Entscheidungsdatum
14.09.2020Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W222 2187172-2/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. OBREGON als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Indien, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.06.2020, Zl. XXXX , zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird gemäß § 68 Abs. 1 AVG als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Vorverfahren:
Der Beschwerdeführer, ein indischer Staatsangehöriger, reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 07.05.2002 seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, dass seine Familie mit der Alkali Dal Partei sympathisiere, wobei derzeit jedoch die Kongresspartei an der Macht sei. Diese setze alle Mittel ein, damit die Familie der Partei beitrete. Anderseits werde die Familie aber auch durch die Alkali Dal mit dem Leben bedroht, falls sie der Kongresspartei beitreten würde. Der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz wurde in weiterer Folge vom Bundesasylamt mit Bescheid vom 03.02.2005, Zl. XXXX , abgewiesen. Unter einem erklärte das Bundesasylamt die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Indien gemäß § 8 Abs. 1 AsylG für zulässig. Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen.
Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom 07.04.2010, Zl. XXXX , wurde die dagegen erhobene Beschwerde im Umfang der Spruchteile I. und II. des Bescheides abgewiesen; die Beschwerde gegen Spruchteil III. wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 mit der Maßgabe abgewiesen, dass der Spruch zu lauten hat: „Gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idgF (AsylG 2005), wird [der Beschwerdeführer] aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Indien ausgewiesen.“ Das Erkenntnis erwuchs anschließend in Rechtskraft.
Am 02.12.2017 stellte der Beschwerdeführer seinen zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Im Rahmen der Befragung gab er zu den Gründen für seine erneute Antragstellung an, er habe keine neuen Asylgründe und es blieben seine „alten“ aufrecht, zumal es die politischen Streitereien in Indien noch immer gebe. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies mit Bescheid vom 30.01.2018, Zl. XXXX , den Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie den Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Indien gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt II.). Dem Beschwerdeführer wurde gemäß § 57 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Indien zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit hg. Erkenntnis vom 15.10.2018, GZ: XXXX , als unbegründet abgewiesen. Diese Entscheidung erwuchs anschließend ebenfalls in Rechtskraft.
Am 30.12.2019 stellte der Beschwerdeführer seinen dritten Antrag auf internationalen Schutz, welcher hinsichtlich des Status des Asylberechtigten sowie des subsidiär Schutzberechtigten mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.02.2020, Zl. XXXX , – in Verbindung mit einer Rückkehrentscheidung und einem Einreiseverbot – wegen entschiedener Sache rechtskräftig zurückgewiesen wurde.
2. Gegenständliches Verfahren:
Am 15.05.2020 stellte der Beschwerdeführer den gegenständlichen vierten Antrag auf internationalen Schutz. In der Erstbefragung am selben Tag führte er im Wesentlichen aus, er halte seine alten Fluchtgründe nach wie vor aufrecht und werde immer noch verfolgt. Er sei von 2010 bis 2017 in Frankreich gewesen und als er auch dort verfolgt worden sei, sei er wieder nach Österreich zurückgekehrt.
Mit Verfahrensanordnung vom 25.05.2020 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 29 Abs. 3 Z 4 AsylG 2005 mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, seinen Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen, zumal die Behörde davon ausgehe, dass eine entschiedene Sache im Sinne des § 68 AVG vorliege.
Am selben Tag wurde dem Beschwerdeführer das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Indien vom 30.03.2020 übermittelt und ihm die Möglichkeit zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme bis zum Termin seiner Einvernahme eingeräumt.
Ebenfalls am 25.05.2020 wurde ein ausgefülltes und vom Beschwerdeführer unterschriebenes Antragsformular für unterstützte freiwillige Rückkehrhilfe übermittelt.
In der am 18.06.2020 durchgeführten Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl führte der Beschwerdeführer zusammengefasst aus, er sei gesund und benötige keine Medikamente. Er verfüge im Bereich der Europäischen Union über keine Verwandten, zu denen ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis bzw. eine besonders enge Beziehung bestehe. Auch sonst gebe es keine Personen in Österreich, von denen der Beschwerdeführer abhängig wäre. Gefragt, was dem Beschwerdeführer passieren würde, wenn er jetzt in seinen Herkunftsstaat zurückkehren müsste, gab er an, dass er das nicht wisse. Wenn man die Nachrichten auf YouTube verfolge, habe der Beschwerdeführer Angst. Er wisse nicht, ob diese Nachrichten überhaupt stimmten oder ob diese nur zum „Angst machen“ publik gemacht würden. Er würde jedenfalls bei seinen Eltern sterben wollen. Er sei auch fähig bis ins hohe Alter zu arbeiten. Seit der letzten Entscheidung in seinem Vorverfahren habe sich nichts an seinem geführten Privatleben geändert. Gegen die Zurückweisung wegen entschiedener Sache habe der Beschwerdeführer nichts; er wolle nur mit seinen Papieren offiziell ausreisen. Der Beschwerdeführer legte eine Kopie seines Reisepasses sowie eine in englischer Sprache verfasste Stellungnahme vom 29.05.2020 vor.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 18.06.2020 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück (Spruchpunkt II.).
Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zusammengefasst aus, der Beschwerdeführer habe im neuerlichen Asylverfahren keine asylrelevanten Gründe vorgebracht bzw. habe sich kein neuer objektiver Sachverhalt ergeben. Auch die aktuelle COVID-19-Pandemie erfordere keine Zuerkennung von subsidiärem Schutz. Das individuelle Risiko des Beschwerdeführers an SARS-CoV-2 schwer oder gar tödlich zu erkranken sei sehr niedrig. Das Risiko eines derartig schweren Verlaufs der Erkrankung sei nämlich bei jungen nicht immungeschwächten Menschen viel geringer, als bei Menschen aus Risikogruppen (alte und immungeschwächte Menschen). Auch wenn daher nicht ausgeschlossen werden könne, dass sich der Beschwerdeführer mit dem Erreger SARS-CoV-2 in seinem Herkunftsstaat infiziere – was aber auch für den Fall seines Verbleibs in Österreich gelten würde – sei das Risiko eines schweren oder gar tödlichen Verlaufs der Erkrankung äußerst gering. Ein „real risk“ einer Verletzung des Art. 3 EMRK drohe dem Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat aufgrund der COVID-19-Pandemie daher nicht.
Dagegen erhob der Beschwerdeführer mit am 02.07.2020 eingelangtem Schreiben fristgerecht Beschwerde und machte die inhaltliche Rechtswidrigkeit sowie die Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend. Dabei monierte er nach einer kurzen Sachverhaltsdarstellung im Wesentlichen, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl habe es unterlassen, seiner Entscheidung einschlägige und aktuelle Länderberichte zugrunde zu legen. Die belangte Behörde hätte sich jedenfalls mit der COVID-19-Situation in Indien bzw. der Lage des Beschwerdeführers genauer auseinandersetzen müssen. Es sei schon daher nicht nachvollziehbar, weshalb die Behörde davon ausgehe, es handle sich um eine entschiedene Sache, da sich die Sachlage offensichtlich seit der Vorentscheidung massiv verschlechtert habe. Weiters habe das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aufgrund des mangelhaften Ermittlungsverfahrens – fehlende Feststellungen, qualifiziert mangelhafte Beweiswürdigung zur persönlichen Unglaubwürdigkeit – keine ganzheitliche Würdigung des individuellen Vorbringens vorgenommen. Beim Vorbringen des Beschwerdeführers handle es sich zudem um nova producta, die erst nach dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts bzw. nach Rechtskraft des Bescheides vom 03.02.2020, mit dem der Asylantrag des Beschwerdeführers zurückgewiesen worden sei, entstanden seien. Es könne daher nicht von einer Identität der Sache gemäß § 68 AVG gesprochen werden, weswegen die Erlassung einer zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 Abs. 1 AVG unzulässig und rechtswidrig gewesen sei. Dem Beschwerdeführer sei aufgrund der unzureichenden Gesundheitsversorgung, der sich massiv verschlechternden Wirtschafts- und Sicherheitslage und der schlechten Versorgungslage eine Rückkehr keineswegs möglich. Aus den dargestellten Gründen werde zudem ersucht, das erkennende Gericht möge der gegenständlichen Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkennen. Abschließend wurde die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragt.
