TE OGH 2020/12/17 7Ob174/20v

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Veröffentlicht am 17.12.2020
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätin und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Ing. F***** M*****, vertreten durch Koch Jilek Rechtsanwälte Partnerschaft in Bruck an der Mur, gegen die beklagte Partei G***** AG, *****, vertreten durch Wiedenbauer Mutz Winkler & Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 68.264,78 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 31. Juli 2020, GZ 2 R 92/20x-24, womit das Urteil des Landesgerichts Leoben vom 4. März 2020, GZ 8 Cg 53/19h-20, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

[1]       Der Kläger ist Verbraucher und wohnt in Österreich. Er schloss mit der Beklagten, einen in Deutschland ansässigen Versicherer, einen Vertrag über eine fondsgebundene Rentenversicherung „VarioRent-G***** Fondsrente“ ab 1. 6. 2004 mit einer Laufzeit bis 1. 6. 2019.

[2]       Im Versicherungsantrag findet sich folgender Text:

„… Verantwortlichkeit, Schlusserklärungen, Widerspruchsrecht und Unterschriften

[…]

Schlusserklärung des Antragstellers. Die gegenseitigen Rechte und Pflichten richten sich nach diesem Antrag, von dem mir bei Antragstellung eine Durchschrift/Kopie ausgehändigt wird, den gesetzlichen Bestimmungen der Bundesrepublik Deutschland sowie den für den beantragten Tarif maßgebenden Versicherungsbedingungen, die mir mit dem Versicherungsschein übersandt werden. Darüber hinaus erhalte ich weitere Verbraucherinformationen.

Für den von Ihnen beantragten Versicherungsvertrag wird in Übereinstimmung mit den Verbraucherinformationen deutsches Recht, insbesondere das deutsche Versicherungsvertragsgesetz vereinbart. Soweit dieses zwingenden österreichischen Rechtsvorschriften (zB Konsumentenschutzgesetz) widerspricht, gilt das entsprechende österreichische Recht. […]

Widerspruchsrecht: Nach Erhalt der Unterlagen habe ich das Recht, dem Vertrag innerhalb von 14 Tagen in Textform zu widersprechen.“

[3]       Der Kläger unterfertigte diesen Antrag am 7. 6. 2004. Seine Unterschrift findet sich unmittelbar unter dem eben wiedergegebenen Text.

[4]            Im unmittelbaren Anschluss – auf der folgenden Seite des Versicherungsantrags – findet sich unter der Überschrift „Wichtige Hinweise und Erklärungen für Versicherungsnehmer in Österreich“ folgende Belehrung:

„Widerspruchsrecht/Rücktrittsrecht

Sie können als Versicherungsnehmer nach § 5a des deutschen VVG innerhalb von 14 Tagen nach Erhalt der Vertragsunterlagen dem Vertragsabschluss widersprechen. Die Darstellung der Regelungen nach österreichischem Recht (§ 3b des österreichischen Konsumentenschutzgesetzes und § 5b des österreichischen Versicherungsvertragsgesetzes) entfällt, da durch das eingeräumte Widerspruchsrecht alle diesbezüglichen Interessen zugunsten des Kunden gewahrt sind. Der Rücktritt ist in Textform gegenüber der [...] zu erklären.“

[5]       Mit Schreiben vom 24. 6. 2004 übermittelte die Beklagte dem Kläger die Polizze der gegenständlichen Rentenversicherung, die Leistungsbeschreibung sowie das zusätzliches Bedingungswerk und Steuerinformationen. In der Polizze findet sich unter der Überschrift „Wichtige Hinweise“ nachfolgende Belehrung:

„Gemäß § 5 Abs 2 des Versicherungsvertragsgesetzes haben Sie ab Erhalt des Versicherungsscheines ein Rücktrittsrecht vom Vertrag von 14 Tagen, falls die Versicherungsbedingungen nicht bei Antragstellung ausgehändigt wurden.“

[6]            Unter der Überschrift „Erläuternde Einleitung zu der Leistungsbeschreibung, den Versicherungsbedingungen und der Polizze für Versicherungsnehmer in Österreich“ findet sich nachfolgender Text.

„Für Ihren Versicherungsvertrag gilt in Übereinstimmung mit den Verbraucherinformationen deutsches Recht, insbesondere das deutsche Versicherungsvertragsgesetz. Soweit dieses zwingenden österreichischen Rechtsvorschriften (zB Konsumentenschutzgesetz) widerspricht, gilt das entsprechende österreichische Recht.

Zum besseren Verständnis setzen wir für Sie als Versicherungsnehmer in Österreich der Leistungs-beschreibung und ihren Versicherungsbedingungen sowie Ihrer Police einige erläuternde und klarstellende Worte voran:

Die Abkürzungen VAG, VVG, HGB bezeichnen die deutschen Gesetzestexte und bedeuten:

VAG – Versicherungsaufsichtsgesetz

VVG – Versicherungsvertragsgesetz

HGB – Handelsgesetzbuch

Abweichend von Punkt 4 (unsere Leistungen im Einzelnen) der Leistungsbeschreibung heißt es für Sie unter Leistung im Todesfall vor Rentenbeginn:

-

[…]

-

-

Abweichend von Punkt 9 (Mitteilungen – Umzug) Ihrer Versicherungsbedingungen heißt es für Sie:

-

Bitte teilen Sie uns – der [...] – Ihren bevorstehenden Umzug oder Ihre Namensänderung möglichst zwei Wochen vor der Änderung Ihres Wohnsitzes oder Ihres Namens mit.

