Entscheidungsdatum
28.08.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
1.) L503 2163813-1/11E
2.) L503 2163819-1/10E
3.) L503 2163824-1/7E
4.) L503 2163830-1/7E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. DIEHSBACHER als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) mj. XXXX , geb. XXXX , 4.) mj. XXXX , geb. XXXX , alle StA. Irak, 3. und 4. gesetzlich vertreten durch ihre Eltern 1. und 2., alle vertreten durch Rechtsanwältin Mag.a Sarah KUMAR, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.6.2017 zu den Zahlen 1.) XXXX , 2.) XXXX , 3.) XXXX , 4.) XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 22.6.2020
A.)
I. beschlossen:
Die Beschwerdeverfahren werden hinsichtlich des Spruchpunktes I. der angefochtenen Bescheide eingestellt.
II. zu Recht erkannt:
1. Die Beschwerden werden hinsichtlich des Spruchpunktes II. der angefochtenen Bescheide gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
2. Den Beschwerden wird hinsichtlich der Spruchpunkte III. und IV. der angefochtenen Bescheide stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.
3. XXXX , geb. XXXX , wird gemäß §§ 58 Abs. 2 iVm 55 Abs. 1 und 54 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
4. XXXX , geb. XXXX , XXXX , geb. XXXX und XXXX , geb. XXXX , werden gemäß §§ 58 Abs. 2 iVm 55 Abs. 2 und 54 AsylG 2005 die Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ jeweils für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
B.) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Die Erstbeschwerdeführerin (im Folgenden kurz: "BF1") und der Zweitbeschwerdeführer (im Folgenden kurz: "BF2") sind Ehegatten und volljährige Staatsangehörige des Irak. Die BF1 und der BF2 haben gemeinsam zwei minderjährige Kinder, die Drittbeschwerdeführerin (im Folgenden kurz: "BF3) und den Viertbeschwerdeführer (im Folgenden kurz: "BF4"). Hinsichtlich der Zuordnung der Ziffern zu den einzelnen Personen wird auf den Spruch dieses Erkenntnisses verwiesen.
2. Am 23.10.2015 stellten der BF2 und die BF1, letztere für sich und als gesetzliche Vertreterin für ihre minderjährigen Kinder BF3 und BF4, Anträge auf internationalen Schutz.
Zu seinen Fluchtgründen gab der BF2 in seiner Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am Folgetag an, er sei Künstler (Musikant) gewesen und von radikalen Milizen mit dem Tode durch Verbrennen bedroht worden, da seine Kunst von diesen nicht gewollt gewesen sei. Er habe deshalb um das Leben seiner Familie und sein eigenes gefürchtet. Es habe einen Anschlag mit einem Molotowcocktail auf sein Haus gegeben. Zum Glück sei niemand verletzt worden, aber seit diesem Vorfall habe er die Drohungen ernst genommen. Im Fall einer Rückkehr befürchte er den Tod, da ihm die Milizen diesen in Aussicht gestellt hätten. Die BF1 gab in der Erstbefragung an, dass sie vor ca. zwei Wochen Opfer eines Brandanschlags geworden seien, ihr Zuhause sei dabei völlig zerstört worden. Da ihr Mann immer wieder von Milizen bedroht worden sei, hätten sie diesen Vorfall sehr ernst genommen. Ihr Mann habe für sie entschieden, dass sie ihre Heimat verlassen. Da sie um die Sicherheit ihrer Familie sehr besorgt gewesen sei, habe sie ihrem Mann zugestimmt und hätten sie den Irak verlassen. Im Fall einer Rückkehr in ihre Heimat fürchte sie um ihr Leben.
3. Am 24.5.2017 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme der BF1 und des BF2 durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden kurz: "BFA"). Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der BF2 zusammengefasst an, dass er als Bodyguard des Generals (Polizeidirektor von Basra) gearbeitet habe und durch Milizen bedroht worden sei. Angreifer hätten auf den General geschlossen. Nachdem der BF2 öfter Drohanrufe erhalten habe, sei sein Haus in der Nacht mit einer Brandflasche beworfen worden. Er sei zunächst zu seinem Bruder und danach nach Europa geflüchtet; er sei Deserteur. Zu seinen Lebensverhältnissen im Irak gab der BF2 an, er habe gemeinsam mit seiner Frau und seinen Kindern in Basra gelebt. Er sei insgesamt für zehn Jahre in die Schule gegangen, er habe keine Matura abgeschlossen und den Beruf des Musikers erlernt. Er habe auch als Maler gearbeitet. Ab 2008 habe er dann bis zu seiner Ausreise als Polizist gearbeitet; als Polizist habe er ein Gehalt von ungefähr 600 USD im Monat verdient. Er sei einfacher Polizist (Inspektor) gewesen. Der BF2 habe zwei Schwestern, zwei Brüder, einen Onkel und eine Tante im Irak; er habe auch noch Cousins. Seine Eltern seien beide verstorben. Wirtschaftlich gehe es der Familie nicht gut, der Staat zahle die Gehälter und Löhne nicht rechtzeitig aus, seine Familie müsse auch manchmal Hunger leiden. Der BF2 habe alle paar Monate Kontakt zu seinen Angehörigen im Irak.
Die BF1 gab zu ihren Fluchtgründen befragt zusammengefasst an, dass sie wegen der Gründe ihres Ehemannes geflüchtet sei; ihr Mann sei von Milizen wegen seiner Tätigkeit als Bodyguard bedroht worden, es habe einen Brandanschlag auf ihr Haus gegeben. Zu ihren Lebensverhältnissen im Irak gab die BF1 an, sie habe gemeinsam mit ihrem Mann und ihren Kindern in Basra gelebt. Sie sei insgesamt für neun Jahre in die Schule gegangen. Beruf habe sie keinen erlernt, sie sei Hausfrau gewesen. Ihr Mann habe sie erhalten, er habe gut verdient, ca. 900 Euro. Die Mutter der BF1, ihre drei Brüder und drei Schwestern würden nach wie vor in Basra leben, zusätzlich habe sie noch vier Onkel und eine Tante. Es gehe ihnen sehr gut. Sie seien große Beamte in der Stadt, es seien Richter und Ingenieure. Die BF1 habe täglich Kontakt zu ihren Angehörigen.
Im Verfahren vor der belangten Behörde legten die BF Ausweise vor; betreffend die BF1 zudem eine Bestätigung über den Besuch eines Deutschkurses A1.1; betreffend den BF2 ebenso eine Bestätigung über den Besuch eines Deutschkurses A1.1, eine Teilnahmebestätigung über gemeinnützige Arbeit in Form von Straßenreinigung vom 5.5.2017, ein Lichtbild, mehrere Ausweise und Karten sowie Screenshots; betreffend die BF3 eine Schulbesuchsbestätigung für die 4. Schulstufe (Schuljahr 2015/16) der VS XXXX vom 8.7.2016 sowie eine Schulnachricht für die 5. Schulstufe (Schuljahr 2016/17) der NMS XXXX vom 17.2.2017.
4. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden vom 16.6.2017 wies die belangte Behörde die Anträge sämtlicher BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkte I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkte II.) ab. Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurden den BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen sämtliche BF Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in den Irak zulässig sei (Spruchpunkte III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für ihre freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkte IV.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass nicht festgestellt werden habe können, dass der BF2 im Irak der Gefahr einer individuellen, konkret gegen ihn gerichteten Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung ausgesetzt sei. Er habe keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen können. Beweiswürdigend verwies die belangte Behörde zusammengefasst darauf, dass aufgrund der Angaben des BF2 im Verfahren eine Funktion als Personenschützer unglaubhaft sei; auch der behauptete Brandanschlag sei vom BF2 und der BF 1 unterschiedlich dargestellt worden. Das Vorbringen zu den erhaltenen Drohanrufen sei widersprüchlich. Da das gesamte Vorbringen des BF2 nicht nachvollzogen werden könne, sei auch von keiner Verfolgung aufgrund von Desertion auszugehen. Insgesamt habe der BF2 keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen können. Hinsichtlich der BF1 führte die belangte Behörde aus, dass diese keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht habe, sondern sich lediglich auf die Fluchtgründe ihres Ehemannes bezogen habe. Eine über das Vorbringen ihres Ehemannes hinausgehende oder daraus resultierende aktuelle und individuell drohende Verfolgung im Herkunftsstaat habe nicht festgestellt werden können. Im Hinblick auf die Kinder der BF wurde ausgeführt, für diese seien keine individuellen Fluchtgründe geltend gemacht worden.
Es habe auch nicht festgestellt werden können, dass den BF in ihrem Heimatstaat eine Gefahr drohe, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Es sei davon auszugehen, dass es dem BF2 auch in Zukunft möglich sein werde, seine Familie in Basra zu versorgen. Die BF1 und der BF2 seien gesund und würden über gute Schulbildung verfügen. Der BF2 sei im Irak bereits berufstätig gewesen und könne ihm eine Erwerbstätigkeit zugemutet werden. Sowohl der BF2 als auch die BF1 würden über ein ausgeprägtes Familiennetzwerk im Irak verfügen und wäre dadurch auch eine Betreuung der Kinder zum Zwecke der Berufstätigkeit erleichtert. Es sei damit nicht davon auszugehen, dass die BF, von möglicherweise vorhandenen anfänglichen Schwierigkeiten abgesehen, in eine aussichtslose Lebenslage geraten würden.
5. Mit Schriftsätzen ihres damaligen rechtsfreundlichen Vertreters vom 30.6.2017 erhoben die BF fristgerecht Beschwerde gegen die Bescheide der belangten Behörde vom 16.6.2017. Darin wurde in Bezug auf die Fluchtgründe vollinhaltlich auf das bisherige Vorbringen im Verfahren verwiesen. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die einzelnen Angaben der BF zum Brandanschlag widersprüchlich seien und seien auch die Angaben zur finanziellen Lage ihrer Verwandten nicht unglaubwürdig. Die Sicherheitslage im Irak sei volatil und instabil; dies sei von der belangten Behörde nicht gewürdigt worden. Die belangte Behörde habe sich nicht mit der Sicherheitslage in Basra auseinandergesetzt. Eine innerstaatliche Fluchtalternative wie Bagdad stehe den BF aufgrund der volatilen Sicherheitslage nicht offen.
6. Am 10.7.2017 wurden die Verfahrensakten dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt.
7. Mit Schriftsatz vom 16.6.2020 gab die nunmehrige rechtsfreundliche Vertreterin der BF ihre Vollmacht bekannt. In Bezug auf die BF3 wurde ausgeführt, dass diese fast 14 Jahre alt sei und derzeit die zweite Klasse der Sport-Mittelschule XXXX besuche. Ihre Klassenvorständin und ihre Deutsch-, Mathematik- und Englischlehrerin würden sie als wissbegieriges, für Neues sehr aufgeschlossenes Mädchen, das mit einer positiven und euphorischen Art auf Herausforderungen jeglicher Art zugehe und wodurch sie etwas ganz Besonderes sei, beschreiben. Die BF3 habe sich sofort in die Klassengruppe integriert und sei bei ihren MitschülerInnen sehr beliebt. Sie spreche mittlerweile ausgezeichnet Deutsch und werde als große Bereicherung für die Schule bezeichnet. Die BF3 könne nicht nur eine außerordentlich gute schulische Integration und Deutschkenntnisse auf muttersprachlichem Niveau vorweisen, sondern sei auch außerhalb von Schule und Kindergarten stark in die örtliche Gemeinschaft und Lebensweise integriert. Sie habe den Irak im Alter von acht Jahren verlassen und habe an ihren Herkunftsstaat nur noch entfernte Erinnerungen. In Österreich lebe sie das Leben einer freien jungen Frau, kleide und verhalte sich entsprechend ihrem als westlich wahrgenommenen Lebensstil und werde von ihren Eltern in diesem in jeder Hinsicht unterstützt. Ihr Berufswunsch sei derzeit Polizistin. Der BF4 besuche den Kindergarten in XXXX . Die Familie sei in XXXX sehr gut integriert und aufgrund ihrer Hilfsbereitschaft und Offenheit sehr beliebt; auf ein Schreiben von Frau XXXX wurde verwiesen.
Dem Schriftsatz beigelegt wurden drei Unterstützungsschreiben; betreffend die BF3 zudem eine Schülerbeobachtung und Schulbesuchsbestätigung vom 3.6.2020 sowie eine Schulnachricht für die 6. Schulstufe der SMS XXXX (Schuljahr 2019/20) vom 14.2.2020; betreffend den BF4 eine Kindergartenbesuchsbestätigung der XXXX vom 3.6.2020.
8. Am 22.6.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache der BF eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.
In der Verhandlung wurden die Beschwerden hinsichtlich des Spruchpunktes I. der angefochtenen Bescheide zurückgezogen. Das individuelle Fluchtvorbringen werde nicht aufrechterhalten. Hinsichtlich der Sicherheits- und Versorgungslage wurde ausgeführt, dass fast sieben Millionen Menschen im Irak humanitäre Hilfe benötigen würden; der Zugang zu dieser Hilfe sei für Binnenvertriebene außerhalb der Camps schwierig, in den Camps seien sie unverhältnismäßiger Gewalt ausgesetzt und sei die Versorgung mit Nahrungsmitteln nicht sichergestellt. Kinder seien im Irak in überproportionaler Weise von Gewalt und der schwierigen humanitären Lage betroffen. Der Irak verfüge auch über keinen adäquaten Schutz vor frauenspezifischer Gewalt und werde von Frauen erwartet, gegenüber Männern unterwürfig zu sein. Der BF3 und dem BF4 könne die Unsicherheit ihres Aufenthaltsstatus nicht angelastet werden und sei das Maß an Schwierigkeiten, welchem diese im Herkunftsstaat begegnen würden, zu berücksichtigen.
Im Zuge der Verhandlung wurden – zusätzlich zu den bereits aktenkundigen Bestätigungen – betreffend die BF1 und den BF2 jeweils Teilnahmebestätigungen über einen Deutschkurs Niveau A1.3; betreffend die BF3 eine Schulbesuchsbestätigung für die 5. Schulstufe (Schuljahr 2016/17) vom 7.7.2017, eine ergänzende differenzierende Leistungsbeschreibung für die 5. Schulstufe (Schuljahr 2016/17) vom 7.7.2017 sowie eine Schulbesuchsbestätigung der NMS XXXX für das Schuljahr 2017/2018 vom 12.9.2017, weiters eine Schulnachricht für die 5. Schulstufe (Schuljahr 2018/19) vom 15.2.2019, ein Jahreszeugnis für die 5. Schulstufe (Schuljahr 2018/19) vom 5.7.2019, eine ergänzende Leistungsfeststellung für das Schuljahr 2018/19 sowie ein Schreiben der NMS XXXX vom 5.7.2019 vorgelegt.