Die gegenständliche Beschwerde gegen den Bescheid vom 18.06.2020 und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 06.07.2020 vorgelegt.
Am 20.08.2020 wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein Protokollsvermerk und eine gekürzte Urteilsausfertigung des Landesgerichts Korneuburg übermittelt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der gesunde Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Indien und stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 07.05.2002 seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz, den das Bundesasylamt mit Bescheid vom 03.02.2005, Zl. XXXX , vollinhaltlich abwies. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 07.04.2010, Zl. XXXX , rechtskräftig abgewiesen.
Der Beschwerdeführer befand sich anschließend von 2010 bis 2017 in Frankreich. Als er wieder nach Österreich zurückkehrte, stellte er am 02.12.2017 seinen zweiten Antrag auf internationalen Schutz, den das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Bescheid vom 30.01.2018, Zl. XXXX , ebenfalls vollinhaltlich abwies. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit hg. Erkenntnis vom 15.10.2018, GZ: XXXX , rechtskräftig als unbegründet abgewiesen.
Sein dritter Antrag auf internationalen Schutz vom 30.12.2019 wurde hinsichtlich des Status des Asylberechtigten sowie des subsidiär Schutzberechtigten mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.02.2020, Zl. XXXX , – in Verbindung mit einer Rückkehrentscheidung und einem Einreiseverbot – wegen entschiedener Sache rechtskräftig zurückgewiesen.
Am 25.02.2020 stellte der Beschwerdeführer den gegenständlichen vierten Antrag auf internationalen Schutz und führte dazu in der Erstbefragung Folgendes aus:
„Ich halte meine alten Fluchtgründe alle nach wie vor aufrecht. Ich werde immer noch verfolgt und auch hier werde ich verfolgt. Ich war von 2010 bis 2017 in Frankreich und als ich dann auch dort verfolgt wurde, kehrte ich nach Österreich zurück.“
Neues (relevantes) Tatsachenvorbringen und neue Tatsachen, die eine gegenüber der rechtskräftigen Entscheidung vom 15.10.2018 in wesentlichen Punkten geänderte Sachlage begründen, sind nicht gegeben. Weiters konnte auch eine maßgebliche Änderung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat seit rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über den zweiten Antrag auf internationalen Schutz nicht festgestellt werden.
Die Eltern und vier Geschwister des Beschwerdeführers leben in Indien.
Zur allgemeinen politischen und menschenrechtlichen Situation in Indien:
Politische Lage
Letzte Änderung: 30.03.2020
Indien ist mit über 1,3 Milliarden Menschen und einer multireligiösen und multiethnischen Gesellschaft die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt (CIA Factbook 28.2.2020; vgl. AA 19.7.2019). Im Einklang mit der Verfassung haben die Bundesstaaten und Unionsterritorien ein hohes Maß an Autonomie und tragen die Hauptverantwortung für Recht und Ordnung (USDOS 11.3.2020). Die Hauptstadt New Delhi hat einen besonderen Rechtsstatus (AA 2.2020a).
Der Grundsatz der Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative ist nach britischem Muster durchgesetzt (AA 2.2020a; vgl. AA 19.7.2019). Die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit ist verfassungsmäßig garantiert, der Instanzenzug ist dreistufig (AA 19.7.2019). Das oberste Gericht (Supreme Court) in New Delhi steht an der Spitze der Judikative und wird gefolgt von den High Courts auf Länderebene (GIZ 11.2019a). Die Pressefreiheit ist von der Verfassung verbürgt, jedoch immer wieder Anfechtungen ausgesetzt. Indien hat eine lebendige Zivilgesellschaft (AA 2.2020a).
Indien ist eine parlamentarische Demokratie und verfügt über ein Mehrparteiensystem und ein Zweikammerparlament (USDOS 11.3.2020). Darüber hinaus gibt es Parlamente auf Bundesstaatsebene (AA 19.7.2019).
Der Präsident ist das Staatsoberhaupt und wird von einem Wahlausschuss gewählt, während der Premierminister der Regierungschef ist (USDOS 11.3.2020). Der Präsident nimmt weitgehend repräsentative Aufgaben wahr. Die politische Macht liegt hingegen beim Premierminister und seiner Regierung, die dem Parlament verantwortlich ist. Präsident ist seit 25. Juli 2017 Ram Nath Kovind, der der Kaste der Dalits (Unberührbaren) entstammt (GIZ 11.2019a).
Im April/Mai 2019 wählten etwa 900 Mio. Wahlberechtigte ein neues Unterhaus. Im System des einfachen Mehrheitswahlrechts konnte die Bharatiya Janata Party (BJP) unter der Führung des amtierenden Premierministers Narendra Modi ihr Wahlergebnis von 2014 nochmals verbessern (AA 19.7.2019).
Als deutlicher Sieger mit 352 von 542 Sitzen stellt das Parteienbündnis „National Democratic Alliance“, mit der BJP als stärkster Partei (303 Sitze) erneut die Regierung. Der BJP-Spitzenkandidat und amtierende Premierminister Narendra Modi wurde im Amt bestätigt. Die United Progressive Alliance rund um die Congress Party (52 Sitze) erhielt insgesamt 92 Sitze (AA 19.7.2019). Die Wahlen verliefen, abgesehen von vereinzelten gewalttätigen Zusammenstößen korrekt und frei. Im Wahlbezirk Vellore (East) im Bundesstaat Tamil Nadu wurden die Wahlen wegen des dringenden Verdachts des Stimmenkaufs ausgesetzt und werden zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt (AA 19.7.2019). Mit der BJP-Regierung unter Narendra Modi haben die hindunationalistischen Töne deutlich zugenommen. Die zahlreichen hindunationalen Organisationen, allen voran das Freiwilligenkorps RSS, fühlen sich nun gestärkt und versuchen verstärkt, die Innenpolitik aktiv in ihrem Sinn zu bestimmen (GIZ 11.2019a). Mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts treibt die regierende BJP ihre hindunationalistische Agenda weiter voran. Die Reform wurde notwendig, um die Defizite des Bürgerregisters des Bundesstaats Assam zu beheben und den Weg für ein landesweites Staatsbürgerregister zu ebnen. Kritiker werfen der Regierung vor, dass die Vorhaben vor allem Muslime und Musliminnen diskriminieren, einer großen Zahl von Personen den Anspruch auf die Staatsbürgerschaft entziehen könnten und Grundwerte der Verfassung untergraben (SWP 2.1.2020; vgl. TG 26.2.2020). Kritiker der Regierung machten die aufwiegelnde Rhetorik und die Minderheitenpolitik der regierenden Hindunationalisten, den Innenminister und die Bharatiya Janata Party (BJP) für die Gewalt verantwortlich, bei welcher Ende Februar 2020 mehr als 30 Personen getötet wurden. Hunderte wurden verletzt (FAZ 26.2.2020; vgl. DW 27.2.2020).