-

Auch alle anderen Mitteilungen, die Ihren Vertrag betreffen, erbitten wir so früh wie möglich schriftlich, damit wir genügend Zeit haben, uns auf Ihre Wünsche und Bedürfnisse einzustellen. Das betrifft zum Beispiel Anträge auf Änderung Ihres Vertrags oder auch eine Kündigungserklärung.

-

Wenn Sie sich für längere Zeit außerhalb der Republik Österreich aufhalten, sollten Sie uns auch in Ihrem Interesse eine im Inland ansässige Person benennen, die bevollmächtigt ist, unsere Mitteilungen für Sie entgegenzunehmen (Zustellungsbevollmächtigter).

-

Für Sie als Versicherungsnehmer in Österreich ist neben Abtretung oder Verpfändung auch die Vinkulierung möglich. Punkt 7 (Abtretung und Verpfändung) Ihrer Versicherungsbedingungen sowie der Gebührenkatalog gelten hier sinngemäß

Neben den in Punkt 10 (Anwendbares Recht – Gerichtsstand) Ihrer Versicherungsbedingungen angeführten Gerichtsständen können Sie das Gericht am Sitz unserer Niederlassung in Österreich wählen.

[…]“

[7]       Die dem Versicherungsvertrag zugrunde liegenden Versicherungsbedingungen lauten auszugsweise:

8. Mitteilungen – Umzug

-

Bitte teilen Sie uns Ihren bevorstehenden Umzug oder Ihre Namensänderung möglichst zwei Wochen vor der Änderung Ihres Wohnsitzes oder Ihres Namens mit.

-

Auch alle anderen Mitteilungen, die Ihren Vertrag betreffen, erbitten wir so früh wie möglich schriftlich, damit wir genügend Zeit haben, uns auf Ihre Wünsche und Bedürfnisse einzustellen. Das betrifft zB Anträge auf Änderung Ihres Vertrages oder auch eine Kündigungserklärung.

-

Wenn Sie sich für längere Zeit außerhalb der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, sollten Sie uns auch in Ihrem Interesse eine im Inland ansässige Person benennen, die bevollmächtigt ist, unsere Mitteilungen für Sie entgegenzunehmen (Zustellungsbevollmächtigter).

9. Anwendbares Recht – Gerichtsstand

-

Auf Ihren Vertrag findet das Recht der Bundesrepublik Deutschland Anwendung.

[…]

[8]       Mit Schreiben vom 21. 12. 2018 erklärte der Kläger gegenüber der Beklagten den Rücktritt vom Versicherungsvertrag, den diese mit Schreiben vom 14. 1. 2019 zurückwies.

[9]       Mit Schreiben vom 15. 9. 2019 beantragte der Kläger die Auszahlung aus dem Versicherungsvertrag wegen anstehenden Ablaufs des Versicherungszeitraums, wobei er dem Antrag ein Schreiben beischloss, wonach er sich die Geltendmachung weiterer Anspruchsrechte aufgrund des von ihm erklärten Rücktritts vom 21. 12. 2018 vorbehalte. Die Beklagte hat dem Kläger insgesamt 206.746,26 EUR an Versicherungsleistung ausbezahlt.

[10]     Der Kläger begehrt mit seiner am 5. 9. 2019 bei Gericht eingelangten Klage die Zahlung von 68.264,78 EUR sA. Die Wahl deutschen Rechts sei insgesamt unzulässig und unbeachtlich, weil die in der Polizze und dem Versicherungsschein enthaltenen Klauseln nicht hinreichend aufzeigen würden, in welchen Punkten ein Widerspruch zwischen österreichischem und deutschem Recht bestehe. Die Klauseln seien auch gröblich benachteiligend im Sinn des § 879 Abs 3 ABGB, überraschend nach § 864a ABGB und intransparent gemäß § 6 Abs 3 KSchG. Das Rücktrittsrecht sei daher nach österreichischem Recht zu beurteilen. Selbst wenn deutsches Recht gültig vereinbart worden wäre, hätte die Belehrung über den Rücktritt entsprechend § 5b und § 165a VersVG eindeutig und detailliert schriftlich erfolgen müssen, da sie zwingendes Recht seien. Dies sei unterblieben. Der Kläger könne daher zeitlich unbefristet zurücktreten, weil er über seine Rücktrittsrechte nach § 5b und § 165a VersVG fehlerhaft belehrt worden sei. Er habe Nettoprämien in Höhe von insgesamt 214.591,92 EUR an die Beklagte geleistet. Da die Beklagte die Rücktrittserklärung zurückgewiesen habe, habe der Lebensversicherungsvertrag durch Zeitablauf geendet, die Beklagte habe am 19. 6. 2019 eine Ablaufleistung in Höhe von 206.746,26 EUR erbracht. An Zinsen seien bis zum 18. 6. 2019 60.419,12 EUR angefallen. Da § 1416 ABGB vorsehe, dass zunächst die Zinsforderung und sodann die Kapitalforderung des Klägers bedient werde, ergebe sich eine Kapitalforderung in Höhe von 68.264,78 EUR.

[11]     Die Beklagte bestreitet und beantragt die Klagsabweisung. Der Kläger habe den Vertrag nicht als Konsument abgeschlossen, die Beklagte die Anwendbarkeit deutschen Rechts zulässig und wirksam vereinbart. Nach diesem sei der Kläger von der Beklagten richtig und vollständig belehrt worden. Selbst wenn zwingend österreichisches Recht anzuwenden wäre, wäre das vereinbarte deutsche Recht bei einem Vergleich für den Kläger günstiger als das zum damaligen Zeitpunkt geltende österreichische Recht. Die enthaltenen Klauseln seien weder gröblich benachteiligend, noch überraschend oder intransparent. Das Rücktrittsrecht sei lange vor dem erklärten Rücktritt des Klägers erloschen.