Das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA für den Irak (Gesamtaktualisierung am 17.3.2020) und der Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 2.3.2020 wurden in der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingebracht. Die rechtsfreundliche Vertreterin der BF verwies dazu auf das erstattete Vorbringen und führte dazu aus, dass dieses ohnehin bereits auf das Länderinformationsblatt bzw. UNHCR Bezug nehme.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der BF werden folgende Feststellungen getroffen:
Die BF tragen die im Spruch angeführten Namen und wurden an den dort angeführten Daten geboren. Die BF sind Staatsangehörige des Irak; sie gehören der Volksgruppe der Araber an und bekennen sich zum schiitischen Islam. Sie stammen aus Basra.
Die BF1 und der BF2 sind verheiratet. Sie sprechen Arabisch auf muttersprachlichem Niveau; auch ihre minderjährigen Kinder, die BF3 und der BF4, verfügen über Sprachkenntnisse in Arabisch. Die BF1 verfügt über neun Jahre Schulbildung im Irak und war bis zu ihrer Ausreise Hausfrau und betreute die Kinder. Der BF2 besuchte im Irak zehn Jahre lang die Schule. Anschließend war er in verschiedenen Berufen tätig, als Automechaniker, Maler und Anstreicher und zuletzt im Polizeidienst; davon bestritt er den Lebensunterhalt der Familie. Die BF3 besuchte im Irak die Volksschule bis zur dritten Klasse. Die BF lebten in einem staatlichen Diensthaus in Basra.
Die BF1 hat vier Schwestern und fünf Brüder, die ebenso wie ihre Mutter im Irak leben. Ihre vier Schwestern sind verheiratet; einer ihrer Brüder ist Ingenieur bei der Wasserbehörde, ein anderer Zivilingenieur beim Flughafen, zwei sind Professoren an der Universität, ein weiterer Offizier in Rente. Die BF1 steht ein- bis zweimal wöchentlich in telefonischem Kontakt mit ihren Angehörigen. Im Irak leben auch zwei Brüder und eine Schwester des BF2. Die beiden im Irak aufhältigen Brüder des BF2 arbeiten dort als Angestellte im Strom- bzw. Ölministerium, seine Schwester ist verheiratet. Der BF2 steht unregelmäßig, ca. einmal in der Woche oder im Monat, in Kontakt mit seinen Geschwistern im Irak.
1.2. Zur Lage der BF im Fall einer Rückkehr in den Irak:
Es kann unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände nicht festgestellt werden, dass eine Abschiebung der BF in den Irak eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur EMRK bedeuten oder für die BF als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit mit sich bringen würde.
Es kann insbesondere nicht festgestellt werden, dass die BF im Fall ihrer Rückkehr in den Irak in eine existenzbedrohende Notlage geraten würden. Die BF sind gesund, die volljährigen BF1 und BF2 sind auch arbeitsfähig. Es spricht nichts dagegen, dass der BF2 (wiederum) für den Lebensunterhalt der Familie sorgen wird können. Sowohl die BF1 als auch der BF2 verfügen im Irak über ein Netz von Angehörigen, mit denen sie auch in Kontakt stehen. Auch die minderjährigen BF3 und BF4 würden im Fall ihrer Rückkehr in den Irak nicht in eine existenzbedrohende Notlage geraten.
1.3. Zum Privat- und Familienleben der BF in Österreich:
Die BF halten sich seit Oktober 2015 – somit seit knapp fünf Jahren – im Bundesgebiet auf. Sie haben keine Verwandten in Österreich.
Die Deutschkenntnisse der BF1 und des BF2 sind nur gering ausgeprägt. Beide haben zwei Deutschkurse (Niveau A1.1 im Ausmaß von 50 Einheiten und A1.3 im Ausmaß von 100 Stunden) besucht, die Ablegung einer Deutschprüfung haben sie nicht nachgewiesen. Der BF2 verrichtete im Zeitraum von 19.9.2016 bis 5.5.2017 gemeinnützige Arbeit (Straßenreinigung) im Umfang von 101,5 Stunden. Die BF1 und der BF2 sind aktuell nicht erwerbstätig und beziehen Leistungen aus der Grundversorgung; sie sind unbescholten.
Die BF3 besucht seit dem Jahr 2015 in Österreich die Schule. Zunächst besuchte sie im Schuljahr 2015/2016 ab 10.11.2015 als außerordentliche Schülerin die 4. Schulstufe der VS XXXX . Im Schuljahr 2016/17 besuchte sie, ebenfalls als außerordentliche Schülerin, die 5. Schulstufe der NMS XXXX . Im Schuljahr 2017/18 besuchte sie weiterhin die NMS XXXX . Im Schuljahr 2018/19 besuchte sie die 5. Schulstufe der NMS XXXX . Seit September 2019 (Schuljahr 2019/20) besucht sie die SMS XXXX (zuletzt die 6. Schulstufe). In der zuletzt ausgestellten Schulnachricht der SMS XXXX vom 14.2.2020 (Schuljahr 2019/20) wurde der Unterrichtsgegenstand "Deutsch" mit Befriedigend beurteilt. Die BF3 hat gute Noten und keine Probleme im Schulunterricht. Sie spricht perfekt und akzentfrei Deutsch, ihre sprachlichen Leistungen allgemein sind überdurchschnittlich. Die BF3 verfügt altersentsprechend über einen Freundeskreis in Österreich.
Der BF4 besucht seit zwei Jahren den Kindergarten in XXXX .
Die minderjährigen BF3 und BF4 kommunizieren mit ihren Eltern hauptsächlich auf Arabisch, untereinander sprechen sie Arabisch oder Deutsch. Die BF3 verfügt nur über geringe schriftliche Kenntnisse der arabischen Sprache.
1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat der BF:
Zur Lage im Irak wird auf das vom Bundesverwaltungsgericht in der mündlichen Verhandlung vom 22.6.2020 in das Verfahren eingebrachte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak, Gesamtaktualisierung am 17.3.2020, sowie den Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 2.3.2020 verwiesen, in denen eine Vielzahl von Berichten diverser allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt werden. Insoweit die Berichtslage konkret im gegenständlichen Verfahren relevant ist (vor allem betreffend die Sicherheits- und Versorgunglage und die Situation von Kindern und Frauen im Irak), wird darauf unten im Rahmen der Beweiswürdigung betreffend die Rückkehrbefürchtungen der BF näher eingegangen. Die rechtsfreundliche Vertreterin der BF trat den diesem Erkenntnis zugrunde gelegten Berichten in der mündlichen Verhandlung nicht entgegen.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Person der BF:
Die zur Identität der BF getroffenen Feststellungen beruhen auf ihren Angaben im Verfahren und den vorgelegten Dokumenten; die Identität der BF wurde aber nicht durch Vorlage von (internationalen) Urkunden, z.B. von Reisepässen, nachgewiesen, sodass die festgestellten Identitäten nur als Verfahrensidentitäten gelten können.
Die Angaben der BF zu ihrer Staatsangehörigkeit, Volksgruppenzugehörigkeit und Glaubensrichtung waren nicht zweifelhaft.