Bei der Wahl zum Regionalparlament der Hauptstadtregion Neu Delhi musste die Partei des Regierungschefs Narendra Modi gegenüber der regierenden Antikorruptionspartei Aam Aadmi (AAP) eine schwere Niederlage einstecken. Diese gewann die Regionalwahl erneut mit 62 von 70 Wahlbezirken. Die AAP unter Führung von Arvind Kejriwal, punktete bei den Wählern mit Themen wie Subventionen für Wasser und Strom, Verbesserung der Infrastruktur für medizinische Dienstleistungen sowie die Sicherheit von Frauen, während die BJP für das umstrittene Staatsbürgerschaftsgesetz warb (KBS 12.2.2020). Modis Partei hat in den vergangenen zwei Jahren bereits bei verschiedenen Regionalwahlen in den Bundesstaaten Maharashtra und Jharkhand heftige Rückschläge hinnehmen müssen (quanatra.de 14.2.2020; vgl. KBS 12.2.2020).
Unter Premierminister Modi betreibt Indien eine aktivere Außenpolitik als zuvor. Die frühere Strategie der „strategischen Autonomie“ wird zunehmend durch eine Politik „multipler Partnerschaften“ mit allen wichtigen Ländern in der Welt überlagert. Wichtigstes Ziel der indischen Außenpolitik ist die Schaffung eines friedlichen und stabilen globalen Umfelds für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und als aufstrebende Großmacht die zunehmende verantwortliche Mitgestaltung regelbasierter internationaler Ordnung (BICC 12.2019). Ein ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat ist dabei weiterhin ein strategisches Ziel (GIZ 11.2019a). Gleichzeitig strebt Indien eine stärkere regionale Verflechtung mit seinen Nachbarn an, wobei nicht zuletzt Alternativkonzepte zur einseitig sino-zentrisch konzipierten „Neuen Seidenstraße“ eine wichtige Rolle spielen. In der Region Südasien setzt Indien zudem zunehmend auf die Regionalorganisation BIMSTEC (Bay of Bengal Initiative for Multi-Sectoral Technical and Economic Cooperation). Indien ist Dialogpartner der südostasiatischen Staatengemeinschaft und Mitglied im „Regional Forum“ (ARF). Überdies nimmt Indien am East Asia Summit und seit 2007 auch am Asia-Europe Meeting (ASEM) teil. Die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) hat Indien und Pakistan 2017 als Vollmitglieder aufgenommen. Der Gestaltungswille der BRICS-Staatengruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) schien zuletzt abzunehmen (BICC 12.2019).
Die Beziehungen zu Bangladesch sind von besonderer Natur, teilen die beiden Staaten doch eine über 4.000 km lange Grenze. Indien kontrolliert die Oberläufe der wichtigsten Flüsse Bangladeschs und war historisch maßgeblich an der Entstehung Bangladeschs während seines Unabhängigkeitskrieges beteiligt. Schwierige Fragen wie Transit, Grenzverlauf, ungeregelter Grenzübertritt und Migration, Wasserverteilung und Schmuggel werden in regelmäßigen Regierungsgesprächen erörtert. Die Beziehungen des Landes zur EU sind vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht von besonderer Bedeutung. Die EU ist der größte Handels- und Investitionspartner Indiens. Der Warenhandel in beide Richtungen hat sich faktisch stetig ausgeweitet (GIZ 11.2019a).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (19.7.2019): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2014276/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Mai_2019%29%2C_19.07.2019.pdf, Zugriff 19.3.2020
- AA – Auswärtiges Amt (2.2020a): Indien: Politisches Porträt, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/indien-node/politisches-portrait/206048, Zugriff 27.3.2020
- AA - Auswärtiges Amt (11.2019b): Indien, Außenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/indien-node/politisches-portrait/206048, Zugriff 16.1.2020
- BICC - Bonn International Centre for Conversion (12.2019): Informationsdienst - Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte: Länderinformation Indien, http://www.ruestungsexport.info/user/pages/04.laenderberichte/indien/2019_Indien.pdf, Zugriff 10.2.2020
- CIA - Central Intelligence Agency (28.2.2020): The World Factbook – India, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/in.html, Zugriff 17.3.2020
- DW – Deutsche Welle (27.2.2020): Sierens China: Schwieriges Dreiecksverhältnis, https://www.dw.com/de/sierens-china-schwieriges-dreiecksverh%C3%A4ltnis/a-52556817, Zugriff 28.2.2020
- FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.2.2020): Immer mehr Tote nach Unruhen in Delhi, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/indien-tote-bei-gewalt-zwischen-hindus-und-muslimen-in-delhi-16652177.html, Zugriff 28.2.2020
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2019a): Indien, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/indien/geschichte-staat/, Zugriff 27.3.2020
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmBH (3.2020b): Indien, Wirtschaftssystem und Wirtschaftspolitik, https://www.liportal.de/indien/wirtschaft-entwicklung/, Zugriff 30.3.2020
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (3.2020c): Indien, Überblick, https://www.liportal.de/indien/ueberblick/, Zugriff 27.3.2020
- KBS – Korean Broadcasting System (12.2.2020): Niederlage für Indiens Regierungschef Modi bei Wahl in Neu Delhi, http://world.kbs.co.kr/service/contents_view.htmlang=g&board_seq=379626, Zugriff 14.2.2020
- Quantara.de (14.2.2020): Herbe Niederlage für Indiens Regierungschef Modi bei Wahl in Neu Delhi, https://de.qantara.de/content/herbe-niederlage-fuer-indiens-regierungschef-modi-bei-wahl-in-neu-delhi, Zugriff 20.2.2020
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (8.2019): Indiens Ringen um die Staatsbürgerschaft, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2020A02_wgnArora_WEB.pdf, Zugriff 18.2.2020
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (8.2019): Keine Ruhe in Kaschmir. Die Auflösung des Bundesstaats und die Folgen für Indien, https://www.swp-berlin.org/10.18449/2019A45/, Zugriff 16.1.2020
- TG – The Guardian (26.2.2020): Anti-Muslim violence in Delhi serves Modi well, https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/feb/26/violence-delhi-modi-project-bjp-citizenship-law, Zugriff 28.2.2020
- USDOS – US Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026357.html, Zugriff 13.3.2020
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 30.03.2020
Es gibt in Indien eine Vielzahl von Spannungen und Konflikten, Gewalt ist an der Tagesordnung (GIZ 11.2019a). Terroristische Anschläge in den vergangenen Jahren (Dezember 2010 in Varanasi, Juli 2011 in Mumbai, September 2011 in New Delhi und Agra, April 2013 in Bangalore, Mai 2014 in Chennai und Dezember 2014 in Bangalore) und insbesondere die Anschläge in Mumbai im November 2008 haben die Regierung unter Druck gesetzt. Von den Anschlägen der letzten Jahre wurden nur wenige restlos aufgeklärt und die als Reaktion auf diese Vorfälle angekündigten Reformvorhaben zur Verbesserung der indischen Sicherheitsarchitektur wurden nicht konsequent umgesetzt (AA 24.4.2015). Aber auch im Rest des Landes gab es in den letzten Jahren Terroranschläge mit islamistischem Hintergrund. Im März 2017 platzierte eine Zelle des „Islamischen Staates“ (IS) in der Hauptstadt des Bundesstaates Madhya Pradesh eine Bombe in einem Passagierzug. Die Terrorzelle soll laut Polizeiangaben auch einen Anschlag auf eine Kundgebung von Premierminister Modi geplant haben (BPB 12.12.2017). Das Land unterstützt die US-amerikanischen Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus. Intern wurde eine drakonische neue Anti-Terror-Gesetzgebung verabschiedet, die Prevention of Terrorism Ordinance (POTO), von der Menschenrechtsgruppen fürchten, dass sie auch gegen legitime politische Gegner missbraucht werden könnte (BICC 12.2020).