[12]     Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Bei Vertragsabschluss sei gemäß den §§ 5 ff des Bundesgesetzes über internationales Versicherungsvertragsrecht für den EWR, (BGBl 1993/89 – IVVG) für diesen Vertrag die freie Rechtswahl zulässig gewesen. § 9 IVVG habe bestimmt, dass die Rechtswahl, soweit es sich um zwingende Bestimmungen des Staats des gewöhnlichen Aufenthalts des Versicherungsnehmers handle, zum Nachteil des Versicherungsnehmers unbeachtlich seien. Die vom Kläger kritisierten Klauseln seien weder überraschend, noch gröblich benachteiligend und auch nicht intransparent. Mit ihnen sei daher gültig die (grundsätzliche) Anwendbarkeit deutschen Rechts vereinbart worden. Bei den §§ 5b und 165a VersVG handle es sich um zwingende Normen, weshalb ein Günstigkeitsvergleich mit den bezughabenden deutschen Normen vorzunehmen sei. § 165a VersVG habe keine Verpflichtung des Versicherers enthalten, den Versicherungsnehmer über ein Rücktrittsrecht zu belehren. Demgegenüber enthalte § 5a Abs 2 dVVG die Bestimmung, dass die Frist zum Rücktritt unter anderem erst beginne, wenn der Versicherungsnehmer über sein Widerspruchsrecht, den Fristbeginn und die Dauer belehrt worden sei. Somit sei § 5a dVVG günstiger als § 165a VersVG, weshalb letztere Bestimmung nicht anzuwenden sei. Der wesentliche Unterschied zwischen § 5b VersVG und § 5a dVVG finde sich in § 5a Abs 2 letzter Satz dVVG, wonach das Recht zum Widerspruch ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie erlösche, auch wenn dem Versicherungsnehmer keine der in der genannten Bestimmung angeführten Unterlagen übermittelt worden sei. Da § 5b VersVG keine solche Bestimmung enthalte, sei diese günstiger und somit hier anzuwenden. Die Beklagte habe die nach § 5b Abs 2 Z 3 VersVG in §§ 9a und 18b VAG geforderten Mitteilungspflichten eingehalten. Der Kläger sei über sein Rücktrittsrecht nach § 5b Abs 2 VersVG inhaltlich ausreichend belehrt worden. Sohin sei die Belehrung des Klägers, der als Konsument anzusehen sei, über das Rücktrittsrecht insgesamt gesetzeskonform erfolgt. Da er es nicht rechtzeitig ausgeübt habe, sei es verfristet und das Klagebegehren unberechtigt.

[13]     Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil und schloss sich der Rechtsansicht des Erstgerichts an.

[14]     Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision des Klägers mit einem Abänderungsantrag, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[15]     Die Beklagte begehrt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen; hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[16]     Die Revision ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig, sie ist auch berechtigt.

[17]     1. Nach Art 32 Abs 1 der Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen (vormals Art 4 Abs 1 Zweite Richtlinie 90/619/EWG des Rates vom 8. November 1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung [Lebensversicherung] und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 79/267/EWG) ist das Recht, das auf Verträge über die in der vorliegenden Richtlinie genannten Tätigkeiten anwendbar ist, das Recht des Mitgliedstaats der Verpflichtung. Jedoch können die Parteien, sofern dies nach dem Recht des Mitgliedstaats zulässig ist, das Recht eines anderen Staats wählen. Nach Art 32 Abs 2 RL 2002/83/EG (Art 4 Abs 2 RL 90/619/EWG) können die Parteien, wenn es sich bei dem Versicherungsnehmer um eine natürliche Person handelt und er seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort in einem anderen Mitgliedstaat als dem hat, dessen Staatsbürger er ist, das Recht des Mitgliedstaats wählen, dessen Staatsangehöriger er ist. Gemäß Art 32 Abs 4 RL 2002/83/EG (Art 4 Abs 4 RL 90/619/EWG) berührt dieser Artikel nicht die Anwendung, der nach dem Recht des Staats des angerufenen Gerichts geltenden Bestimmungen, die ohne Rücksicht auf das auf den Vertrag anzuwendende Recht den Sachverhalt zwingend regeln. Sieht das Recht eines Mitgliedstaats dies vor, so können die zwingenden Vorschriften des Rechts des Mitgliedstaats der Verpflichtung angewandt werden, soweit nach dem Recht dieses Staats diese Vorschriften ohne Rücksicht darauf anzuwenden sind, welchem Recht der Vertrag unterliegt. Nach Art 32 Abs 5 RL 2002/83/EG (Art 4 Abs 5 RL 90/619/EWG) wenden die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Abs 1 bis 4 auf die unter diese Richtlinie fallenden Versicherungsverträge ihre allgemeinen Bestimmungen des internationalen Privatrechts in Bezug auf vertragliche Schuldverhältnisse an.

[18]     2.1.1 Nach Art 7 Abs 2 Z 4 lit a dEGVVG aF (Einführungsgesetz zum Versicherungsvertragsgesetz) ist Mitgliedstaat, in dem das Risiko belegen ist, wenn der Versicherungsnehmer eine natürliche Person ist, der Mitgliedstaat, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Art 8 dEGVVG sieht vor, dass in dem Fall, dass der Versicherungsnehmer bei Schließung des Vertrags seinen gewöhnlichen Aufenthalt oder seine Hauptverwaltung im Gebiet des Mitgliedstaats hat, in dem das Risiko belegen ist, das Recht dieses Staats anzuwenden ist. Nach Art 10 Abs 3 dEGVVG können die Parteien davon Gebrauch machen, wenn das nach Artikel 8 anzuwendende Recht die Wahl des Rechts eines anderen Staats oder die nach Art 9 Abs 1 und 2 wählbaren Rechte eine weitergehende Rechtswahl zulassen. Art 11 Abs 1 dEGVVG sieht vor, dass soweit das anzuwendende Recht nicht vereinbart worden ist, der Vertrag unter den Rechten, die nach den Artikeln 9 und 10 gewählt werden können, demjenigen des Staats unterliegt, mit dem er die engsten Verbindungen aufweist. Nach Art 11 Abs 2 dEGVVG wird vermutet, dass der Vertrag die engsten Verbindungen mit dem Mitgliedstaat aufweist, in dem das Risiko belegen ist.

