COVID-19-Maßnahmengesetz eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe von bis zu 3.600,- Euro, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Freiheitsstrafe bis zu vier Wochen, zu bestrafen.
§7
(1) Diese Verordnung tritt mit 21. März 2020 in Kraft, soweit in den Abs2, 3 und 4 nicht anderes bestimmt wird.
(2) Für die Gemeinde St. Anton am Arlberg treten §1 Abs2, §4 Abs1, 2, 3 und 5 sowie in Bezug auf diese Bestimmungen die §§5 und 6 mit 21. März 2020 in Kraft.
(3) Für die Gemeinden im Paznauntal treten §1 Abs2 und §4 sowie in Bezug auf diese Bestimmungen die §§5 und 6 mit 21. März 2020 in Kraft.
(4) Für die Gemeinde Sölden treten §1 Abs2, §4 Abs1, 2, 3 und 5 sowie in Bezug auf diese Bestimmungen die §§5 und 6 mit 21. März 2020 in Kraft.
(5) Diese Verordnung tritt mit dem Ablauf des 13. April außer Kraft.
(6) Die Verordnung des Landeshauptmannes nach §2 Z2 des COVID-19-Maßnahmengesetzes, LGBl Nr 33/2020, in der Fassung der Verordnung LGBl Nr 34/2020, tritt mit dem Ablauf des 20. März 2020 außer Kraft."
3. Die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Kufstein über verkehrsbeschränkende Maßnahmen nach dem Epidemiegesetz 1950 vom 15. März 2020, KU-INF-309/18-2020, lautete auszugsweise wie folgt:
"§2
Das Verlassen des eigenen Wohnsitzes wird Personen, die ihren Haupt- oder Nebenwohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Tirol haben, mit Ausnahme von triftigen Gründen zur Deckung von Grundbedürfnissen verboten.
Triftige Gründe zur Deckung von Grundbedürfnissen, die ein Verlassen des eigenen Wohnsitzes rechtfertigen, sind die Ausübung beruflicher Tätigkeiten, die Inanspruchnahme medizinischer und veterinärmedizinischer Versorgungsleistungen (zB Arztbesuch, medizinische Behandlungen, Therapie), Handlungen zur Versorgung der Grundbedürfnisse (zB Lebensmitteleinkauf, Gang zur Apotheke oder zum Geldautomat, Besuch bei Alten, Kranken oder Menschen mit Einschränkungen in ihrem jeweiligen privaten Bereich) und Handlungen zur Versorgung von Tieren. Diese triftigen Gründe sind im Falle von Kontrollen durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes glaubhaft zu machen.
[…]
§4
Diese Verordnung tritt am Tag der Kundmachung an der Amtstafel der Gemeinden sowie der Bezirksverwaltungsbehörde in Kraft und mit Ablauf des 22. März 2020 außer Kraft."
III. Antrag und Vorverfahren
1. Dem Beschwerdeführer im Anlassverfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol wurde durch ein Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Kufstein vom 29. April 2020 zur Last gelegt, er habe am 28. März 2020 seinen Wohnsitz entgegen §2 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft von Kufstein über verkehrsbeschränkende Maßnahmen nach dem Epidemiegesetz 1950 vom 15. März 2020, KU-INF-309/18-2020, verlassen, da er keine triftigen Gründe zur Deckung von Grundbedürfnissen nennen habe können, die einen Aufenthalt außerhalb der Wohnung gerechtfertigt hätten. Vielmehr habe er sich mit fünf weiteren Personen auf einer Terrasse eines privaten Anwesens bei einer Geburtstagsfeier befunden. Aus diesem Grund wurde über ihn gemäß §40 litc Epidemiegesetz 1950 eine Geldstrafe in Höhe von € 80,–, Ersatzfreiheitsstrafe fünf Stunden, verhängt und er zur Bezahlung eines Beitrages zu den Kosten des Strafverfahrens verpflichtet. Gegen diese Entscheidung erhob der Beschwerdeführer rechtzeitig Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Tirol.