Die Spannungen im Nordosten des Landes gehen genauso weiter wie die Auseinandersetzung mit den Naxaliten (maoistische Untergrundkämpfer, Anm.) (GIZ 11.2019a), die das staatliche Gewaltmonopol gebietsweise infrage stellen (AA 19.7.2019).
Konfliktregionen sind Jammu und Kashmir, die nordöstlichen Regionen und der maoistische Gürtel. In Jharkhand und Bihar setzten sich die Angriffe von maoistischen Rebellen auf Sicherheitskräfte und Infrastruktur fort. In Punjab kam es bis zuletzt durch gewaltbereite Regierungsgegner immer wieder zu Morden und Bombenanschlägen. Neben den islamistischen Terroristen tragen die Naxaliten zur Destabilisierung des Landes bei. Von Chattisgarh aus kämpfen sie in vielen Unionsstaaten (von Bihar im Norden bis Andrah Pradesh im Süden) mit Waffengewalt gegen staatliche Einrichtungen. Im Nordosten des Landes führen zahlreiche Separatistengruppen (United Liberation Front Assom, National Liberation Front Tripura, National Socialist Council Nagaland, Manipur People’s Liberation Front etc.) einen Kampf gegen die Staatsgewalt und fordern entweder Unabhängigkeit oder mehr Autonomie. Der gegen Minderheiten wie Moslems und Christen gerichtete Hindu-Radikalismus wird selten von offizieller Seite in die Kategorie Terror eingestuft, sondern vielmehr als „communal violence“ bezeichnet (ÖB 8.2019).
Erhebungen maoistischer Gruppierungen in den ostzentralen Bergregionen Indiens dauern an. Angaben zu Folge haben Rebellen illegale Steuern erhoben, Lebensmittel und Unterkünfte beschlagnahmt und sich an Entführungen und Zwangsrekrutierungen von Kindern und Erwachsenen beteiligt. Zehntausende von Zivilisten wurden durch die Gewalt vertrieben und leben in von der Regierung geführten Lagern. Unabhängig davon greifen in den sieben nordöstlichen Bundesstaaten Indiens mehr als 40 aufständische Gruppierungen, welche entweder eine größere Autonomie oder die vollständige Unabhängigkeit ihrer ethnischen oder Stammesgruppen anstreben, weiterhin Sicherheitskräfte an. Auch kommt es weiterhin zu Gewalttaten unter den Gruppierungen, welche sich in Bombenanschlägen, Morden, Entführungen, Vergewaltigungen von Zivilisten und in der Bildung von umfangreichen Erpressungsnetzwerken ausdrücken (FH 4.3.2020).
Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 907 Todesopfer durch terrorismusrelevante Gewalt. Im Jahr 2017 wurden 812 Personen durch terroristische Gewalt getötet und im Jahr 2018 kamen 940 Menschen durch Terrorakte. 2019 belief sich die Opferzahl terrorismus- relevanter Gewalt landesweit auf insgesamt 621 Tote. Bis zum 5.3.2020 wurden 81 Todesopfer durch terroristische Gewaltanwendungen registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen] (SATP 17.3.2020).
Gegen militante Gruppierungen, die meist für die Unabhängigkeit bestimmter Regionen eintreten und/oder radikalen (z. B. Maoistisch-umstürzlerische) Auffassungen anhängen, geht die Regierung mit großer Härte und Konsequenz vor. Sofern solche Gruppen der Gewalt abschwören, sind in der Regel Verhandlungen über ihre Forderungen möglich. Gewaltlose Unabhängigkeitsgruppen können sich politisch frei betätigen (AA 19.7.2019).
Indien und Pakistan
Pakistan erkennt weder den Beitritt Jammu und Kaschmirs zur indischen Union im Jahre 1947 noch die seit dem ersten Krieg im gleichen Jahr bestehende de-facto-Aufteilung der Region auf beide Staaten an. Indien hingegen vertritt den Standpunkt, dass die Zugehörigkeit Jammu und Kaschmirs in seiner Gesamtheit zu Indien nicht zur Disposition steht (Piazolo 2008). Die äußerst angespannte Lage zwischen Indien und Pakistan hat sich in der Vergangenheit immer wieder in Grenzgefechten entladen, welche oft zu einem größeren Krieg zu eskalieren drohten. Seit 1947 gab es bereits drei Kriege aufgrund des umstrittenen Kaschmir-Gebiets (BICC 12.2019; vgl. BBC 23.1.2018).
Nach dem friedlichen Unabhängigkeitskampf gegen die britische Kolonialherrschaft zeigte bereits die blutige Teilung Britisch-Indiens, die mit einer Massenflucht, schweren Gewaltausbrüchen und Pogromen einherging, wie schwierig es sein wird, die ethnisch, religiös, sprachlich und sozioökonomisch extrem heterogene Gesellschaft in einem Nationalstaat zusammenzuhalten. Die inter-religiöse Gewalt setzte sich auch nach der Teilung zwischen Indien und Pakistan fort (BPB 12.12.2017).
Indien wirft Pakistan dabei unter anderem vor, in Indien aktive terroristische Organisationen zu unterstützen und fordert ein Ende dieser Unterstützung ebenso wie der Unterstützung kaschmirischer Separatisten. Pakistan hingegen fordert eine Volksabstimmung über die Zukunft der Region, da der Verlust des größtenteils muslimisch geprägten Gebiets als Bedrohung der islamischen Identität Pakistans wahrgenommen wird (BICC 12.2019). Nach einem Terrorangriff auf eine indische Militärbasis in Kaschmir Mitte September 2016 eskaliert die Rhetorik auf beiden Seiten erneut (DW 29.9.2016). So kommt es immer wieder zu Schusswechseln zwischen Truppenteilen Indiens und Pakistans an der Waffenstillstandslinie in Kaschmir (BICC 12.2019). So drang die indische Luftwaffe am 26.2.2019 als Vergeltung für einen am 14.2.2019 verübten Selbstmordanschlag erstmals seit dem Krieg im Jahr 1971 in den pakistanischen Luftraum ein, um ein Trainingslager der islamistischen Gruppierung Jaish-e-Mohammad in der Region Balakot, Provinz Khyber Pakhtunkhwa, zu bombardieren (SZ 26.2.2019; vgl. FAZ 26.2.2019, WP 26.2.2019). Indien ist überzeugt, dass der Selbstmordanschlag vom 14.2.2019 von Pakistan aus geplant und unterstützt worden ist (NZZ 26.2.2019). Die Armeen der verfeindeten Nachbarn hatten seit Anfang März 2019 immer wieder an verschiedenen Stellen über die de-facto-Grenze zwischen den von Pakistan und Indien kontrollierten Teilen Kaschmirs das Feuer eröffnet (Presse 2.3.2019) und kurz darauf gemeldet, dass die Lage entlang der „Line of Control“ wieder relativ ruhig sei (Reuters 3.3.2019)
Indien und China
Der chinesisch-indische Grenzverlauf im Himalaya ist weiterhin umstritten. Auch hat China Indien nie verziehen, dem Dalai Lama Exil gewährt zu haben. Dennoch hat keine der beiden Seiten ein Interesse daran, die Meinungsverschiedenheiten in offenen Streit umschlagen zu lassen (FAZ 27.2.2020), doch haben sowohl Indien als auch China Ambitionen, ihren Einflussbereich in Asien auszuweiten (BICC 12.2019).
