TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/28 L529 2212074-1

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Veröffentlicht am 28.09.2020
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Entscheidungsdatum

28.09.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch

L529 2212069-1/10E

L529 2212074-1/9E

L529 2212073-2/6E

L529 2212071-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. M. EGGINGER als Einzelrichter über die Beschwerden von 1. XXXX (BF1), geb. XXXX , 2. XXXX (BF2), geb. XXXX , 3. XXXX (BF3), geb. XXXX und 4. XXXX (BF4), geb. XXXX , alle StA. Armenien, der minderjährige BF4 vertreten durch die Eltern (BF1-BF2) diese und die BF3 vertreten durch Verein Legal Focus, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.11.2018 (BF1, BF2 und BF4) und vom 13.03.2019 (BF3), Zlen. XXXX (zu 1.), XXXX (zu 2.), XXXX (zu 3.) und XXXX (zu 4.), nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.07.2020, zu Recht:

A)

Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe :

I. Verfahrenshergang

I.1. Die beschwerdeführenden Parteien (in weiterer Folge gemäß der Reihenfolge ihrer Nennung im Spruch kurz als BF1 – BF4 bezeichnet) sind Staatsangehörige von Armenien. Sie gehören der Volksgruppe der Armenier und der christlichen Religionsgemeinschaft an.

I.2. Der BF1 wurde am 14.12.2004 in Deutschland, am 30.08.2006 in Zypern und am 28.10.2013 in der Slowakei erkennungsdienstlich behandelt. Er hat 2001 in der Schweiz, 2004 in Deutschland, 2006 in Zypern und im Oktober 2013 in der Slowakei einen Asylantrag gestellt, die BF2 und der BF4 haben ebenfalls im Oktober 2013 in der Slowakei Asylanträge gestellt.

I.3. Der BF1 reiste gemeinsam mit seiner Ehefrau (BF2) und seinem minderjährigen Sohn (BF4) im November 2013 illegal nach Österreich ein.

I.3.1. Die BF1-BF2 stellten für sich und den BF4 in Österreich am 25.11.2013 Anträge auf internationalen Schutz. Anlässlich der Erstbefragung am 25.11.2013 gab der BF1 an, dass er Hepatitis C habe, aber keine Medikamente benötige. Zum Fluchtgrund befragt gab der BF1 an, sein Bruder und er seien in Zypern mit anderen Armeniern in Streit geraten; sein Bruder habe dabei zwei Armenier mit einem Messer verletzt. Der BF1 sei nach Rückkehr nach Armenien von diesen Leuten aufgesucht und bedroht worden und er habe deshalb sein Land verlassen. Die BF2 gab anlässlich der Erstbefragung an, dass sie in Armenien drei Mal wegen der Probleme ihres Mannes bedroht worden sei. Für den BF4 würden die gleichen Fluchtgründe gelten.

I.3.2. Im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme am 16.01.2014 gab der BF1 an, er leide an Hepatitis C und an einer Suchterkrankung; die BF2 gab an, sie habe Mastopathie; der BF4 sei gesund. Mit einer Rückkehr in die Slowakei seien sie nicht einverstanden, da ihre gesundheitlichen Probleme dort nicht behandelt werden würden.

I.3.3. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 23.01.2014 wurde die Anträge des BF1, der BF2 und des BF4 vom 25.11.2013 auf internationalen Schutz wegen Zuständigkeit der Slowakei - ohne in die Sache einzutreten - als unzulässig zurückgewiesen.

I.3.4. Diese Entscheidung erwuchs nach Bestätigung durch das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) am 19.03.2014 in Rechtskraft.

I.4. Eine Abschiebung der BF1-BF2 und des BF4 erfolgte nicht. Der BF1 stellte am 03.07.2014 und die BF2 am 18.07.2014 für sich und den BF4 in Österreich nochmals Anträge auf internationalen Schutz. Anlässlich der Erstbefragung am 03.07.2014 hielt der BF1 seine alten Asylgründe aufrecht und begründete seinen nunmehrigen Antrag auf internationalen Schutz zudem mit seiner Hepatitis C-Erkrankung. Die BF2 begründete in der Erstbefragung am 18.07.2014 ihre nochmalige Asylantragstellung mit ihren gesundheitlichen Problemen und denen des BF1 und damit sie wieder eine Krankenversicherung erlangen würden.

I.4.1. In der niederschriftlichen Einvernahme am 20.04.2016 gab die BF2 an, sie habe ihr Land zum einen wegen der Probleme ihres Mannes verlassen, zum anderen habe sie sich geweigert, an ihrem Arbeitsplatz ihren Pass für die Wahl herzugeben und sie sei deshalb in der Folge gemobbt und zur Selbstkündigung gezwungen worden.

I.5. Die BF3 gelangte im Mai 2016 als damals noch Minderjährige nach Österreich. Sie stellte am 27.05.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz und gab begründend dazu an, dass sie Armenien verlassen habe, weil sie bei ihren Eltern in Österreich sein wollte. Eigene Fluchtgründe habe sie nicht.