Aus Anlass dieses Verfahrens stellt das Landesverwaltungsgericht Tirol den vorliegenden Antrag gemäß Art139 Abs1 Z1 B-VG an den Verfassungsgerichtshof.
2. Das Landesverwaltungsgericht Tirol begründet seinen Antrag wie folgt (ohne Übernahme der Hervorhebungen im Original):
"[…] Prozessvoraussetzungen:
Hingewiesen wird einleitend darauf, dass die von der belangten Behörde herangezogene Rechtsgrundlage für die Bestrafung, nämlich die Verordnung des Bezirkshauptmannes von Kufstein vom 15.03.2020, KU-INF-309/18-2020, nach deren §4 bereits mit dem 22. März 2020, sohin vor dem Tatzeitpunkt, außer Kraft getreten ist. Diese Verordnung kann somit nicht als Grundlage für das vorliegende Verwaltungsstrafverfahren herangezogen werden (vgl dazu etwa VfGH 23.02.2017, E1814/2016).
Das Verwaltungsgericht ist allerdings nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes im Rahmen seiner Verpflichtung zur Entscheidung in der Sache nach Art130 Abs4 B-VG dazu verpflichtet, eine von der Behörde falsch ausgewählte Rechtsgrundlage auszutauschen, soweit sich die behördlichen Verfolgungshandlungen auch auf sämtliche Tatbestandsmerkmale der richtig anzuwendenden Norm beziehen (vgl etwa VwGH 25.03.2020, Ra 2020/02/0033).
Weiters zu berücksichtigen gilt, dass das in §1 Abs2 VStG normierte 'Günstigkeitsprinzip' im vorliegenden Fall nicht anzuwenden ist: Zwar sieht §1 Abs2 VStG vor, dass sich die Strafe nach dem zur Zeit der Tat geltenden Recht richtet, es sei denn, dass das zur Zeit der Entscheidung geltende Recht in seiner Gesamtauswirkung für den Täter günstiger wäre. Dieses Günstigkeitsprinzip gilt allerdings nicht für 'Zeitgesetze': Dabei handelt es sich um Gesetze, die von vorn herein nur für einen bestimmten Zeitraum gegolten haben und der Wegfall der Regelung somit nicht auf einem geänderten Unwerturteil des Normgebers basiert (vgl dazu etwa generell VwGH 22.07.2019, Ra 2019/02/0107).
Die Verordnung des Landeshauptmannes vom 20. März 2020 wurde mit Verordnung des Landeshauptmannes vom 6. April 2020, LGBl Nr 44/2020 aufgehoben, zumal sich die Gesamtsituation betreffend die Verbreitung des SARS-CoV-2 Virus in Tirol zu diesem Zeitpunkt wiederum deutlich verbessert hat. Die Aufhebung der Verordnung ist somit eindeutig auf eine Änderung der für die Anordnung relevanten Sachlage zurückzuführen und nicht auf eine nachträglich andere Beurteilung der Gefährlichkeit des Virus.
Da die Handlung des Beschwerdeführers unter die zum Tatzeitpunkt geltende Verordnung des Landeshauptmannes vom 20. März 2020 nach §2 Z2 des COVID-19-Maßnahmengesetzes zu subsumieren ist und die behördlichen Verfolgungshandlungen auch in Übereinstimmung mit dieser Rechtsgrundlage gesetzt wurden, ist §4 dieser Verordnung hier anzuwenden. Zumal der Beschwerdeführer auch gar nicht bestreitet, dass er seinen Wohnsitz zum Besuch einer Geburtstagsparty verlassen hat, ist die Sache im Sinne des §28 Abs2 VwGVG entscheidungsreif. Dass die Verordnung bereits außer Kraft getreten ist, ist nach Ansicht des Landesverwaltungsgerichts unbeachtlich, wozu auf die obenstehenden Ausführungen zu §1 Abs2 VStG verwiesen wird.