[19]     2.2.1 Die RL 90/619/EWG wurde in Österreich im IVVG (Bundesgesetz über internationales Versicherungsvertragsrecht für den Europäischen Wirtschaftsraum) umgesetzt. Das Gesetz wurde aus Anlass des Inkrafttretens der Verordnung (EG) Nr 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. 6. 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (ROM-I-VO) aufgehoben, es ist jedoch weiterhin auf Verträge anzuwenden, die – wie hier – vor dem 17. 12. 2009 abgeschlossen wurden [Art IV des BG BGBl I 2009/109] (Musger in KBB6 Art 7 ROM-I-VO Rz 1).

[20]     2.2.2 Nach § 1 Abs 1 IVVG regelt dieses Bundesgesetz das auf Versicherungsverträge mit Auslandsberührung anzuwendende Recht, wenn sie in einem Mitgliedstaat des Europäischen Wirtschaftsraums belegene Risiken decken. Soweit in diesem Bundesgesetz nichts anderes bestimmt ist, gilt das Bundesgesetz über das internationale Privatrecht. Nach § 2 Z 2b aa IVVG gelten im Sinn dieses Bundesgesetzes als Mitgliedstaat, in dem das Risiko belegen ist, in der Lebensversicherung, wenn der Versicherungsnehmer eine natürliche Person ist, der Mitgliedstaat, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. § 5 Z 1 IVVG sieht vor, dass der Vertrag dem von den Parteien gewählten Recht unterliegt, wenn das Risiko im Geltungsbereich dieses Bundesgesetzes oder in einem anderen Mitgliedstaat, der die freie Rechtswahl einräumt, belegen ist. § 9 Abs 1 IVVG sieht vor, dass sofern der Vertrag im Zusammenhang mit einer auf die Schließung solcher Verträge gerichteten Tätigkeit zustande gekommen ist, die der Versicherer oder die von ihm hiefür verwendeten Personen im Staate des gewöhnlichen Aufenthalts oder der Hauptverwaltung des Versicherungsnehmers entfaltet haben, eine Rechtswahl, soweit es sich um die zwingenden Bestimmungen dieses Staats handelt, zum Nachteil des Versicherungsnehmers unbeachtlich ist. Nach § 10 Abs 3 IVVG ist in der Lebensversicherung mangels Rechtswahl das Recht des Mitgliedstaats anzuwenden, in dem zur Zeit des Vertragsabschlusses das Risiko belegen ist.

[21]     2.3 Als Zwischenergebnis ist festzuhalten: Nach Art 8 dEGVVG wäre österreichisches Recht anzuwenden, da der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt bei Vertragsabschluss in Österreich hatte. Nach Art 10 Abs 3 dEGVVG können die Parteien von der Rechtswahl Gebrauch machen, wenn das nach Art 8 dEGVVG anwendbare Recht, sohin österreichisches Recht, dies als zulässig erachtet. Nach § 5 Z 1 IVVG ist damit grundsätzlich die Wahl deutschen Rechts – unter der in § 9 Abs 1 IVVG genannten Einschränkung – zulässig.

[22]     3. Zu prüfen ist, ob die an sich zulässige Rechtswahl auch wirksam getroffen wurde.

[23]     3.1 In der Entscheidung vom 28. 7. 2016, C-191/15, VKI/Amazon EU Sarl, Rn 66 ff, hat der EuGH zu Art 6 Abs 2 der ROM-I-VO, der inhaltlich § 9 Abs 1 IVVG entspricht, der wiederum Art 4 Abs 4 RL 90/619/EWG (Art 32 Abs 4 RL 2002/83/EG) umsetzt, wie folgt Stellung genommen:

[24]     Das Unionsrecht lässt Rechtswahlklauseln grundsätzlich zu. Nach Art 6 Abs 2 der ROM-I-VO haben die Parteien nämlich die Möglichkeit, das auf einen Verbrauchervertrag anzuwendende Recht zu vereinbaren, soweit der Schutz gewährleistet ist, der dem Verbraucher nach den Bestimmungen des Rechts am Gerichtsstand seines Wohnsitzes, von denen nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf, zukommt. Unter diesen Umständen ist eine vorformulierte Rechtswahlklausel, mit der das Recht des Mitgliedstaats gewählt wird, in dem der Unternehmer seinen Sitz hat, nur dann missbräuchlich, wenn die Bestimmung mit ihrem Wortlaut oder ihren Kontext zusammenhängende Besonderheiten aufweist, die ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursachen. Die Missbräuchlichkeit einer solchen Klausel kann sich insbesondere aus einer Formulierung ergeben, die nicht dem in Art 5 der Richtlinie 93/13 aufgestellten Erfordernis einer klaren und verständlichen Abfassung genügt. Dieses Erfordernis muss unter Berücksichtigung unter anderem des geringeren Informationsstandes, den der Verbraucher gegenüber den Gewerbetreibenden besitzt, weit ausgelegt werden. Darüber hinaus ist es, wenn die Wirkungen einer Klausel durch bindende Rechtsvorschriften bestimmt werden, entscheidend, dass der Gewerbetreibende den Verbraucher über diese Vorschriften unterrichtet (vgl in diesem Sinn Urteil vom 26. April 2012, Invitel, C-472/10, EU:C:2012:242, Rn 29). Dies trifft auf Art 6 Abs 2 der ROM-I-VO zu, der vorsieht, dass die Wahl des anzuwendenden Rechts nicht dazu führen darf, dass dem Verbraucher der Schutz entzogen wird, der ihm durch diejenigen Bestimmungen gewährt wird, von denen nach dem Recht, das mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre, nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf.