Die getroffenen Feststellungen zu ihrem bisherigen Leben im Irak und zu ihren Angehörigen im Herkunftsstaat beruhen unmittelbar auf den diesbezüglich glaubhaften Angaben der BF in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht.
2.2. Zu den Rückkehrbefürchtungen der BF:
Eingangs ist festzuhalten, dass die Beschwerden der BF hinsichtlich des Spruchpunktes I. der angefochtenen Bescheide in der mündlichen Verhandlung zurückgezogen wurden und das diesbezügliche individuelle Fluchtvorbringen nicht aufrechterhalten wurde. Die angefochtenen Bescheide sind damit in Bezug auf die Abweisung der Anträge der BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten in Rechtskraft erwachsen. Dem Bundesverwaltungsgericht ist es damit verwehrt, sich mit dem – ohnehin nicht mehr aufrechterhaltenen Fluchtvorbringen der BF – näher auseinanderzusetzen. Die weiteren Ausführungen haben sich daher insbesondere auf die Rückkehrbefürchtungen der BF hinsichtlich der Sicherheits- und Versorgungslage sowie der Situation von Kindern und Frauen im Irak zu beziehen.
2.2.1. Zur Sicherheitslage im Irak:
2.2.1.1. Zur Sicherheitslage im Irak wird im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak, Gesamtaktualisierung am 17.3.2020, auszugsweise wie folgt ausgeführt:
Zur allgemeinen Sicherheitslage (S. 14):
"Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat […]. Die Sicherheitslage hat sich seitdem verbessert […]. Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete […].
Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren […].
In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten […]"
Zur Sicherheitslage im Südirak (S. 31):
"Der gesamte südliche Teil des Irak, einschließlich des Gouvernements Babil, steht nominell unter der Kontrolle der irakischen Regierung. Vielerorts scheinen die Regierungsbehörden gegenüber lokalen Stämmen und Milizen noch immer in einer schwächeren Position zu sein. Die irakische Regierung war gezwungen, dem Kampf gegen den IS im Zentral- und Nordirak in den letzten Jahren Vorrang einzuräumen, bedeutende militärische und polizeiliche Ressourcen aus dem Süden abzuziehen und in diese Gegenden zu entsenden. Vor diesem Hintergrund sind Stammeskonflikte, eskalierende Gesetzlosigkeit und Kriminalität ein Problem der lokalen Sicherheitslage. Die Bemühungen der Regierung, die Kontrolle wieder zu übernehmen, scheinen noch nicht zum entscheidenden Erfolg geführt zu haben. Regierungsnahe Milizen sind in unterschiedlichem Maße präsent, aber der Großteil ihrer Kräfte wird im Norden eingesetzt. Terrorismus und Terrorismusbekämpfung spielen im Süden nach wie vor eine Rolle, insbesondere in Babil, aber im Allgemeinen in geringerem Maße als weiter im Norden. Noch immer gibt es vereinzelte Terroranschläge […]
[…]
Seit 2015 finden in allen Städten des Südirak regelmäßig Demonstrationen statt, um gegen die Korruption der Regierung und die Arbeitslosigkeit zu protestieren und eine bessere Infrastruktur zu fordern. Gewöhnlich finden diese Demonstrationen in Ruhe statt, sie haben jedoch auch schon zu Zusammenstößen mit der Polizei geführt, mit Verletzten und Toten […]
Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements des Zentral- aber auch Südiraks (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiyah, Dhi Qar,Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen […]".
2.2.1.2. Wenngleich die Berichte noch ein durchaus problematisches Bild von der Sicherheitslage im Irak – so auch im Südirak – zeichnen, kann daraus nach Ansicht des erkennenden Gerichtes nicht abgeleitet werden, dass gleichsam jeder, der dorthin verbracht wird, einer realen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt ist. Das individuelle Fluchtvorbringen der BF wurde bereits (rechtskräftig) als unglaubhaft qualifiziert; eine maßgebliche Gefährdung allein aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage konnte aber – insbesondere vor dem Hintergrund, dass nach wie vor zahlreiche Familienangehörige der BF im Irak leben und in Bezug auf die Person der konkreten BF keine besonderen persönlichen Merkmale hervorgekommen sind, die eine erhöhte Gefährdung ihrer Sicherheit als wahrscheinlich erscheinen lassen würden – nicht festgestellt werden.
2.2.2. Zur Versorgungs- und Wirtschaftslage im Irak:
2.2.2.1. Im Hinblick auf die Grundversorgung im Irak wird im Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 2.3.2020, auszugsweise wie folgt ausgeführt (S. 25):
"Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Jenseits des Ölsektors – daraus stammen 90% der Staatseinnahmen – verfügt Irak kaum über eigene Industrie. Der Hauptarbeitgeber ist die öffentliche Hand. Über 4 Mio. der geschätzt 38 Mio. Iraker sind Staatsbedienstete.
Öffentliche Gehälter wurden in den letzten Jahren aufgrund der schlechten Haushaltslage teilweise gar nicht oder erst mit mehrmonatiger Verspätung gezahlt. Nach Angaben der Weltbank (2018) leben über 70 % der Iraker in Städten, wobei die Mehrzahl der Stadtbewohner in prekären Verhältnissen lebt, ohne ausreichenden Zugang zu öffentlichen Basis-Dienstleistungen. Bedürftige erhalten Lebensmittelgutscheine, mit denen sie in speziellen staatlichen Geschäften einkaufen können. Die vom "IS" befreiten Gebiete sind immer noch stark durch improvisierte Sprengfallen oder nicht-explodierte Kampfmittel kontaminiert. Einige Städte und Siedlungen sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv von UNDP und internationalen Gebern unterstützt. Deutschland ist seit 2014 mit kumuliert ca. 2 Mrd. Euro einer der größten Geber.
Über die befreiten Gebiete hinaus ist im gesamten Land die durch Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur stark sanierungsbedürftig. Die Versorgungslage ist für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Nach Angaben der WHO (2014) leben 17% der Bevölkerung unterhalb der internationalen Armutsgrenze (1,90 USD/Tag). Die genannten Defizite werden durch die grassierende Korruption zusätzlich verstärkt.
Die Stromversorgung ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht. Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten häufig unterbrochen. In der RKI erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag, insbesondere im Sommer und Winter (höherer Verbrauch durch Klimatisierung und Heizperiode).
Die Wasserversorgung leidet unter völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen. Sie führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Hinzu kommt Verschmutzung durch (Industrie-)Abfälle. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser. Kritisch wird die Wasserversorgung in den Sommermonaten immer wieder in der Hafenstadt Basra (ca. 2 Mio. Einwohner), die insbesondere im Sommer 2018 unter einer Wasserkrise litt. Über 100.000 Fälle von registrierten Magen-Darm-Erkrankungen waren auf die schlechte Wasserqualität zurückzuführen."