Gegen diese Verordnung bestehen Bedenken ob ihrer Gesetzmäßigkeit. Es ist daher gemäß Art89 Abs2 B-VG iVm Art135 Abs4 B-VG der gegenständliche Antrag nach Art139 Abs1 Z1 B-VG an den Verfassungsgerichtshof zu stellen.
[…] In der Sache:
[…]
In den Erläuterungen zum selbständigen Antrag der Abgeordneten August Wöginger und Sigrid Maurer, BA, nach §26 GOG-NR, 396/A XXVII. GP, wird zu §2 COVID-19-Maßnahmengesetz ausgeführt, dass 'auch die Möglichkeit bestehen (soll), das Betreten bestimmter Orte zu untersagen. Dies können etwa Kinderspielplätze, Sportplätze, See- und Flussufer oder konsumfreie Aufenthaltszonen sein. Diese Orte können in der Verordnung abstrakt ('Kinderspielplätze', 'Sportplätze') oder durch eine genaue Ortsangabe (zB betreffend bestimmte konsumfreie Zonen, Ortsgebiete, Gemeinden) oder eine Kombination aus beidem (Kinderspielplätze in einem bestimmten Bundesland) umschrieben werden.'
§2 COVID-Maßnahmengesetz eröffnet somit die Möglichkeit durch Verordnung das Betreten 'bestimmter Orte' durch Verordnung zu untersagen. Als bestimmte Orte gelten nach den Erläuterungen der Antragsteller etwa Kinderspielplätze, Sportplätze, See- und Flussufer oder konsumfreie Aufenthaltszonen.
Die gesetzliche Ermächtigung des §2 COVID-19-Maßnahmengesetz ist nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes (VfGH 14.07.2020, V363/2020-25) von vornherein dahingehend begrenzt, dass mit der Ermächtigung, das Betreten bestimmter Orte zu untersagen, nur das Zusammentreffen von Menschen eben an bestimmten Orten unterbunden werden kann. §2 COVID-19-Maßnahmengesetz geht also vom Grundsatz der Freizügigkeit aus und ermächtigt den Verordnungsgeber dazu, diese Freizügigkeit durch Betretungsverbote bestimmter Orte einzuschränken, wobei das Gesetz auch deutlich macht, welche Merkmale diese Orte, deren Betreten der Verordnungsgeber zum Zweck der Verhinderung von COVID-19 untersagen kann, aufweisen müssen, nämlich, dass die Nutzung dieser Orte zum persönlichen Zusammentreffen mehrerer Menschen außerhalb der eigenen Wohnung führt.
Der Verordnungsgeber kann dabei die Orte, deren Betreten er zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 untersagt, konkret oder abstrakt umschreiben, er kann für Außenstehende auch, wie die Erläuterungen deutlich machen, das Betreten regional begrenzter Gebiete wie Ortsgebiete oder Gemeinden untersagen; es ist ihm aber verwehrt, durch ein allgemein gehaltenes Betretungsverbot des öffentlichen Raumes außerhalb der eigenen Wohnung (im weiten Sinn des Art8 EMRK) ein – wenn auch entsprechend der räumlichen Ausdehnung der Verordnung gemäß §2 Z2 oder 3 COVID-19-Maßnahmengesetz regional begrenztes – Ausgangsverbot schlechthin anzuordnen. Damit ist die gesetzliche Ermächtigung des §2 COVID-19-Maßnahmengesetz dahingehend begrenzt, dass das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden darf, nicht aber, dass Menschen auf Grundlage des §2 COVID-19-Maßnahmengesetz dazu verhalten werden können, an einem bestimmten Ort, insbesondere auch in ihrer Wohnung, zu verbleiben.
Zumal daher nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes das COVID-19-Maßnahmengesetz eine Ermächtigung zum Untersagen des Verlassens der eigenen Wohnung nicht enthält, wurde die angefochtene Verordnung ohne gesetzliche Ermächtigung erlassen. Das beim Landesverwaltungsgericht Tirol mit Beschwerde bekämpf[t]e Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Kufstein wäre somit nach einer Verordnung zu beurteilen, der die gesetzliche Grundlage fehlt."