[25]     Auf Buchstabe a der vierten Frage ist somit zu antworten, dass Art 3 Abs 1 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass eine in Allgemeinen Geschäftsbedingungen eines Gewerbetreibenden enthaltene Klausel, die nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde und nach der auf einen auf elektronischem Weg mit einem Verbraucher geschlossenen Vertrag das Recht des Mitgliedstaats anzuwenden ist, in dem der Gewerbetreibende seinen Sitz hat, missbräuchlich ist, sofern sie den Verbraucher in die Irre führt, indem sie ihm den Eindruck vermittelt, auf den Vertrag sei nur das Recht dieses Mitgliedstaats anwendbar, ohne ihn darüber zu unterrichten, dass er nach Art 6 Abs 2 der ROM-I-VO auch den Schutz der zwingenden Bestimmungen des Rechts genießt, das ohne diese Klausel anzuwenden wäre; dies hat das nationale Gericht im Lichte aller relevanten Umstände zu prüfen.

[26]     3.2 Der vorliegende Fall ist dadurch gekennzeichnet, dass im Antrag und in der beigeschlossenen Leistungsbeschreibung darauf hingewiesen wird, dass für den Vertrag deutsches Recht gilt und soweit dieses zwingenden österreichischen Vorschriften widerspricht, das entsprechende österreichische Recht. In den zeitnah mit der Polizze übermittelten Versicherungsbedingungen wird davon abweichend in Art 9 geregelt, dass auf den Vertrag – uneingeschränkt – das Recht der Bundesrepublik Deutschland Anwendung findet.

[27]     3.3 Durch die in den Versicherungsbedingungen erfolgte Formulierung wird der Versicherungsnehmer – im Sinne der Rechtsprechung des EuGH – in die Irre geführt, indem ihm der Eindruck vermittelt wird, auf den Vertrag sei doch ausschließlich deutsches Recht anwendbar. Werden einem Versicherungsnehmer aber – wie hier – im engen zeitlichen Konnex, voneinander abweichende Regelungen in Vertragsformblättern und Versicherungsbedingungen für die Rechtswahl genannt, wird er insgesamt darüber in die Irre geführt, in welchem Umfang die Rechtswahl gilt, sodass sich in einem solchen Fall die Rechtswahl zur Gänze als widersprüchlich und somit als missbräuchlich erweist. Sie ist daher unbeachtlich.

[28]     3.4 Mangels wirksamer Rechtswahl gelangt somit österreichisches Recht zur Anwendung (§ 10 Abs 3 IVVG, Art 8, 11 dEGVVG; Art 32 Abs 1 RL 2002/83/EG).

[29]     4.1 Der bei Vertragsabschluss geltende § 165a VersVG (idF BGBl I 1997/6) lautete soweit hier relevant:

„(1) Der Versicherungsnehmer ist berechtigt, binnen zweier Wochen nach Zustandekommen des Vertrags von diesem zurückzutreten.“

[30]     4.2 Der bei Vertragsabschluss geltende § 178 VersVG (idF BGBl I 1994/509) lautete:

„(1) Auf eine Vereinbarung, die von den Vorschriften der §§ 162 bis 164, der §§ 165, 165a und 169 oder des § 171 Abs 1 Satz 2 zum Nachteil des Versicherungsnehmers abweicht, kann sich der Versicherer nicht berufen.“

[31]     4.3 Der bei Vertragsabschluss geltende § 9a Abs1 VAG (idF BGBl 1996/447) lautete soweit hier relevant:

„(1) Der Versicherungsnehmer ist bei Abschluss eines Versicherungsvertrags über ein im Inland belegenes Risiko vor Abgabe seiner Vertragserklärung schriftlich zu informieren über

6. Die Umstände, unter denen der Versicherungsnehmer den Abschluss des Versicherungsvertrags widerrufen oder von diesem zurücktreten kann.

…“

[32]     5. Der Kläger wurde bei Unterfertigung des Versicherungsantrags über das Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG nicht belehrt. Er wurde unter mehrmaligem Hinweis auf die Geltung deutschen Rechts auf die Möglichkeit eines Widerspruchs nach den Bestimmungen des deutschen VVG binnen 14 Tagen in unterschiedlichen Formulierungen, einmal in Textform, einmal ohne hingewiesen. In der dem Versicherungsantrag beigeschlossenen Leistungsbeschreibung und in den Versicherungsbedingungen ist für die den Vertrag betreffenden Mitteilungen des Versicherten die Schriftform „erbeten“.