2.2.2.2. Im Hinblick auf die Grundversorgung und Wirtschaft im Irak wird im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak, Gesamtaktualisierung am 17.3.2020, auszugsweise wie folgt ausgeführt:
Zur Wirtschaftslage (S. 134 f):
"Der Irak erholt sich nur langsam vom Terror des IS und seinen Folgen. Nicht nur sind ökonomisch wichtige Städte wie Mossul zerstört worden. Dies trifft das Land, nachdem es seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg, Sanktionen zerrüttet wurde. Wiederaufbauprogramme laufen bereits, vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen traf die Weltbank im April 2019 […]. Iraks Wirtschaft erholt sich allmählich nach den wirtschaftlichen Herausforderungen und innenpolitischen Spannungen der letzten Jahre. Während das BIP 2016 noch um 11% wuchs, verzeichnete der Irak 2017 ein Minus von 2,1%. 2018 zog die Wirtschaft wieder an und verzeichnete ein Plus von ca. 1,2% aufgrund einer spürbaren Verbesserung der Sicherheitsbedingungen und höherer Ölpreise. Für 2019 wurde ein Wachstum von 4,5% und für die Jahre 2020–23 ebenfalls ein Aufschwung um die 2-3%-Marke erwartet […]
Das Erdöl stellt immer noch die Haupteinnahmequelle des irakischen Staates dar […]. Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Der Irak besitzt kaum eigene Industrie jenseits des Ölsektors. Hauptarbeitgeber ist der Staat […]
Die Arbeitslosenquote, die vor der IS-Krise rückläufig war, ist über das Niveau von 2012 hinaus auf 9,9% im Jahr 2017/18 gestiegen. Unterbeschäftigung ist besonders hoch bei IDPs. Fast 24% der IDPs sind arbeitslos oder unterbeschäftigt (im Vergleich zu 17% im Landesdurchschnitt). Ein Fünftel der wirtschaftlich aktiven Jugendlichen ist arbeitslos, ein weiters Fünftel weder erwerbstätig noch in Ausbildung […].
Die Armutsrate im Irak ist aufgrund der Aktivitäten des IS und des Rückgangs der Öleinnahmen gestiegen […]. Während sie 2012 bei 18,9% lag, stieg sie während der Krise 2014 auf 22,5% an […]. Einer Studie von 2018 zufolge ist die Armutsrate im Irak zwar wieder gesunken, aber nach wie vor auf einem höheren Niveau als vor dem Beginn des IS-Konflikt 2014, wobei sich die Werte, abhängig vom Gouvernement, stark unterscheiden. Die südlichen Gouvernements Muthanna (52%), Diwaniya (48%), Maisan (45%) und Dhi Qar (44%) weisen die höchsten Armutsraten auf, gefolgt von Ninewa (37,7%) und Diyala (22,5%). Die niedrigsten Armutsraten weisen die Gouvernements Dohuk (8,5%), Kirkuk (7,6%), Erbil (6,7%) und Sulaymaniyah (4,5%) auf. Diese regionalen Unterschiede bestehen schon lange und sind einerseits auf die Vernachlässigung des Südens und andererseits auf die hohen Investitionen durch die Regionalregierung Kurdistans in ihre Gebiete zurückzuführen […]. Die Regierung strebt bis Ende 2022 eine Senkung der Armutsrate auf 16% an […].
Grundsätzlich ist der öffentliche Sektor sehr gefragt. Die IS-Krise und die Kürzung des Budgets haben Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im privaten und öffentlichen Sektor. Arbeitsmöglichkeiten haben im Allgemeinen abgenommen. Die monatlichen Einkommen im Irak liegen in einer Bandbreite zwischen 200 und 2.500 USD (Anm.: ca. 185-2.312 EUR), je nach Position und Ausbildung. Das Ministerium für Arbeit und Soziales bietet Unterstützung bei der Arbeitssuche und stellt Arbeitsagenturen in den meisten Städten. Die Regierung hat auch ein Programm gestartet, um irakische Arbeitslose und Arbeiter, die weniger als 1 USD (Anm.: ca. 0,9 EUR) pro Tag verdienen, zu unterstützen. Aufgrund der Situation im Land wurde die Hilfe jedoch eingestellt. Weiterbildungsmöglichkeiten werden durch Berufsschulen, Trainingszentren und Agenturen angeboten. Aufgrund der derzeitigen Situation im Land sind derzeit keine dieser Weiterbildungsprogramme, die nur durch spezielle Fonds zugänglich sind, aktiv […]."
Zur Nahrungsmittelversorgung (S. 136):
"Etwa 1,77 Millionen Menschen im Irak sind von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen, ein Rückgang im Vergleich zu 2,5 Millionen Betroffenen im Jahr 2019 […]. Die meisten davon sind IDPs und Rückkehrer. Besonders betroffen sind jene in den Gouvernements Diyala, Ninewa, Salah al-Din, Anbar und Kirkuk […]. 22,6% der Kinder sind unterernährt […]. […]"
2.2.2.3. Das Bundesverwaltungsgericht übersieht nicht, dass sich die Versorgungslage im Irak zum Teil als problematisch darstellt; die Berichtslage deutet aber in keiner Weise auf exzeptionelle Umstände, wie Hungersnöte oder andere die gesamte Bevölkerung betreffende Notstandssituationen hin. Es kann im konkreten Fall nicht festgestellt werden, dass konkret die BF im Falle einer Rückkehr in den Irak in eine existenzbedrohende Notlage geraten würden. Die BF sind gesund, die BF1 und der BF2 darüber hinaus auch arbeitsfähig. Der BF2 war im Irak bereits in verschiedenen Berufen tätig und hat dort für den Lebensunterhalt der Familie gesorgt. Es sind keine Gründe ersichtlich, weshalb er im Irak nicht wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen und den Lebensunterhalt der Familie verdienen könnte. Soweit er dazu in der mündlichen Verhandlung (Verhandlungsschrift S. 13) ausführt, ihm würden Sanktionen drohen, da er als Polizist die Arbeit unentschuldigt verlassen habe und ausgereist sei, so ist darauf zu verweisen, dass die behauptete Desertion aus dem Polizeidienst bereits Bestandteil des Fluchtvorbringens des BF2 war, welches in seiner Gesamtheit – damit auch zur behaupteten Desertion – als unglaubhaft qualifiziert wurde und sein Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten folglich auch (rechtskräftig) abgewiesen wurde. Der BF2 konnte sohin keine nachvollziehbaren Gründe dafür angeben, weshalb es ihm nicht wieder möglich sein werde, im Irak einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.
Zu ihrer wirtschaftlichen Situation der BF vor der Ausreise aus dem Irak gab der BF2 im Verfahren vor der belangten Behörde an, dass sie manchmal auch Hunger gelitten hätten (BF2, AS 107); die BF1 gab hingegen an, dass der BF2 gut verdient habe (BF1, AS 100). Jedenfalls verfügen sowohl die BF1 als auch der BF2 über ein Netz von Angehörigen im Irak. In der mündlichen Verhandlung bezeichnete die BF1 die wirtschaftliche Lage ihrer Angehörigen im Irak als "Mittelschicht" (Verhandlungsschrift S. 8); auch der BF2 beurteilte die wirtschaftliche Lage seiner Brüder im Irak als "Mittelschicht" (Verhandlungsschrift S. 6). Vor dem Hintergrund der durchwegs gehobenen Positionen, welche die Angehörigen der BF im Irak einnehmen (zwei Angestellte im Öl- bzw. Stromministerium, zwei Universitätsprofessoren, zwei Ingenieure, ein Offizier im Ruhestand), kann nicht angenommen werden, dass die BF im Fall einer Rückkehr nicht von ihren Angehörigen unterstützt werden könnten. Die BF haben zu ihren Angehörigen auch nach wie vor Kontakt – im Fall der BF1 ein- bis zweimal wöchentlich, im Fall des BF2 einmal in der Woche bzw. einmal im Monat; es kann somit auch nicht davon ausgegangen werden, dass mittlerweile eine Entfremdung von ihren Angehörigen eingetreten wäre. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass der Berichtslage zufolge im Irak öffentliche Gehälter in den letzten Jahren teilweise erst mit Verspätung oder gar nicht ausbezahlt wurden. Dies machte der BF2 auch bereits in seiner Einvernahme vor der belangten Behörde geltend (BF2, AS 107); dessen ungeachtet betonte die BF1 bei dieser Gelegenheit aber gleich mehrfach, dass es ihren Familienangehörigen "sehr gut" gehe (BF1, AS 101). Auch der Umstand, dass die – im Vergleich mit der Durchschnittsbevölkerung des Irak durchaus gut situierten – Angehörigen der BF selbst Familien hätten (Verhandlungsschrift S. 11 f) erscheint einer Unterstützung der BF, zumindest für eine Übergangszeit nach ihrer Rückkehr in den Irak, nicht entgegenzustehen. Dass die BF im Fall einer Rückkehr in den Irak in eine existenzielle Notlage geraten würden, ist damit nicht erkennbar.
