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E000 EU- Recht allgemeinNorm
AsylG 2005 §8 Abs1Beachte
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revisionen von 1. A A, 2. A A, 3. T A, 4. N A, 5. M A, und 6. A A, alle vertreten durch Mag. Martin Sauseng, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Jakominiplatz 16, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. März 2020, 1. G305 2190311-1/21E, 2. G305 2190309-1/17E, 3. G305 2190332-1/19E, 4. G305 2190325-1/18E, 5. G305 2190329-1/18E und 6. G305 2190320-1/18E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Die Erkenntnisse werden im angefochtenen Umfang wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 Die revisionswerbenden Parteien sind Mitglieder einer Familie; der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind Ehegatten, die dritt- bis sechstrevisionswerbenden Parteien sind ihre minderjährigen Kinder. Sie alle sind irakische Staatsangehörige und bekennen sich zum muslimischen Glauben. Der Erstrevisionswerber ist Sunnit und gehört der Volksgruppe der irakischen Araber an, die Zweitrevisionswerberin ist Schiitin und Angehörige der kurdischen Volksgruppe. Vor ihrer Ausreise lebte die Familie in Bagdad.
2 Die revisionswerbenden Parteien stellten am 17. September 2015 Anträge auf internationalen Schutz, die im Wesentlichen damit begründet wurden, dass der Erstrevisionswerber, der für das irakische Verteidigungsministerium gearbeitet habe, einen Drohbrief einer schiitischen Miliz erhalten habe, in dem er aufgefordert worden sei, seine Arbeit aufzugeben und mit seiner Familie seinen Wohnort zu verlassen. Ergänzend brachte die Zweitrevisionswerberin interkonfessionelle Spannungen als Fluchtgrund vor.
3 Mit Bescheiden vom 20. Februar 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge ab, erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen die revisionswerbenden Parteien Rückkehrentscheidungen und stellte fest, dass ihre Abschiebung in den Irak zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte das BFA mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen fest.
4 Die dagegen erhobene gemeinsame Beschwerde der revisionswerbenden Parteien wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit den angefochtenen Erkenntnissen - die in einer Urkunde ausgefertigt wurden - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Die Revision wurde für nicht zulässig erklärt.
5 Begründend führte das BVwG - zusammengefasst - aus, das Fluchtvorbringen der revisionswerbenden Parteien sei aus näher genannten Gründen nicht glaubhaft. Zwar würden der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin seit 2002 eine interkonfessionelle Ehe führen, das Vorbringen, aufgrund der steigenden religiösen Spannungen und des Drohbriefes an den Erstrevisionswerber das Land verlassen zu haben, erweise sich als unglaubwürdig. Auch lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten nicht vor. Eine besondere Gefährdung der Kinder sei nicht hervorgekommen, zumal die revisionswerbenden Parteien vor ihrer Ausreise in einem 120 m2 großen Haus gelebt hätten; gegenüber habe sich eine Volksschule und dahinter eine militärische Einheit befunden. Die Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser sei intakt. Der Vater und die Schwester des Erstrevisionswerbers lebten in der Nähe eines näher bezeichneten Marktes, ebenso halte sich die gesamte Familie der Zweitrevisionswerberin in Bagdad auf. Eine Schwester der Zweitrevisionswerberin lebe 400 km südlich von Bagdad in Al Omara und arbeite als Tierärztin. Ihre Brüder seien teils gut situiert. Die Familie würde nahe den Märkten von Al Qudus leben und dort ihren Bedarf an Lebensmitteln und Wasser decken. In unmittelbarer Nähe des Hauses der Eltern der Zweitrevisionswerberin befänden sich auch Schulen. Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin seien arbeitsfähig und könnten ein ausreichendes Einkommen für die Familie erwirtschaften. Die revisionswerbenden Parteien könnten bei den in Bagdad verbliebenen Familienangehörigen Wohnung nehmen und sich auf den naheliegenden Märkten versorgen. Zudem könnten die revisionswerbenden Parteien sich auch in Al Omara im Süden des Irak niederlassen.
6 Gegen diese Erkenntnisse, soweit damit die Beschwerden hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten (und die darauf aufbauenden Spruchpunkte) abgewiesen wurden, richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit vorbringt, das BVwG habe die mehrfachen Vulnerabilitäten der revisionswerbenden Parteien als gemischt-ethnische und gemischt religiöse Familie mit insgesamt vier minderjährigen Kindern nicht berücksichtigt und unzureichende Feststellungen dazu getroffen. So habe das BVwG etwa nur rudimentäre und unvollständige Feststellungen zur Situation von Kindern im Irak getroffen. Dabei würde sich aus den UNHCR-Erwägungen vom Mai 2019 eine erhöhte Gefährdung von Kindern im Irak ergeben.
7 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 Die Revision ist zulässig und begründet.
10 Das BVwG führte aus, es wäre dem Erstrevisionswerber und der Zweitrevisionswerberin zuzumuten, sich um einen Arbeitsplatz und Wohnraum im Herkunftsstaat zu bemühen und ein ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften. Es bestünden Unterstützungsmöglichkeiten durch die Verwandten in Bagdad, deren Lebenssituation durchwegs gut sei. Zudem bestehe die Möglichkeit, dass sich die revisionswerbenden Parteien in Al Omara im Süden des Irak niederlassen.