[33]     5.1 Es stellt sich die Frage, ob durch diese Belehrungen über dem Versicherten nach deutschen Recht zustehende Rechte eine Erschwernis des Rücktrittsrechts des Klägers bewirkt wurde. Dazu hat der Oberste Gerichtshof bereits in der Entscheidung 7 Ob 117/20m dahin Stellung genommen:

[34]     Zunächst liegt in der unrichtigen Belehrung über die Geltung der deutschen Rechtsordnung schon insofern eine Erschwernis, als diese andere Rechtsbegriffe verwendet, die zudem in ein anderes System von Rechtsbehelfen eingebettet sind als das tatsächlich für den Vertrag geltende österreichische Recht. Weiters wird durch den Verweis auf die Gesetzmäßigkeit eines Textformerfordernisses nach deutschem Recht dem Verbraucher erschwert, die ihm nach österreichischem Recht zustehenden Rechte und konkret die Formfreiheit hinsichtlich der Ausübung seines Rücktritts zu erkennen und deren Richtigkeit gegenüber dem Anschein der Rechtskonformität der Belehrung nach angeblich geltendem deutschen Recht zu behaupten. In den Stellen der Belehrungen, in denen auf das hier anzuwendende österreichische Recht Bezug genommen wird, sind zudem § 165a Abs 1 oder § 178 Abs 1 VersVG nicht genannt, sondern es finden sich lediglich unspezifische Hinweise auf „zwingende österreichische Rechtsvorschriften (zB Konsumentenschutzgesetz)“. Nach dieser unspezifischen Belehrung verbleiben zudem erst recht Zweifel, welche Rechtsordnung und konkreten gesetzlichen Bestimmungen tatsächlich anzuwenden sind und welche Rechte dem Versicherungsnehmer konkret zustehen, zumal darüber keine bzw unklare Erklärungen angeführt sind.

[35]     5.2 Unklarheit besteht hier überdies auch im Hinblick auf die unterschiedlichen Belehrungen. So heißt es einerseits „nach Erhalt der Unterlagen habe ich das Recht, dem Vertrag innerhalb von 14 Tagen in Textform zu widersprechen“. Gleich anschließend wird angeführt „Sie können als Versicherungsnehmer nach § 5a des dVVG innerhalb von 14 Tagen nach Erhalt der Vertragsunterlagen dem Vertragsabschluss widersprechen“. Zuletzt lautet die Belehrung „Gemäß § 5 Abs 2 des dVVG haben Sie ab Erhalt des Versicherungsscheins ein Rücktrittsrecht vom Vertrag von 14 Tagen, falls die Versicherungsbedingungen nicht bei Antragstellung ausgehändigt wurden“, in Art 8 der Versicherungsbedingungen werden die Mitteilungen schriftlich erbeten.

[36]     Durch diese von einander abweichenden Belehrungen wird dem Versicherungsnehmer ebenfalls die Ausübung des Rücktrittsrechts erschwert, ergibt sich doch damit weder klar, wann die Rücktrittsfrist zu laufen beginnt, noch ob der Rücktritt in Textform, schriftlich oder formfrei erfolgen soll und ob er von Bedingungen (Aushändigung der Versicherungsbedingungen) abhängig ist.

[37]     5.3 Zusammengefasst entspricht die dem Kläger erteilte Belehrung in einer Gesamtbetrachtung insgesamt nicht den Anforderungen an eine konkrete und verständliche Belehrung über das ihm nach § 165a VersVG in der anzuwendenden Fassung zustehende Rücktrittsrecht, wodurch dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit genommen wurde, sein Rücktrittsrecht unter im Wesentlichen denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben. Daher hat die Rücktrittsfrist nach § 165a VersVG in der anzuwendenden Fassung im vorliegenden Fall mangels konkreter Belehrung durch die Beklagte nicht zu laufen begonnen. Dies führt zu einem unbefristeten Rücktrittsrecht des Klägers. Sein im Jahr 2018 erklärter Vertragsrücktritt ist rechtzeitig.

[38]     6. Der Rücktritt führt zur bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung des Vertrags (7 Ob 10/20a, 7 Ob 11/20y; 7 Ob 19/20z uva). Die Bestimmung des § 1435 ABGB räumt einen Rückforderungsanspruch ein, wenn der zunächst vorhandene rechtliche Grund – wie etwa bei einem Rücktritt – wegfällt. Der Wegfall des Vertrags beseitigt bei beiden Parteien den Rechtsgrund für das Behalten der empfangenen Leistungen.

[39]     6.1 Das bedeutet, dass der Kläger aufgrund der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung nach wirksamen Rücktritt Anspruch auf Rückzahlung der geleisteten Prämien hat.

[40]     6.2 Die Beklagte hat Verjährung der Zinsen eingewandt. In diesem Zusammenhang hat der Oberste Gerichtshof auch bereits mehrfach (7 Ob 10/20a, 7 Ob 11/20y) ausgesprochen: Im Grundsatz steht das Unionsrecht einer Verjährung des Anspruchs auf die Vergütungszinsen binnen drei Jahren nicht entgegen, wenn dies die Wirksamkeit des dem Versicherungsnehmer unionsrechtlich zuerkannten Rücktrittsrechts selbst nicht beeinträchtigt. Der EuGH hob deutlich hervor, dass das Rücktrittsrecht nicht dazu dient, dass der Versicherungsnehmer eine höhere Rendite erhalten oder gar auf die Differenz zwischen der effektiven Rendite des Vertrags und dem Ersatz der Vergütungszinsen spekulieren kann. Allerdings wurde darauf hingewiesen, dass im Einzelfall zu prüfen ist, ob eine solche Verjährung des Anspruchs auf Vergütungszinsen geeignet ist, die Wirksamkeit des dem Versicherungsnehmer unionsrechtlich zuerkannten Rücktrittsrechts selbst zu beeinträchtigen, zumal Versicherungsverträge rechtlich komplexe Finanzprodukte sind, die je nach anbietenden Versicherern große Unterschiede aufweisen und über einen potentiell sehr langen Zeitraum erhebliche finanzielle Verpflichtungen mit sich bringen können. Wenn unter diesen Umständen die Tatsache, dass die für mehr als drei Jahre fälligen Zinsen verjährt sind, dazu führen sollte, dass der Versicherungsnehmer sein Rücktrittsrecht nicht ausübt, obwohl der Vertrag seinen Bedürfnissen nicht entspricht, wäre eine solche Verjährung geeignet, das Rücktrittsrecht zu beeinträchtigen. Bei der Beurteilung der Bedürfnisse des Versicherungsnehmers ist jedoch auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses abzustellen. Vorteile, die der Versicherungsnehmer aus einem verspäteten Rücktritt ziehen könnte, bleiben außer Betracht. Ein solcher Rücktritt würde nämlich nicht dazu dienen, die Wahlfreiheit des Versicherungsnehmers zu schützen, sondern dazu, ihm eine höhere Rendite zu ermöglichen oder gar auf die Differenz zwischen der effektiven Rendite des Vertrags und dem Satz der Vergütungszinsen zu spekulieren.