2.2.3. Zur Situation von Kindern im Irak:
2.2.3.1. Im Hinblick auf die Situation von Kindern im Irak wird im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak, Gesamtaktualisierung am 17.3.2020, auszugsweise wie folgt ausgeführt (S. 108 ff):
"Die Hälfte der irakischen Bevölkerung ist unter 18 Jahre alt. Kinder waren und sind Opfer der kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre. Sie sind einerseits in überproportionaler Weise von der schwierigen humanitären Lage, andererseits durch Gewaltakte gegen sie selbst oder gegen Familienmitglieder stark betroffen […]. Laut UNICEF machen Kinder fast die Hälfte der durch den Konflikt vertriebenen Iraker aus […]. Im Dezember 2019 waren noch mehr als 1,4 Millionen Menschen, darunter 658.000 Kinder, IDPs, vor allem im Norden und Westen des Landes […].
Eine Million Kinder unter 18 Jahren hatte Ende 2019 humanitären Bedarf an Wasser, sanitären Einrichtungen und Hygiene […]. Über ein Viertel aller Kinder im Irak lebt in Armut. Dabei waren, über die letzten Jahrzehnte, Kinder im Süden des Landes und in ländlichen Gebieten am stärksten betroffen […]. 22,6% der Kinder im Irak sind unterernährt […]. Ein Viertel aller Kinder unter fünf Jahren sind physisch unterentwickelt bzw. im Wachstum zurückgeblieben […].
Gewalt gegen Kinder bleibt ein großes Problem […]. Berichten zufolge verkaufen Menschenhändlernetze irakische Kinder zur kommerziellen sexuellen Ausbeutung. Letztere erfolgt im In- und Ausland. Verbrecherbanden sollen Kinder zwingen, im Irak zu betteln und Drogen zu verkaufen […]. Auch Kinderprostitution ist ein Problem, insbesondere unter Flüchtlingen. Da die Strafmündigkeit im Irak in den Gebieten unter der Verwaltung der Zentralregierung neun Jahre beträgt und in der KRI elf, behandeln die Behörden sexuell ausgebeutete Kinder oft wie Kriminelle und nicht wie Opfer […].
Die Regierung und schiitische religiöse Führer verbieten Kindern unter 18 Jahren ausdrücklich den Kriegsdienst. Es gibt keine Berichte, wonach Kinder von staatlicher Seite zum Dienst in den Sicherheitskräften einberufen oder rekrutiert werden. Der Regierung mangelt es jedoch an Kontrolle über einige PMF-Einheiten, sie kann die Rekrutierung von Kindern durch diese Gruppen nicht verhindern, darunter die Asa’ib Ahl al-Haqq (AAH), Harakat Hezbollah al-Nujaba (HHN) und die Kata’ib Hizbollah (KH) […]. Es gibt auch keine diesbezüglichen Untersuchungen […]. Die Vereinten Nationen untersuchen die Rekrutierung und Verwendung von 39 Kindern durch die Konfliktparteien, darunter fünf Buben im Alter von zwölf bis 15 Jahren, die von der irakischen Bundespolizei im Gouvernement Ninewa zur Verstärkung eines Kontrollpostens eingesetzt wurden […]. Berichten zufolge rekrutieren sowohl die Volksverteidigungskräfte (HPG), der militärische Arm der Kurdische Arbeiterpartei (PKK), und die jesidische Miliz Shingal Protection Unit (YBS) nach wie vor Kinder und setzen diese als Soldaten ein. Genaue Zahlen sind zwar nicht verfügbar, aber sie werde auf einige Hundert geschätzt […]. Seit der territorialen Niederlage des IS im Jahr 2017 gibt es keine neuen Informationen über den Einsatz von Kindern durch den IS […]. Zuvor hatte der IS ab 2014 tausende Kinder rekrutiert. Diese wurden als Frontkämpfer, Selbstmordattentäter, zur Herstellung und Anbringung von Sprengsätzen, zur Durchführung von Patrouillen, als Wächter und Spione und für eine Vielzahl von Unterstützungsaufgaben eingesetzt […]. Die Zentralregierung sowie die Regierung der Kurdischen Region im Irak verfolgen solche Kinder gemäß ihren Terrorismusbekämpfungsgesetzen. Etwa 1.500 irakische Kinder werden wegen des Vorwurfs einer IS-Angehörigkeit in Gefängnissen festgehalten und gefoltert, um Geständnisse zu erzwingen […]. Es gibt Berichte über Verurteilungen von Kindern als Terroristen […]."
2.2.3.2. Die Situation von Kindern im Irak stellt sich den Länderberichten zufolge aus verschiedenen Gründen als schwierig dar. Angesichts einer Rückkehr der minderjährigen BF3 und BF4 gemeinsam mit ihren Eltern und des vorhandenen Netzes von Angehörigen im Irak ist aber nicht anzunehmen, dass die BF3 und der BF4 unmittelbar von der problematischen Versorgungslage von Kindern im Irak betroffen wären; in Anbetracht des familiären Umfeldes der BF im Irak ist davon auszugehen, dass die alltäglichen Lebensbedürfnisse der BF3 und BF4 dort jedenfalls gedeckt werden können. Es erscheint auch nicht als maßgeblich wahrscheinlich, dass gerade die BF3 oder der BF4 Opfer von Gewalt, Zwangsprostitution oder -rekrutierung werden würden, zumal sie im Fall einer gemeinsamen Rückkehr der Familie in den Irak sowohl die Unterstützung ihrer Eltern als auch ihrer – vergleichsweise gut situierten – Verwandten erwarten könnten und vor diesem Hintergrund auch damit zu rechnen ist, dass ihnen eine entsprechende Ausbildung zuteilwürde, zumal auch im Verwandtenkreis der BF offenkundig Wert auf Bildung gelegt wird; so sind etwa zwei Onkel der BF3 und des BF4 Professoren an der Universität.