Der amerikanisch-chinesische Handelskrieg hat die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Indien und China gestärkt und neue Möglichkeiten für indische Unternehmen auf dem chinesischen Markt geschaffen. Dennoch ist Delhi besorgt, dass chinesische Waren den heimischen Markt überschwemmen und lokale Anbieter verdrängen. Das ist auch der Grund, warum Indien noch einmal nachverhandeln will, wenn es um das „Regional Comprehensive Economic Partnership“ (RCEP) Abkommen geht, das gemeinsam mit den meisten asiatischen Ländern größte Freihandelsabkommen der Welt, zu schaffen. Indien fühlt sich von Peking geopolitisch herausgefordert, da China innerhalb seiner „Neuen Seidenstraße“ Allianzen mit Indiens Nachbarländern Pakistan, Bangladesch, Nepal und Sri Lanka geschmiedet hat. Besonders der Wirtschaftskorridor mit dem Erzfeind Pakistan ist den Indern ein Dorn im Auge (FAZ 27.2.2020). Bestimmender Faktor des indischen Verhältnisses zu China ist das immer wieder auch in Rivalität mündende Neben- und Miteinander zweier alter Kulturen, die heute die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt sind. Das bilaterale Verhältnis ist von einem signifikanten Ungleichgewicht zu Gunsten Chinas gekennzeichnet (BICC 12.2019).
Indien und Sri Lanka pflegen ein eher ambivalentes Verhältnis, das durch den mittlerweile beendeten Bürgerkrieg auf Sri Lanka zwischen der tamilischen Minderheit und singhalesischen Mehrheit stark beeinflusst wurde. Die tamilische Bevölkerungsgruppe in Indien umfasst ca. 65 Millionen Menschen, woraus sich ein gewisser Einfluss auf die indische Außenpolitik ergibt (GIZ 11.2019a). Darüber hinaus bestehen kleinere Konflikte zwischen Indien und Bangladesch (BICC 12.2019).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (19.7.2019): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2014276/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Mai_2019%29%2C_19.07.2019.pdf, Zugriff 19.3.2020
- AA - Auswärtiges Amt (19.7.2019): Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien
- BBC - British Broadcasting Corporation (23.1.2018): India country profile – Overview, http://www.bbc.co.uk/news/world-south-asia-12557384, Zugriff 29.1.2019
- BICC - Bonn International Centre for Conversion (12.2019): Informationsdienst - Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte: Länderinformation Indien, http://www.ruestungsexport.info/user/pages/04.laenderberichte/indien/2019_Indien.pdf, Zugriff 10.2.2020
- BPB - Bundeszentrale für politische Bildung (Deutschland) (12.12.2017): Konfliktporträt: Indien, http://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/215390/indien, Zugriff 18.3.2020
- DW – Deutsche Welle (29.9.2016): Indien und Pakistan lassen Kaschmir-Konflikt eskalieren, https://www.dw.com/de/indien-und-pakistan-lassen-kaschmir-konflikt-eskalieren/a-35922107, Zugriff 11.2.2020
- FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.2.2019): Pakistan: Wir behalten uns vor, auf Indiens Angriffe zu reagieren, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/indische-luftwaffe-verletzt-den-pakistanischen-luftraum-16061769.html, Zugriff 6.8.2019
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025925.html, Zugriff 10.3.2020
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2019a): Indien, https://www.liportal.de/indien/geschichte-staat/, Zugriff 17.3.2020
- NZZ – Neue Züricher Zeitung (26.2.2019): Die Spirale der Eskalation dreht, https://www.nzz.ch/meinung/indien-bombardiert-pakistan-spirale-der-eskalation-dreht-ld.1462893, Zugriff 6.8.2019
- ÖB - Österreichische Botschaft New Delhi (8.2019): Asylländerbericht Indien
- Piazolo, Michael (2008): Macht und Mächte in einer multipolaren Welt. Springer Verlag. Seite 201
- Presse, die (2.3.2019): Kaschmir: Sieben Tote bei Schüssen an Grenze von Indien und Pakistan, https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5588780/Kaschmir_Sieben-Tote-bei-Schuessen-an-Grenze-von-Indien-und-Pakistan, Zugriff 6.8.2019
- Reuters (3.3.2019): India-Pakistan border quiet but Kashmir tense amid militancy crackdown, https://www.reuters.com/article/us-india-kashmir-pakistan-idUSKCN1QK093, Zugriff 6.8.2019
- SATP - South Asia Terrorism Portal (15.2.2020): Data Sheet - India Yearly Fatalities: 2000 - 2020, https://www.satp.org/datasheet-terrorist-attack/fatalities/india, Zugriff 17.3.2020
- SZ- Süddeutsche Zeitung (26.2.2019): Indien bombardiert pakistanischen Teil Kaschmirs, https://www.sueddeutsche.de/politik/indien-pakistan-luftangriff-1.4345509, Zugriff 6.8.2019
- WP – The Washington Post (26.2.2019): India strikes Pakistan in severe escalation of tensions between nuclear rivals, https://www.washingtonpost.com/world/pakistan-says-indian-fighter-jets-crossed-into-its-territory-and-carried-out-limited-airstrike/2019/02/25/901f3000-3979-11e9-a06c-3ec8ed509d15_story.html?utm_term=.ee5f4df72709, Zugriff 6.8.2019
Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 30.03.2020
In Indien sind viele Grundrechte und -freiheiten verfassungsmäßig verbrieft und die verfassungsmäßig garantierte unabhängige indische Justiz bleibt vielmals wichtiger Rechtegarant. Die häufig überlange Verfahrensdauer aufgrund überlasteter und unterbesetzter Gerichte sowie verbreitete Korruption, vor allem im Strafverfahren, schränken die Rechtssicherheit aber deutlich ein (AA 19.7.2019). Eine systematisch diskriminierende Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis lässt sich nicht feststellen, allerdings sind vor allem die unteren Instanzen nicht frei von Korruption. Vorurteile z.B. gegenüber Angehörigen niederer Kasten oder Indigenen dürften zudem eine nicht unerhebliche Rolle spielen (AA 19.7.2019).