[41]     6.3 Diese Aspekte waren bislang nicht Gegenstand des Verfahrens und wurden nicht mit den Parteien erörtert. Es ist daher den Parteien Gelegenheit zu geben Vorbringen zu erstatten, und es ist im Weiteren zu klären und festzustellen, ob der Vertrag im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses den Bedürfnissen des Klägers entsprach und ob und inwiefern er durch die Verjährung binnen drei Jahren gehindert worden ist, sein Rücktrittsrecht geltend zu machen. Nur wenn der Vertrag im konkreten Einzelfall nicht den Bedürfnissen des Klägers entsprach und er durch die Verjährung am Rücktritt gehindert wurde, wird die dreijährige Verjährungsfrist nicht anzuwenden sein.

[42]     6.4 Die grundsätzlich anzuwendende dreijährige Verjährungsfrist beginnt im Zeitpunkt der objektiven Möglichkeit der Rechtsausübung, das heißt mit der Zahlung der Prämie. Mehr als drei Jahre rückständige Verzugszinsen, berechnet von dem Tag der Klagseinbringung sind daher verjährt. Werden fällige Zinsen eingeklagt, können mangels gesonderter Vereinbarung Zinseszinsen nicht vor dem Tag der Klagsbehändigung gefordert werden (§ 1000 Abs 2 ABGB; RS0083307).

[43]     6.5 Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass die vom Kläger vorgenommene Tilgung nach § 1416 ABGB nicht zum Tragen kommt, wenn sich die Parteien über die Widmung einer Zahlung einigen (§ 1415 ABGB). Bestehen mehrere Schuldposten, so gilt gemäß § 1415 ABGB derjenige als abgetragen, den „der Schuldner mit Einwilligung des Gläubigers tilgen zu wollen sich ausdrücklich erklärt hat“. Eine wirksame Widmung setzt demnach eine Vereinbarung zwischen den Parteien voraus. Vom Vorliegen einer solchen ist hier auszugehen, stellte der Kläger doch ausdrücklich mit Auszahlungsantrag (Blg./8) den Antrag auf Kapitalabfindung infolge Ablaufs der Versicherungszeit, dem die Beklagte entsprochen hat.

[44]           7.1 In der Entscheidung 7 Ob 105/20x hat der Oberste Gerichtshof nach der Entscheidung des EuGH vom 28. 5. 2020, C-803/19, WWK, ausgesprochen, dass die Versicherungssteuer eine Abgabe ist, deren Schuldner der Versicherungsnehmer ist, während der Versicherer nur für die Einziehung der Steuern für den Staat und die Entrichtung der Abgaben des Versicherungsnehmers zu sorgen hat. Die Ausübung des Rechts des Versicherungsnehmers, vom Versicherungsvertrag zurückzutreten, wird als solches nicht unmittelbar berührt, wenn der Versicherungsnehmer die Beträge, die er an den Versicherer als Versicherungssteuer gezahlt hat, nicht unmittelbar vom Versicherer zurückfordern kann. Danach kann der Versicherungsnehmer gemäß § 1435 ABGB im Fall des ihm auf unionsrechtlicher Grundlage zustehenden Rücktritts vom Vertrag vom Versicherer nur die Nettoversicherungsprämie, also das Entgelt für die Versicherung, erlangen. Hinsichtlich der an den Bund geleisteten Versicherungssteuer ist er auf die Rückforderung im Abgabenverfahren oder auf Schadenersatz gegenüber dem Versicherer verwiesen. Dabei wird ein verständiger durchschnittlicher Versicherungsnehmer sich durch die Nichtrückzahlung der Versicherungssteuer in so geringem Ausmaß von 4 % der Nettoprämie nicht von einem Rücktritt von einem seinen Bedürfnissen nicht entsprechenden Vertrag abhalten lassen; durch den Abzug der Versicherungssteuer wird daher die Wirksamkeit des Rücktrittsrechts des Versicherungsnehmers grundsätzlich nicht beeinträchtigt.

[45]           7.2 Im fortgesetzten Verfahren werden sich die Vorinstanzen daher mit der von der Beklagten eingewendeten Versicherungssteuer in Höhe von 8.579,36 EUR auseinanderzusetzen haben.

[46]           8.1 Zu Fragen der Anrechnung von Fondsverlusten bei der Berechnung der Bereicherung hat der Oberste Gerichtshof ebenfalls bereits in der Entscheidung 7 Ob 117/20m ausführlich Stellung genommen:

[47]     Eine Kondiktion ist nicht auf den vorhandenen, sondern auf den verschafften Nutzen, den erlangten Vorteil gerichtet; maßgeblich ist in der Regel der Leistungszeitpunkt (RS0033921 [T12]). Vorteil ist das, was in jemandes unbeschränkte Verwendungsmöglichkeit gelangt ist, gleichgültig, ob er davon in der Folge einen nützlichen oder allenfalls verlustbringenden Gebrauch gemacht hat, und gleichgültig, ob davon noch ein Nutzen vorhanden ist oder nicht. Bei Geldleistungen wird generell die nützliche Verwendung durch den Empfänger unterstellt und daher eine Berufung auf den nachträglichen Wegfall der Bereicherung nicht gestattet.