2.2.4. Zur Situation von Frauen im Irak:
2.2.4.1. Im Hinblick auf geschlechtsspezifische Verfolgung im Irak wird im Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 2.3.2020, auszugsweise wie folgt ausgeführt (S. 15):
"Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Frauen sind im Alltag Diskriminierung ausgesetzt, die ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen, sozialen und wirtschaftlichem Leben in Irak verhindert. Die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft und insbesondere unter Binnenflüchtlingen hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z. B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken. Frauen wird überproportional der Zugang zu Bildung und Teilnahme am Arbeitsmarkt verwehrt. Laut UNESCO (2018) sind 44% der Frauen über 15 Jahre des Lesens und Schreibens mächtig (Männer: 56%). In den Familien sind patriarchische Strukturen weit verbreitet; Frauen werden immer noch in Ehen gezwungen. 24,3% der 20-24jährigen Frauen wurden laut UNICEF (2018) vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet. […]"
2.2.4.2. Im Hinblick auf die Situation von Frauen im Irak wird im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak, Gesamtaktualisierung am 17.3.2020, auszugsweise wie folgt ausgeführt (S. 98 ff):
"Häusliche Gewalt ist weiterhin ein allgegenwärtiges Problem […], vor dem Frauen nur wenig rechtlichen Schutz haben […]. Das irakische Strafgesetz enthält zwar Bestimmungen zur Kriminalisierung von Körperverletzung, es fehlt jedoch eine ausdrückliche Erwähnung von häuslicher Gewalt […]. Der Irak hat zwar eine nationale Strategie gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen angenommen, aber noch kein Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt verabschiedet […].
Nach Artikel 41, Absatz 1 des Strafgesetzbuches hat der Ehemann das Recht, seine Frau innerhalb der durch Gesetz oder Gewohnheit vorgeschriebenen Grenzen zu disziplinieren […]. Diese Grenzen sind recht vage definiert, sodass verschiedene Arten von Gewalt als "rechtmäßig" interpretiert werden können. Nach Artikel 128 Absatz 1 des Strafgesetzbuches können Straftaten, die aufgrund der "Ehre" oder "vom Opfer provoziert" begangen wurden, ungestraft bleiben, bzw. kann in solchen Fällen die Strafe gemildert werden. Täter, die Gemeinschaft, aber auch Opfer selbst sehen häusliche Gewalt oft als "normal" und rechtfertigen sie aus kulturellen und religiösen Gründen […]. Frauen tendieren dazu häusliche Gewalt aus Scham oder Angst vor Konsequenzen nicht zu melden, manchmal auch um den Täter zu schützen […]. Viele Frauen haben kein Vertrauen in die Polizei und halten den von ihr gebotenen Schutz für nicht angemessen […].
Während sexuelle Übergriffe, wie z.B. Vergewaltigung, sowohl gegen Frauen als auch gegen Männer strafbar sind, sieht Artikel 398 des irakischen Strafgesetzbuches vor, dass Anklagen aufgrund von Vergewaltigung fallen gelassen werden können, wenn der Angreifer das Opfer heiratet […]. Dies trifft auch zu, wenn das Opfer minderjährig ist […]. Vergewaltigung innerhalb der Ehe stellt keine Straftat dar […].
[…]
Der Irak verfügt zurzeit über keinen adäquaten rechtlichen Rahmen, um Frauen und Kinder vor häuslicher, sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt zu schützen […].
[…]
Sowohl Männer als auch Frauen stehen unter Druck, sich an konservative Normen zu halten, was das persönliche Erscheinungsbild betrifft […]. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z.B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken […]. Einige Muslime bedrohen weiterhin Frauen und Mädchen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, wenn sich diese weigern, den Hijab zu tragen, bzw. wenn sie sich in westlicher Kleidung kleiden oder sich nicht anstrenge Interpretationen islamischer Normen für das Verhalten in der Öffentlichkeit halten […]."
2.2.4.3. Der Berichtslage zufolge sind Frauen im Irak weiterhin von zahlreichen Problemen im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischer Diskriminierung und häuslicher Gewalt betroffen. Im konkreten Fall der BF1 ergeben sich jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass sie im Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit frauenspezifischer Gewalt ausgesetzt sein würde. Die BF1 machte weder geltend, dass ihr häusliche Gewalt – etwa im familiären Umfeld – widerfahren wäre, noch dass die aus bestimmten Gründen damit rechnen müsste. Soweit in der mündlichen Verhandlung vorgebracht wurde, dass von Frauen im Irak erwartet werden, gegenüber Männer unterwürfig zu sein (Verhandlungsschrift S. 12), ist dem zu entgegnen, dass im Verfahren keinerlei Anhaltspunkte dafür hervorgekommen sind, dass dies etwa auf das eheliche Verhältnis zwischen der BF1 und dem BF2 zutreffen würde. Soweit an gleicher Stelle auf die Rückkehrsituation von Frauen mit einer westlichen Lebensweise hingewiesen wurde, ist dazu festzuhalten, dass die minderjährige BF3 in der mündlichen Verhandlung angab, die Leute würden sie im Fall einer Rückkehr „komisch anschauen“, wenn sie ohne Kopftuch auf der Straße gehe; die BF1 führte dazu aus, dass sie bestraft würde, weil sie volljährig sei. Sie müsse verschleiert sein und Rücksicht darauf nehmen, was die Gesellschaft verlange. Die BF1 gab auf die Frage, ob sie sehr gläubig sei, an, dass dies nicht der Fall sei; man sehe, dass sie nicht so religiös sei (vgl. Verhandlungsschrift S. 14). Aus dem Berichtsmaterial kann nicht abgeleitet werden, dass gleichsam alle Frauen, die sich in einem westlich orientierten Land aufgehalten haben und in den Irak zurückkehren, dort mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer relevanten Gefährdung ausgesetzt wären. Zwar trifft es zu, dass – insbesondere auch im Südirak – islamische Regeln stärker durchgesetzt werden. Die BF1 und BF3 haben allerdings nicht konkret geltend gemacht, dass es ihnen unzumutbar wäre oder ihr Leben maßgeblich beeinträchtigen würde, sich an bestimmte religiöse oder gesellschaftliche Gebote zu halten, z.B. ein Kopftuch zu tragen. So wies die BF1 zwar darauf hin, dass sie bestraft würde, wenn sie sich nicht verschleiere, brachte aber nicht vor, dass sie nunmehr eine westliche Lebenseinstellung angenommen hätte, welche mit den im Irak geltenden Vorschriften unvereinbar wäre. Die BF1 hat auch nicht dargelegt, welche (weiteren) Verhaltensweisen und Ansichten bei ihr nunmehr vorliegen würden, um tatsächlich von der Annahme eines westlichen Lebensstils in identitätsstiftender Art und Weise ausgehen zu können. Zusätzliche, in der Person der BF1 gelegene Faktoren, kamen gegenständlich nicht hinzu (vgl. etwa das Erkenntnis des VfGH vom 23.9.2019, E 2018/2019; hier hatte die Beschwerdeführerin ihren als westlich wahrgenommen Lebensstil insbesondere als Bloggerin in sozialen Medien zum Ausdruck gebracht). Gleiches gilt für die 14-jährige BF3, die in diesem Zusammenhang (sinngemäß) lediglich angab, dass die Leute im Irak schlecht über Frauen ohne Kopftuch denken würden; ihre Eltern hätten hingegen Verständnis dafür, wenn sie einen Freund habe oder kurze Sachen trage (Verhandlungsschrift S. 10). Im Alter von 14 Jahren ist überdies noch von der Anpassungsfähigkeit von Kindern auszugehen, zumal im Fall der BF3 hinzukommt, dass sie bis zum Alter von ca. acht Jahren ihre grundsätzliche Sozialisierung bereits im Heimatland erfahren hat, was eine Wiedereingliederung jedenfalls als zumutbar erscheinen lässt (vgl. VwGH vom 30.7.2015, Ra 2014/22/0055).
Eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur EMRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit der BF als Zivilpersonen im Fall einer Rückkehr in den Irak konnte damit nicht festgestellt werden.
2.2.5. Zur Situation im Irak im Zusammenhang mit der aktuellen COVID-19-Pandemie:
Der Vollständigkeit halber sei ergänzend angemerkt, dass nicht verkannt wird, dass auch der Irak von der aktuellen, weltweiten COVID-19-Pandemie heimgesucht wird. Aktuell (Stand 26.8.2020) gibt es im Irak 207.985 bestätigte Fälle, wobei davon allerdings bereits 150.389 Personen genesen sind; 6.519 Personen sind bis dato verstorben. Dies bedeutet 5.316 Fälle pro eine Million Menschen (weltweit tagesaktuelle Statistiken abgerufen unter https://news.google.com/covid19/map?hl=de&mid=%2Fm%2F0d05q4&gl=AT&ceid=AT%3Ade). In Relation ist diese Zahl zwar höher als jene in Österreich (2.887 Fälle pro eine Million Menschen), aber erheblich niedriger als in den stärker betroffenen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, etwa Spanien mit 8.608 oder Schweden mit 8.392 Fällen pro eine Million Menschen. Für den Irak weist die aktuelle Zahl von 5.316 Fällen pro eine Million Menschen – auch im Vergleich zu anderen Staaten in der Region, etwa dem Iran mit 4.234 oder Saudi-Arabien mit 9.020 Fällen pro eine Million Menschen – nicht auf eine völlig außer Kontrolle geratene Ausbreitung des Virus hin. Die Irakische Regierung versuchte insbesondere, die Ausbreitung des Virus durch eine komplette Ausgangssperre für die Zeit zwischen 30.7. und 9.8.2020 einzudämmen (vgl. die aktuellen Hinweise des BMEIA zum Irak, abgerufen am 26.8.2020).
Im konkreten Fall ist zu betonen, dass die BF keine Vorerkrankungen aufweisen und unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände nicht davon auszugehen ist, dass sie der COVID-19-Risikogruppe angehören. In einer Gesamtbetrachtung kann aus den vorliegenden Statistiken und Berichten nicht abgeleitet werden, dass den BF im Irak aufgrund der derzeitigen Pandemie mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr für ihre Gesundheit oder gar ihr Leben droht.
2.3. Zum Privat- und Familienleben der BF in Österreich:
Die getroffenen Feststellungen zum Privat- und Familienleben der BF in Österreich beruhen auf ihren glaubhaften Angaben im erstinstanzlichen Verfahren und in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht sowie auf den vorgelegten Bestätigungen und Schreiben. Dass die BF unbescholten sind, ergibt sich aus den vom Gericht eingeholten Strafregisterauszügen. Von den Deutschkenntnissen der BF1-3 konnte sich das Gericht in der mündlichen Verhandlung selbst ein Bild machen.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Allgemeine rechtliche Grundlagen:
Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich entscheidet das Bundesverwaltungsgericht mangels anderer Regelung somit durch Einzelrichter.
Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG durch Erkenntnis zu erledigen.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 i.d.F. BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
§ 1 BFA-VG bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.
Zu A.)
3.2. Zu Spruchpunkt A.I.:
Gemäß § 7 Abs. 2 VwGVG ist eine Beschwerde nicht mehr zulässig, wenn die Partei nach Zustellung oder Verkündung des Bescheides ausdrücklich auf die Beschwerde verzichtet hat. Eine Zurückziehung der Beschwerde durch den Beschwerdeführer ist in jeder Lage des Verfahrens ab Einbringung der Beschwerde bis zur Erlassung der Entscheidung möglich (vgl. Eder/Martschin/Schmid, Das Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte, § 7 VwGVG, K 6).
Dasselbe folgt sinngemäß aus § 17 VwGVG iVm § 13 Abs. 7 AVG.
Das Rechtsmittelverfahren ist (auch) in von Verwaltungsgerichten geführten Beschwerdeverfahren einzustellen, wenn das Rechtsmittel rechtswirksam zurückgezogen wurde. Diese Einstellung des Beschwerdeverfahrens hat in der Rechtsform des Beschlusses zu erfolgen (VwGH vom 29.4.2015, Fr 2014/20/0047).
Die rechtsfreundliche Vertreterin der BF hat die Beschwerden hinsichtlich des Spruchpunktes I. der angefochtenen Bescheide in der mündlichen Verhandlung zurückgezogen. Die Beschwerdeverfahren waren daher in diesem Umfang spruchgemäß beschlussmäßig einzustellen.
3.3. Zu Spruchpunkt A.II.1.:
3.3.1. Gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten einem Fremden zuzuerkennen, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Nach Abs. 3 dieser Bestimmung sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offensteht.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 21. Mai 2019, Ra 2019/19/0006-3, ausgesprochen, dass aus dem Wortlaut des § 8 Abs. 1 AsylG ableitbar ist, dass für die Gewährung subsidiären Schutzes bereits jegliche Gefahr (real risk) einer Verletzung von Art. 3 EMRK an sich, und zwar unabhängig von einer Verursachung von Akteuren oder einer Bedrohung in einem bewaffneten Konflikt im Herkunftsstaat, ausreicht.
3.3.2. Wie bereits im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegt, muss die Sicherheitslage im Irak zwar weiterhin als problematisch bezeichnet werden; dessen ungeachtet stellt sich die Lage im Irak – hier auch konkret im Südirak – nach Auffassung des erkennenden Gerichtes nicht als dermaßen prekär dar, dass bereits jedwede Rückverbringung dorthin eine Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK bedeuten würde. Dies gilt, unter besonderer Berücksichtigung der Lage von Kindern und Frauen im Irak, gleichermaßen auch in Bezug auf die individuelle Situation der BF.
In einer Rückverbringung der BF in den Irak kann keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erblickt werden und ergibt sich auch vor dem Hintergrund der aktuellen, weltweiten COVID-19-Pandemie keine besondere Gefährdung der BF, wobei auch diesbezüglich auf die im Rahmen der Beweiswürdigung getätigten Ausführungen verwiesen sei.
Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass die BF – die im Irak über ein Netz von Familienangehörigen verfügen – im Fall einer Rückkehr in den Irak in eine existenzbedrohende Notlage geraten würden (vgl. dazu die Ausführungen unter Punkt 2.2.2.).
Unter Berücksichtigung der Länderberichte und der persönlichen Situation der BF ist in einer Gesamtbetrachtung daher nicht zu erkennen, dass sie im Fall einer Abschiebung in den Irak in eine ausweglose Lebenssituation geraten oder real Gefahr laufen würden, eine Verletzung ihrer durch Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der durch die Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention geschützten Rechte zu erleiden bzw. dass eine Abschiebung eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit der BF als Zivilpersonen mit sich bringen würde.
Die Anträge der BF auf internationalen Schutz waren daher hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak spruchgemäß abzuweisen.
3.4. Zu Spruchpunkt A.II.2.:
3.4.1. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt wird (§ 10