Das Gerichtswesen ist von der Exekutive getrennt (FH 4.3.2020). Das Justizsystem gliedert sich in den Supreme Court, das Oberste Gericht mit Sitz in Delhi; das als Verfassungsgericht die Streitigkeiten zwischen Zentralstaat und Unionsstaaten regelt. Es ist auch Appellationsinstanz für bestimmte Kategorien von Urteilen wie etwa bei Todesurteilen. Der High Court bzw. das Obergericht besteht in jedem Unionsstaat. Es ist Kollegialgericht als Appellationsinstanz sowohl in Zivil- wie auch in Strafsachen und führt auch die Dienst- und Personalaufsicht über die Untergerichte des Staates aus, um so die Justiz von den Einflüssen der Exekutive abzuschirmen. Subordinate Civil and Criminal Courts sind untergeordnete Gerichtsinstanzen in den Distrikten der jeweiligen Unionsstaaten und nach Zivil- und Strafrecht aufgeteilt. Fälle werden durch Einzelrichter entschieden. Richter am District und Sessions Court entscheiden in Personalunion sowohl über zivilrechtliche als auch strafrechtliche Fälle (als District Judge über Zivilrechtsfälle, als Sessions Judge über Straffälle). Unterhalb des District Judge gibt es noch den Subordinate Judge, unter diesem den Munsif für Zivilsachen. Unter dem Sessions Judge fungiert der 1st Class Judicial Magistrate und, unter diesem der 2nd Class Judicial Magistrate, jeweils für minder schwere Strafsachen (ÖB 8.2019).
Das Gerichtswesen ist auch weiterhin überlastet und verfügt nicht über moderne Systeme zur Fallbearbeitung. Der Rückstau bei Gericht führt zu langen Verzögerungen oder der Vorenthaltung von Rechtsprechung. Eine Analyse des Justizministeriums vom September 2018 hat ergeben, dass von insgesamt 1.079 Planstellen an den 24 Obergerichten des Landes 42714 Stellen nicht besetzt waren (USDOS 11.3.2020). Die Regeldauer eines Strafverfahrens (von der Anklage bis zum Urteil) beträgt mehrere Jahre; in einigen Fällen dauern Verfahren bis zu zehn Jahre (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 18.9.2019). Auch der Zeugenschutz ist mangelhaft, was dazu führt, dass Zeugen aufgrund von Bestechung und/oder Bedrohung, vor Gericht häufig nicht frei aussagen (AA 18.9.2018).
Insbesondere auf unteren Ebenen der Justiz ist Korruption verbreitet und die meisten Bürger haben große Schwierigkeiten, ihr Recht bei Gericht durchzusetzen. Das System ist rückständig und stark unterbesetzt, was zu langer Untersuchungshaft für eine große Zahl von Verdächtigen führt. Vielen von ihnen bleiben so länger im Gefängnis, als es der eigentliche Strafrahmen wäre (FH 4.3.2020). Die Dauer der Untersuchungshaft ist entsprechend zumeist exzessiv lang. Außer bei mit der Todesstrafe bedrohten Delikten, soll der Haftrichter nach Ablauf der Hälfte der drohenden Höchststrafe eine Haftprüfung und eine Freilassung auf Kaution anordnen. Allerdings nimmt der Betroffene mit einem solchen Antrag in Kauf, dass der Fall über lange Zeit gar nicht weiterverfolgt wird. Mittlerweile sind ca. 70 Prozent aller Gefangenen Untersuchungshäftlinge, viele wegen geringfügiger Taten, denen die Mittel für eine Kautionsstellung fehlen (AA 19.7.2019).
In der Verfassung verankerte rechtsstaatliche Garantien (z.B. das Recht auf ein faires Verfahren) werden durch eine Reihe von Sicherheitsgesetzen eingeschränkt. Diese Gesetze wurden nach den Terroranschlägen von Mumbai im November 2008 verschärft; u.a. wurde die Unschuldsvermutung für bestimmte Straftatbestände außer Kraft gesetzt (AA 19.7.2019).
Die Inhaftierung eines Verdächtigen durch die Polizei ohne Haftbefehl darf nach den allgemeinen Gesetzen nur 24 Stunden dauern. Eine Anklageerhebung soll bei Delikten mit bis zu zehn Jahren Strafandrohung innerhalb von 60, in Fällen mit höherer Strafandrohung innerhalb von 90 Tagen erfolgen. Diese Fristen werden regelmäßig überschritten. Festnahmen erfolgen jedoch häufig aus Gründen der präventiven Gefahrenabwehr sowie im Rahmen der Sondergesetze zur inneren Sicherheit, z.B. aufgrund des Gesetzes über nationale Sicherheit („National Security Act“, 1956) oder des lokalen Gesetzes über öffentliche Sicherheit („Jammu and Kashmir Public Safety Act“, 1978). Festgenommene Personen können auf Grundlage dieser Gesetze bis zu einem Jahr ohne Anklage in Präventivhaft gehalten werden. Auch zur Zeugenvernehmung können gemäß Strafprozessordnung Personen über mehrere Tage festgehalten werden, sofern eine Fluchtgefahr besteht. Fälle von Sippenhaft sind nicht bekannt (AA 19.7.2019).
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass unerlaubte Ermittlungsmethoden angewendet werden, insbesondere um ein Geständnis zu erlangen. Das gilt insbesondere bei Fällen mit terroristischem oder politischem Hintergrund oder solchen mit besonderem öffentlichem Interesse. Es ist nicht unüblich, dass Häftlinge misshandelt werden. Ein im Mai 2016 von der renommierten National Law University Delhi veröffentlichter empirischer Bericht zur Situation der Todesstrafe in Indien zeichnet ein düsteres Bild des indischen Strafjustizsystems. So haben bspw. 80 Prozent aller Todeskandidaten angegeben, in Haft gefoltert worden zu sein. Nach glaubwürdigen, vertraulichen Schätzungen des Internationales Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) kommt es weiterhin zu systematischer Folter in den Verhörzentren in Jammu und Kaschmir (AA 19.7.2019).
Für Angeklagte gilt die Unschuldsvermutung, ausgenommen bei Anwendung des „Unlawful Activities Prevention Act (UAPA)“, und sie haben das Recht, ihren Anwalt frei zu wählen. Das Strafgesetz sieht öffentliche Verhandlungen vor, außer in Verfahren, in denen die Aussagen Staatsgeheimnisse oder die Staatssicherheit betreffen können. Es gibt kostenfreie Rechtsberatung für bedürftige Angeklagte, aber in der Praxis ist der Zugang zu kompetenter Beratung oft begrenzt (USDOS 11.3.2020). Gerichte sind verpflichtet Urteile öffentlich zu verkünden und es gibt effektive Wege der Berufung auf beinahe allen Ebenen der Justiz. Angeklagte haben das Recht, die Aussage zu verweigern und sich nicht schuldig zu bekennen (USDOS 11.3.2020).