3.1. Der Landeshauptmann von Tirol hat als verordnungserlassende Behörde die Akten betreffend das Zustandekommen der zur Prüfung gestellten Verordnung vorgelegt und eine Äußerung erstattet, in der er die Gründe darlegt, die ihn zum damaligen Zeitpunkt zur Erlassung der Verordnung bestimmt haben, und aus heutiger Sicht ausführt, dass der Antrag des Landesverwaltungsgerichtes Tirol zulässig und vor dem Hintergrund der jüngsten Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (VfGH 14.7.2020, V363/2020) auch begründet sein dürfte.
3.2. Die Bezirkshauptmannschaft Kufstein hat ebenfalls eine Äußerung erstattet, in der sie sich der Äußerung des Landeshauptmannes von Tirol anschließt.
3.3. Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz hat von der Erstattung einer Äußerung Abstand genommen.
IV. Erwägungen
A. Zur Zulässigkeit des Antrages
1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B-VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B-VG nur dann wegen Fehlens der Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).
2.1. Dem antragstellenden Landesverwaltungsgericht ist nicht entgegenzutreten, wenn es vor dem Hintergrund der von ihm zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes davon ausgeht, dass es im Anlassverfahren die angefochtene Bestimmung des §4 der Verordnung des LH von Tirol anzuwenden hat.
2.2. Vor dem Hintergrund des konkreten Sachverhaltes, der dem Anlassverfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol zugrunde liegt, und der darauf abstellenden Bedenken des Landesverwaltungsgerichtes ob der Gesetzmäßigkeit des in §4 Abs1 und 2 der Verordnung des LH von Tirol angeordneten Verbotes des Verlassens des eigenen Wohnsitzes, wenn dies nicht zur Deckung von Grundbedürfnissen im Sinne des §4 Abs5 der Verordnung erfolgt, ist der Antrag auch nicht zu eng gefasst.
2.3. Er umfasst mit §4 Abs3 und 4 der Verordnung des LH von Tirol allerdings auch Bestimmungen, die vom genannten Verbot des Verlassens des eigenen Wohnsitzes offensichtlich trennbar sind, weil §4 Abs3 der Verordnung – unabhängig von dem in §4 Abs1, Abs2 und Abs5 der Verordnung zum Ausdruck kommenden Verbot – ein selbstständiges Abstandsgebot und §4 Abs4 ein ebenso selbstständiges Verbot, beim Verlassen des eigenen Wohnsitzes aus triftigem Grund die Grenzen des jeweiligen Gemeindegebietes, abgesehen von bestimmten Ausnahmen, nicht übertreten zu dürfen, enthält. Das Landesverwaltungsgericht Tirol bringt auch nicht vor, dass diese Bestimmungen des §4 Abs3 und 4 der Verordnung des LH von Tirol eine Voraussetzung seiner Entscheidung im Anlassfall bildeten, und trägt auch keine eigenständigen Bedenken gegen diese Bestimmungen vor. Der Antrag ist daher, insoweit er sich auch auf die Absätze 3 und 4 des §4 der Verordnung des LH von Tirol bezieht, als unzulässig zurückzuweisen.
3. Im Übrigen, also hinsichtlich der Anfechtung des §4 Abs1, Abs2 und Abs5 der Verordnung des LH von Tirol, erweist sich der Antrag aber, da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, als zulässig. Damit erübrigt sich ein Eingehen auf die Eventualanträge.