11 Dass es sich bei den revisionswerbenden Parteien um eine Familie mit vier minderjährigen Kindern, sohin um besonders vulnerable Personen handelt, lässt das BVwG dabei außer Betracht. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besteht vor allem unter dem Gesichtspunkt der besonderen Vulnerabilität von Kindern die Verpflichtung, eine ganzheitliche Bewertung der möglichen Gefahren, die eine Familie mit minderjährigen Kindern bei einer Rückkehr zu erwarten habe, durchzuführen (vgl. etwa VwGH 4.10.2018, Ra 2018/18/0229 bis 0232, mwN). Dieser Verpflichtung wird das BVwG mit seinen lediglich allgemein gehaltenen Ausführungen nicht gerecht, zumal es sich im Revisionsfall um eine sowohl interethnische Ehe als auch um eine sunnitisch-schiitische „Mischehe“ handelt, wie das BVwG selbst feststellt. Weiters lässt das BVwG eine konkrete Auseinandersetzung mit der tatsächlich vorzufindenden Rückkehrsituation der revisionswerbenden Parteien sowohl zur Sicherheitslage als auch zur Lebenssituation der minderjährigen Kinder vermissen. Den Länderfeststellungen des BVwG ist dabei zu entnehmen, dass sich die Sicherheitsbeeinträchtigungen in Bagdad auf vereinzelte Anschläge auf öffentliche Einrichtungen und Plätze mit einer teils erheblichen Anzahl an zivilen Opfern beschränken, jedoch setzt sich das BVwG, dessen Feststellungen zufolge die revisionswerbenden Parteien vor ihrer Ausreise zwischen einer Schule und einer militärischen Einrichtung gewohnt hatten, damit konkret bezogen auf die Rückkehrsituation der revisionswerbenden Parteien nicht weiter auseinander. Auch geht aus der Begründung des BVwG nicht eindeutig hervor, ob es davon ausgeht, dass die Familie wieder in dieses Haus zurückgehen könne oder ob sie auf eine Unterkunftnahme bei den Verwandten angewiesen wären und ob dies konkret möglich wäre. Weiters leben den allgemeinen Feststellungen des BVwG zu Kindern im Irak zufolge über ein Viertel der Kinder im Irak in Armut, 22,6 % aller Kinder seien unterernährt, Kinderarbeit sei verbreitet. Dazu hält das BVwG fest, dass anlassbezogen nicht hervorgekommen sei, dass die minderjährigen Revisionswerber „bei einer Rückkehr der sich aus den Länderberichten unsubstantiiert beschriebenen Lage von Kindern im Herkunftsstaat ausgesetzt sein könnten, zumal die bfP vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat ein Haus mit einer Nutzfläche von ca. 120 m2 bewohnten“, auch die Beziehung zu den Nachbarn sei gut gewesen. Eine konkrete Auseinandersetzung mit der Rückkehrsituation der Kinder im Irak kann darin nicht erblickt werden (zumal das BVwG damit lediglich die Wohnsituation der Familie vor deren Ausreise beschreibt, nicht jedoch welche Lebensbedingungen sie bei einer allfälligen Rückkehr zu gewärtigen hätte). Auch können die sodann folgenden Feststellungen zur Lebenssituation der in Bagdad verbliebenen Familienangehörigen eine umfassende Auseinandersetzung mit der Rückkehrsituation der Familie nicht ersetzen. Das BVwG legt dazu auch nicht dar, wo die Familie wohnen soll (im Haus, in dem sie vor ihrer Ausreise wohnte, bei der Familie des Revisionswerbers oder der der Zweitrevisionswerberin) und wie die im Irak verbliebenen Familienangehörigen in der Lage sein sollten, die sechsköpfige Familie so zu unterstützen, dass ihnen keine dem Art. 3 EMRK widersprechende Lebenssituationen drohen würde (vgl. VwGH 13.11.2019, Ra 2019/18/0303).
12 Sofern das BVwG ausführt, die revisionswerbenden Parteien könnten sich auch in Al Omara im Süden des Irak niederlassen und damit auf das Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative abzielt, lässt das Erkenntnis eine konkrete Auseinandersetzung mit den Anforderungen an eine innerstaatliche Fluchtalternative, insbesondere mit dem dieser innewohnenden Zumutbarkeitskalkül zur Gänze vermissen (vgl. VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001).
13 Damit hat das BVwG seine Entscheidung mit einem relevanten Verfahrensmangel belastet, weil nicht auszuschließen ist, dass das BVwG nach konkreter Auseinandersetzung mit der tatsächlich vorzufindenden Rückkehrsituation zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass den revisionswerbenden Parteien subsidiärer Schutz zu gewähren gewesen wäre.
14 Das Erkenntnis war daher im angefochtenen Umfang in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
15 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 7. Jänner 2021
Schlagworte
Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020180139.L00Im RIS seit
01.03.2021Zuletzt aktualisiert am
01.03.2021