[48]           8.2 Bei einer fondsgebunden Lebensversicherung investiert der Versicherer in – vom Versicherungsnehmer aus einem durch den Versicherer beschränkten Angebot ausgewählte – Investmentfonds. Nach der Polizze sagte hier die Beklagte dem Kläger zu, „[wir] investieren [… das Vertragsguthaben] nach dem von Ihnen gewünschten Verhältnis in Anteile der von Ihnen ausgewählten Investmentfonds“; weiters versprach die Beklagte: „Zum Rentenbeginn veräußern wir Ihre Fondsanteile und wandeln das Fondsvermögen in eine Rentenleistung um.“

[49]           8.3 Die Beklagte erwarb folglich mit den vom Kläger überwiesenen Versicherungsprämien Anteile an den Investmentfonds, deren Miteigentümerin sie selbst wurde.

[50]           8.4 Der Rücktritt des Klägers vom mit der Beklagten geschlossenen Geschäft (Versicherungsvertrag) beschränkt sich auf dieses Geschäft, erfasst aber nicht den von der Beklagten vorgenommenen Ankauf der Investmentfonds. Das bedeutet aber, dass die Beklagte – angesichts des Rücktritts des Klägers – Eigentümerin der von ihr angekauften Wertpapiere geworden und geblieben ist; sie hat insofern einen Vorteil erlangt, der im Zeitpunkt des Ankaufs dem damaligen Wert der Wertpapiere entsprochen hat. Damit ist aber ein in der Folge eingetretener Wertverlust der gekauften Papiere im Vermögen der Beklagten eingetreten und beeinflusst die Höhe des Bereicherungsanspruchs des Klägers nicht: Ist der Nutzen einmal eingetreten, so befreit dessen nachträglichen Wegfall den Bereicherungsschuldner nicht.

[51]           8.5 Zusammengefasst ist im Fall eines (Spät-)Rücktritts von einer fondsgebunden Lebensversicherung – wie hier – das Verlustrisiko nicht dem vom Vertrag berechtigt zurückgetretenen Versicherungsnehmer zuzuweisen.

[52]           9. Auch zur Frage des Ablebensschutzes hat der Oberste Gerichtshof bereits in der Entscheidung 7 Ob 117/20m Stellung genommen.

[53]           9.1 Nach dem Versicherungsvertrag hatte die Beklagte dem Kläger Ablebensschutz gewährt: Sie hatte zugesagt, im Todesfall des Versicherten vor Rentenbeginn das vorhandene Vertragsguthaben, mindestens jedoch die unverzinsten Beiträge der fondsgebunden Rentenversicherung zu leisten. Nach den Behauptungen der Beklagten beträgt die Risikoprämie im vorliegenden Fall 96,06 EUR. Sie steht in einem Äquivalenzverhältnis zum Versicherthalten durch die Beklagte, weil es sich bei den Risikokosten um die aufgrund des Rücktritts nach § 1435 ABGB grundsätzlich rückforderbare Leistung und somit einen Kondiktionanspruch der Beklagten handelt. Zur Rückstellungsverpflichtung des zurückzugebenden Vorteils nach Bereicherungsrecht gehört es, dass im Fall der fortgesetzten Benützung der Sache ein dem verschafften Nutzen angemessenes Entgelt zu entrichten ist, wobei jener (Gebrauchs-)Vorteil zu vergüten ist, der nach den subjektiven Verhältnissen des Rückstellungspflichtigen tatsächlich entstanden ist. Dieser entspricht hier der Risikoprämie.

[54]           9.2 Aus § 1435 ABGB ergibt sich, dass durch den Rücktritt vom Vertrag beiderseitige Kondiktionsansprüche bestehen, soweit von beiden Seiten bereits Leistungen erbracht wurden; die beiderseitigen Leistungen sind Zug-um-Zug zurückzusetzen. Die Erklärung, dass der Kläger selbst bereit sei, seine Verbindlichkeit zu erfüllen, muss nicht in das Klagebegehren aufgenommen werden. Tut er dies nicht und erhebt der Beklagte die Zug-um-Zug-Einrede dann hat das Gericht darüber zu verhandeln und kann den Beklagten auch ohne einen ausdrücklichen Urteilsantrag zur Leistung Zug- um-Zug mit der vom Kläger zu erbringenden Gegenleistung verurteilen. Voraussetzung für die Aufnahme einer Zug-um- Zug-Verpflichtung in den Urteilsspruch durch das Gericht ist somit entweder ein entsprechendes Klagebegehren oder zumindest eine entsprechende im Klagsvorbringen zum Ausdruck kommende Bereitschaft des Klägers zur Erbringung der Gegenleistung oder aber ein entsprechendes Einwendungsvorbringen des Beklagten.

[55]           9.3 Die Aufnahme einer Zug-um-Zug- Verpflichtung in den Urteilsspruch kommt aber bei gegenseitigen Geldforderungen nicht in Betracht: In Geld bestehende Bereicherungsansprüche des Beklagten sind grundsätzlich als Gegenforderung einzuwenden.

[56]     9.4 Im fortgesetzten Verfahren wird sich das Erstgericht mit der erkennbar compensando eingewandten Risikoprämie auseinanderzusetzen haben.

[57]           10. Damit war der Revision Folge zu geben, die Entscheidungen der Vorinstanzen waren aufzuheben und die Rechtssache war zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

[58]     Der Kostenvorbehalt gründet auf § 52 ZPO.

Textnummer

E130561

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0070OB00174.20V.1217.000

Im RIS seit

09.02.2021

Zuletzt aktualisiert am

06.10.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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