B. In der Sache
1. Das antragstellende Landesverwaltungsgericht macht unter Hinweis auf VfGH 14.7.2020, V363/2020, geltend, dass das angefochtene Verbot, den eigenen Wohnsitz ausgenommen aus triftigen Gründen zur Deckung von Grundbedürfnissen zu verlassen, in seiner gesetzlichen Grundlage des §2 COVID-19-Maßnahmengesetz keine Deckung gefunden habe. Mit diesem Vorbringen ist das Landesverwaltungsgericht Tirol im Recht:
2. Die angefochtenen Bestimmungen der Verordnung des LH von Tirol sind auf Grund des §2 COVID-19-Maßnahmengesetz ergangen, der – in der in dem für das Anlassverfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Fassung BGBl I 12/2020 – den Landeshauptmann ermächtigt hat, durch Verordnung das Betreten von bestimmten Orten zu untersagen, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist, wenn sich die Anwendung dieser Verordnung auf das gesamte Landesgebiet erstreckt. Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 14. Juli 2020, V363/2020, dargelegt, dass diese gesetzliche Ermächtigung dahingehend begrenzt ist, "dass das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden darf, nicht aber, dass Menschen auf Grundlage des §2 COVID-19-Maßnahmengesetz dazu verhalten werden können, an einem bestimmten Ort, insbesondere auch in ihrer Wohnung, zu verbleiben".
3. Das in §4 Abs1 und 2 sowie Abs5 der Verordnung des LH von Tirol angeordnete Verbot, den eigenen Wohnsitz ausgenommen aus triftigen Gründen zur Deckung von Grundbedürfnissen zu verlassen, verhält die Menschen grundsätzlich dazu, "zu Hause" zu bleiben. Wenn §2 COVID-19-Maßnahmengesetz idF BGBl I 12/2020 im Rahmen grundsätzlich bestehender Freizügigkeit aber nur Betretungsverbote für bestimmte Orte vorsieht, dann ermächtigt das Gesetz gerade nicht zu einem allgemeinen gesetzlichen Verbot mit Erlaubnistatbeständen (VfGH 14.7.2020, V363/2020).
§4 Abs1, Abs2 und Abs5 der Verordnung des LH von Tirol idF LGBl 35/2020 überschreiten daher die gesetzliche Ermächtigung in §2 COVID-19-Maßnahmengesetz idF BGBl I 12/2020.
Diese Bestimmungen finden auch sonst keine gesetzliche Grundlage, insbesondere handelt es sich bei dem durch diese Bestimmungen angeordneten Verbot, den eigenen Wohnsitz zu verlassen, um keine "Verkehrsbeschränkung" im Sinne des §24 Epidemiegesetz 1950. Den zulässigerweise angefochtenen Bestimmungen der Verordnung des LH von Tirol fehlt daher die gesetzliche Grundlage.
Da die Verordnung des LH von Tirol gemäß §§1 und 2 der "Verordnung des Landeshauptmannes [von Tirol] vom 6. April 2020, mit der die Verordnung nach §2 Z2 des COVID-19-Maßnahmengesetzes, LGBl Nr 35/2020, in der Fassung der Verordnung LGBl Nr 41/2020, aufgehoben wird", LGBl 44/2020, mit Ablauf des 6. April 2020 außer Kraft getreten ist, ist festzustellen, dass die genannten Verordnungsbestimmungen gesetzwidrig waren.
V. Ergebnis
1. §4 Abs1, Abs2 und Abs5 der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. März 2020 nach §2 Z2 des COVID-19-Maßnahmengesetzes, LGBl 35/2020, war gesetzwidrig.
2. Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.
3. Der Ausspruch, dass die unter Punkt 1. genannten Bestimmungen nicht mehr anzuwenden sind, stützt sich auf Art139 Abs6 B-VG.
4. Die Verpflichtung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zur unverzüglichen Kundmachung der Aussprüche in Punkt 1. und Punkt 3. erfließt aus Art139 Abs5 zweiter Satz B-VG iVm §4 Abs1 Z4 BGBlG.
5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Schlagworte
COVID (Corona), Verordnung, VfGH / Gerichtsantrag, VfGH / Präjudizialität, VfGH / Prüfungsumfang, Recht auf FreizügigkeitEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2020:V512.2020Zuletzt aktualisiert am
06.04.2022