Gerichtliche Ladungen in strafrechtlichen Angelegenheiten sind im Criminal Procedure Code 1973 (CrPC, Chapter 4, §§ 61-69), in zivilrechtlichen Angelegenheiten im Code of Civil Procedure 1908/2002 geregelt. Jede Ladung muss schriftlich, in zweifacher Ausführung ausgestellt sein, vom vorsitzenden Richter unterfertigt und mit Gerichtssiegel versehen sein. Ladungen werden gemäß CrPC prinzipiell durch einen Polizeibeamten oder durch einen Gerichtsbeamten an den Betroffenen persönlich zugestellt. Dieser hat den Erhalt zu bestätigen. In Abwesenheit kann die Ladung an ein erwachsenes männliches Mitglied der Familie übergeben werden, welches den Erhalt bestätigt. Falls die Ladung nicht zugestellt werden kann, wird eine Kopie der Ladung an die Residenz des Geladenen sichtbar angebracht. Danach entscheidet das Gericht, ob die Ladung rechtmäßig erfolgt ist, oder ob eine neue Ladung erfolgen wird. Eine Kopie der Ladung kann zusätzlich per Post an die Heim- oder Arbeitsadresse des Betroffenen eingeschrieben geschickt werden. Falls dem Gericht bekannt wird, dass der Betroffene die Annahme der Ladung verweigert hat, gilt die Ladung dennoch als zugestellt. Gemäß Code of Civil Procedure kann die Ladung des Gerichtes auch über ein gerichtlich genehmigtes Kurierservice erfolgen (ÖB 8.2019).
Indische Einzelpersonen - oder NGOs im Namen von Einzelpersonen oder Gruppen - können sogenannte Rechtsstreitpetitionen von öffentlichem Interesse („Public Interest Litigation petitions“, PIL) bei jedem Gericht einreichen, oder beim Obersten Bundesgericht, dem „Supreme Court“ einbringen, um rechtliche Wiedergutmachung für öffentliche Rechtsverletzungen einzufordern (CM 2.8.2017).
Im ländlichen Indien gibt es auch informelle Ratssitzungen, deren Entscheidungen manchmal zu Gewalt gegen Personen führt, die soziale Regeln brechen - was besonders Frauen und Angehörige unterer Kasten betrifft (FH 4.3.2020).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (19.7.2019): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2014276/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Mai_2019%29%2C_19.07.2019.pdf, Zugriff 19.3.2020
- CM – Citizen Matters (2.8.2017): A guide to filing a Public Interest Litigation (PIL), http://citizenmatters.in/a-guide-to-filing-a-public-interest-litigation-pil-4539, Zugriff 13.8.2019
- Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025925.html, Zugriff 9.3.2020
- ÖB - Österreichische Botschaft New Delhi (8.2019): Asylländerbericht Indien
- USDOS – US Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026357.html, Zugriff 13.3.2020
Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 30.03.2020
Die indische Polizei (Indian Police Service) ist keine direkte Strafverfolgungs- oder Vollzugsbehörde (BICC 12.2019) und untersteht den Bundesstaaten (AA 19.7.2019). Sie fungiert vielmehr als Ausbildungs- und Rekrutierungsstelle für Führungsoffiziere der Polizei in den Bundesstaaten. Im Hinblick auf die föderalen Strukturen ist die Polizei dezentral in den einzelnen Bundesstaaten organisiert. Die einzelnen Einheiten haben jedoch angesichts eines nationalen Polizeigesetzes, zahlreichen nationalen Strafrechten und der zentralen Rekrutierungsstelle für Führungskräfte eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Allgemein ist die Polizei mit der Strafverfolgung, Verbrechensprävention und -bekämpfung sowie der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung betraut und übt gleichzeitig eine teilweise Kontrolle über die verschiedenen Geheimdienste aus. Innerhalb der Polizei gibt es eine Kriminalpolizei (Criminal Investigation Department - CID), in die wiederum eine Sondereinheit (Special Branch) integriert ist. Während erstere mit nationalen und die Bundesstaaten übergreifenden Verbrechen betraut ist, hat die Sondereinheit Informationsbeschaffung und Überwachung jeglicher subversiver Elemente und Personen zur Aufgabe. In fast allen Bundesstaaten sind spezielle Polizeieinheiten aufgestellt worden, die sich mit Frauen und Kindern beschäftigen. Kontrolliert wird ein Großteil der Strafverfolgungsbehörden vom Innenministerium (Ministry of Home Affairs) (BICC 12.2019).
Ein Mangel an Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Polizei entsteht neben den strukturellen Defiziten auch durch häufige Berichte über Menschenrechtsverletzungen wie Folter, außergerichtliche Tötungen und Drohungen, die mutmaßlich durch die Polizei verübt wurden (BICC 12.2019; vgl. FH 4.3.2020). Es gab zwar Ermittlungen und Verfolgungen von Einzelfällen, aber eine unzureichende Durchsetzung wie auch ein Mangel an ausgebildeten Polizeibeamten tragen zu einer geringen Effizienz bei (USDOS 11.3.2020). Es mangelt nach wie vor an Verantwortlichkeit für Misshandlung durch die Polizei und an der Durchsetzung von Polizeireformen (HRW 14.1.2020).
Das indische Militär ist der zivilen Verwaltung unterstellt und hat in der Vergangenheit wenig Interesse an einer politischen Rolle gezeigt. Der Oberbefehl obliegt dem Präsidenten. Ihrem Selbstverständnis nach ist die Armee zwar die „Beschützerin der Nation“, aber nur im militärischen Sinne (BICC 12.2019). Das Militär kann im Inland eingesetzt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit notwendig ist (AA 19.7.2019; vgl. BICC 12.2019). Paramilitärischen Einheiten werden als Teil der Streitkräfte, vor allem bei internen Konflikten eingesetzt, so in Jammu und Kaschmir sowie in den nordöstlichen Bundesstaaten. Bei diesen Einsätzen kommt es oft zu erheblichen Menschenrechtsverletzungen (BICC 12.2019).
Für den Einsatz von Streitkräften - vor allem von Landstreitkräften - in Unruhegebieten und gegen Terroristen wird als Rechtsgrundlage der „Armed Forces Special Powers Act“ (AFSPA) zur Aufrechterhaltung von „Recht und Ordnung“ herangezogen (USDOS 11.3.2020). Das Gesetz gibt den Sicherheitskräften in „Unruhegebieten“ weitgehende Befugnisse zum Gebrauch von Gewalt, zu Festnahmen ohne Haftbefehl und Durchsuchungen ohne Durchsuchungsbefehl (AA 19.7.2019; vgl. FH 4.3.2020, USDOS 11.3.2020). Das Gesetz zur Verhinderung ungesetzlicher Aktivitäten (UAPA) gibt den Behörden die Möglichkeit, Personen in Fällen im Zusammenhang mit Aufständen oder Terrorismus festzuhalten (USDOS 11.3.2020). Den Sicherheitskräften wird weitgehende Immunität gewährt (AA 19.7.2019; vgl. FH 4.3.2020, USDOS 11.3.2020).
Im Juli 2016 ließ das Oberste Gericht in einem Zwischenurteil zum AFSPA in Manipur erste Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes erkennen. Der Schutz der Menschenrechte sei auch unter den Regelungen des AFSPA unbedingt zu gewährleisten. Das umstrittene Sonderermächtigungsgesetz wurde im April 2018 für den Bundesstaat Meghalaya aufgehoben, im Bundesstaat Arunachal Pradesh auf acht Polizeidistrikte beschränkt und ist seit April 2019 in drei weiteren Polizeidistrikten von Arunachal Pradesh teilweise aufgehoben. Unverändert in Kraft ist es in folgenden als Unruhegebiete geltenden Staaten: Assam, Nagaland sowie in Teilen von Manipur. Für den Bundesstaat Jammu & Kashmir existiert eine eigene Fassung (AA 19.7.2019).
Die unter anderem auch in den von linksextremistischen Gruppen (sogenannten Naxaliten) betroffenen Bundesstaaten Zentralindiens eingesetzten paramilitärischen Einheiten Indiens unterstehen zu weiten Teilen dem Innenministerium (AA 19.7.2019). Dazu zählen insbesondere die National Security Guard (Nationale Sicherheitspolizei NSG), aus Angehörigen des Heeres und der Polizei zusammengestellte Spezialtruppe für Personenschutz, auch als „Black Cat“ bekannt, die Rashtriya Rifles, eine Spezialtruppe zum Schutz der Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen bei inneren Unruhen und zur Bekämpfung von bewaffneten Rebellionen, die Central Reserve Police Force (CRPF) - die Bundesreservepolizei, eine militärisch ausgerüstete Polizeitruppe für Sondereinsätze - die Border Security Force (BSF - Bundesgrenzschutz) als größte und am besten ausgestattete Miliz zum Schutz der Grenzen zu Pakistan, Bangladesch und Myanmar. Sie wird aber auch zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung in anderen Landesteilen eingesetzt. Die sogenannten Assam Rifles sind zuständig für Grenzverteidigung im Nordosten - die Indo-Tibetan Border Force (ITBP) werden als Indo-Tibetische Grenzpolizei, die Küstenwache und die Railway Protective Force zum Schutz der nationalen Eisenbahn und die Central Industrial Security Force zum Werkschutz der Staatsbetriebe verantwortlich (ÖB 8.2019). Besonders in Unruhegebieten haben die Sicherheitskräfte zur Bekämpfung sezessionistischer und terroristischer Gruppen weitreichende Befugnisse, die oft exzessiv genutzt werden (AA 19.7.2019).
Die Grenzspezialkräfte („Special Frontier Force)“ unterstehen dem Büro des Premierministers. Die sogenannten Grenzspezialkräfte sind eine Eliteeinheit, die an sensiblen Abschnitten im Grenzgebiet zu China eingesetzt werden. Sie agieren im Rahmen der Geheimdienste, des sogenannten Aufklärungsbüros ("Intelligence Bureau" - Inlandsgeheimdienst) und dem Forschungs- und Analyseflügel ("Research and Analysis Wing“ - Auslandsgeheimdienst) (War Heros of India, 15.1.2017).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (19.7.2019): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2014276/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Mai_2019%29%2C_19.07.2019.pdf, Zugriff 19.3.2020
- AA - Auswärtiges Amt (19.7.2019): Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien
- BICC - Bonn International Centre for Conversion (12.2019): Informationsdienst - Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte: Länderinformation Indien, http://www.ruestungsexport.info/user/pages/04.laenderberichte/indien/2019_Indien.pdf, Zugriff 11.2.2020
- Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025925.html, Zugriff 9.3.2020
- HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022689.html, Zugriff 17.1.2020
- ÖB - Österreichische Botschaft New Delhi (8.2019): Asylländerbericht Indien
- USDOS – US Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026357.html, Zugriff 13.3.2020
- War Heros of India (15.1.2017): Special Forces of India Part 3: Special Frontier Force, https://gallantryawardwinners.blogspot.com/2017/01/Special-Frontier-Force.html, Zugriff 19.3.2020
Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 30.03.2020
Indien hat im Jahr 1997 das UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe unterzeichnet, jedoch bisher nicht ratifiziert (AA 19.7.2019). Es sind außerdem keine für die Ratifizierung notwendigen Änderungen der nationalen Gesetzgebung eingeleitet worden (BICC 12.2019). Ein Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Folter (Bill on the Prevention of Torture), welcher innerstaatliche Voraussetzung der Ratifizierung der UN Anti-Folterkonvention ist, wurde vom Parlament bisher nicht verabschiedet (AA 19.7.2019).
Folter ist in Indien zwar verboten (AA 19.7.2019) und der indische Staat verfolgt Folterer grundsätzlich und veranstaltet Kampagnen zur Bewusstseinsbildung bei den Sicherheitskräften, doch bleiben Menschenrechtsverletzungen von Polizeibeamten und paramilitärischen Einheiten häufig ungeahndet und führen nicht einmal zu Ermittlungsverfahren Opfer ihre Rechte nicht kennen, eingeschüchtert werden oder die Folter nicht überleben (ÖB 12.2018; vgl. AA 19.7.2019). Besonders gefährdet sind Angehörige unterer Kasten und andere sozial benachteiligte Bevölkerungsschichten (ÖB 12.2018). Es gibt Berichte, dass Folter im Beobachtungszeitraum angewendet wurde (USDOS 11.3.2020). Die der Nationalen Menschenrechtskommission gemeldeten Zahlen lassen darauf schließen, dass sich im Jahr 2018 1.966 Todesfälle in richterlichem oder polizeilichem Gewahrsam ereignet haben (FH 4.3.2020).
Aufgrund von Folter erlangte Aussagen sind zwar vor Gericht nicht zur Verwertung zugelassen (AA 18.9.2019), doch versuchte die Regierung Menschenrechtsexperten zufolge aber weiterhin Personen festzunehmen und ihnen einen Verstoß nach dem - aufgehobenen - Gesetz zur Bekämpfung von Terrorismus, terroristischer Akte und zerstörenden Handlungen anzulasten. Dieses Gesetz besagte, dass Geständnisse, die vor einem Polizisten abgelegt wurden, als zulässige Beweise vor Gericht gelten (USDOS 13.3.2019). Trotz der Trainings für senior police officers, bleiben willkürliche Verhaftungen, Folter und erzwungene Geständnisse durch Sicherheitskräfte verbreitet (ÖB 12.2018).
Es kommt immer wieder zu willkürlichen Übergriffen der Staatsorgane, insbesondere der Polizeikräfte, vor allem gegenüber Häftlingen in Polizeigewahrsam. In einigen Fällen wird von willkürlichen und nicht gemeldeten Verhaftungen berichtet, bei denen dem Verhafteten mitunter ausreichend Wasser und Nahrung vorenthalten werden. Von Ausnahmen abgesehen, werden gesetzeswidrige Handlungen in diesem Bereich geahndet. Die angerufenen Gerichte haben hierbei in den letzten Jahren verstärkt Verantwortung gezeigt, zumal NGOs und die Presse kritisch über die ihnen bekannt gewordenen Fälle berichten. Auch über Übergriffe der Militärs und der paramilitärischen Gruppen bei ihren Einsätzen im Inneren (vor allem in Jammu und Kaschmir sowie in Indiens Nordosten) berichten Menschenrechtsorganisationen und die Nationale Menschenrechtskommission. Auch diese werden vereinzelt (militär-) gerichtlich geahndet, Prozess und Prozessausgang bleiben allerdings geheim (ÖB 8.2019).
Nach glaubwürdigen, vertraulichen Schätzungen des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) kommt es weiterhin zu systematischer Folter in den Verhörzentren in Jammu und Kaschmir. Für den Zeitraum Januar bis August 2017 beziffert Amnesty International die Zahl der Todesfälle in Haftanstalten auf 894, in Polizeigewahrsam auf 74 (AA 19.7.2019).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (19.7.2019): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2014276/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Mai_2019%29%2C_19.07.2019.pdf, Zugriff 19.3.2020
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- ÖB - Österreichische Botschaft New Delhi (8.2019): Asylländerbericht Indien
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