I.6. Am 10.07.2018 wurden die BF beim BFA niederschriftlich einvernommen. Der BF1 gab an, dass er nervliche Probleme habe und sich in einer Drogenersatztherapie befinde, sei aber in der Lage, die Einvernahme durchzuführen. Er habe Armenien im September 2013 legal verlassen und in Österreich am 25.11.2013 um Asyl angesucht, sein Antrag sei zurückgewiesen worden, seine Abschiebung wegen eines Krankenhausaufenthaltes nicht erfolgt. Zum Fluchtgrund befragt gab der BF1 an, sein Bruder habe in Zypern bei einem Streit einen Armenier verletzt und er sei in diesen Streit verwickelt worden. Sein Bruder sei deswegen in Zypern verurteilt und inhaftiert worden, der BF1 sei von der Familie des Verletzten bedroht und zum Schadenersatz aufgefordert worden. Er habe deshalb zwei Mal bei der Polizei Anzeige erstattet und die Polizei habe ihm zur Ausreise geraten. Zudem wolle er nicht, dass seine Kinder im Krieg (Konflikt mit Aserbaidschan) aufwachsen würden. Er habe sein Land mit seiner Frau (BF2) und seinem Sohn (BF4) verlassen, seine Tochter (BF3) sei bei der (Groß)-Mutter geblieben.

Die BF2 stellte für sich und den BF4 einen Antrag auf Familienverfahren, für sie sollten die Fluchtgründe des Mannes (BF1) gelten. Sie habe ihr Land wegen der Probleme ihres Mannes verlassen und ihr sei von den Gegnern des Ehemannes mit der Entführung ihrer Kinder gedroht worden. Sie selbst sei wegen ihrem Wahlverhalten von ihrem Arbeitgeber im Oktober 2013 entlassen worden. Auch wolle sie nicht, dass ihr Sohn einmal in einem allfälligen Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien kämpfen müsse und es sei die medizinische Behandlung ihres Ehemannes in Armenien nicht gewährleistet.

Auch die BF3 gab an, keine eigenen Fluchtgründe zu haben und es sollten für sie die Fluchtgründe des Vaters (BF1) gelten.

I.7. Bei einer nochmaligen niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA gab die BF2 am 10.10.2018 an, dass das von der rechtlichen Vertretung übermittelte Video eine Reportage über die Brutalität der Person XXXX beinhalte, welches im Internet abrufbar sei und mit dem Fall der BF nichts zu tun habe.

I.8. Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.11.2018 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurden die Anträge auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Armenien abgewiesen (Spruchpunkt II.). Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurden nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführer Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass deren Abschiebungen nach Armenien gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen (Spruchpunkt VI.).

I.8.1. Das BFA stellte darin fest, dass die BF keine gegen sie gerichtete Verfolgungshandlung glaubhaft vorgebracht hätten und dass sie im Fall ihrer Rückkehr keiner Gefahr einer Verfolgung aus Gründen iSd GFK ausgesetzt wären. Auch wenn sich der BF1 in medizinischer Betreuung befinde, so leide er an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung und seien in Armenien sämtliche Fachärzte zur stationären und ambulanten Behandlung verfügbar.

I.9. Mit Schriftsatz, eingebracht per e-mail am 27.12.2018, erhoben die BF fristgerecht vollinhaltlich Beschwerde gegen die angefochtenen Bescheide. Darin wird im Wesentlichen zusammengefasst auf die Asylrelevanz des Fluchtvorbringens der BF sowie deren Integration in Österreich verwiesen.

I.10. Die gegenständliche Beschwerde samt Verwaltungsakten des BFA langte am 03.01.2019 beim BVwG, Außenstelle Linz, ein.

I.11. Beim BVwG langten am 10.01.2019 die Vollmachtsbekanntgabe an den Verein LegalFocus und am 14.02.2019 die Vollmachtsauflösung durch den MirgrantInnenverein St. Marx sowie am 04.02.2019 ein Unterstützungsschreiben für die BF ein.

I.12.1. Für die zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung bereits volljährige BF3 bestand kein Vertretungsverhältnis. Eine Bescheidzustellung an die BF3 selbst erfolgte nicht.

I.12.2. Mit Beschluss des BVwG vom 08.03.2019, L529 2212073-1/7E, wurde die Beschwerde der BF3 mangels Vorliegens eines Bescheides als unzulässig zurückgewiesen.

I.12.3. Mit Bescheid des BFA vom 13.03.2019 wurde der Antrag der BF3 vom 27.05.2016 auf internationalen Schutz negativ entschieden.

I.13. Am 18.10.2019 langte beim BVwG die Meldung einer Straftat betreffend den BF1 ein.

I.14. Für den 01.07.2020 wurde eine mündliche Verhandlung beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) anberaumt. Mit der Ladung wurden den BF die aktuellen Länderfeststellungen zur Situation in Armenien übermittelt und ihnen die Möglichkeit einer Stellungnahme eingeräumt.

I.15. Am 01.07.2020 wurde von 09.00 – 16.10 Uhr eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt, bei der die BF Gelegenheit hatten, zum Fluchtvorbringen, zu ihrer Integration und ihrer Rückkehrsituation Stellung zu nehmen.

I.16. Am 06.07.2020 übermittelten die BF die Teilnahmebestätigung der BF3 am XXXX Programm, das Jahreszeugnis 2019/20 des BF4 und ein Foto des verletzten BF1. Hinsichtlich des BF4 wurde zudem ausgeführt, dass sich der nunmehr 16-jährige BF4 bei der Militärbehörde hätte melden müssen und, da er sich nie offiziell abgemeldet habe, bei Rückkehr Repressalien zu befürchten habe.

I.17. Hinsichtlich des detaillierten Verfahrensherganges wird auf den Akteninhalt verwiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Das BVwG hat durch den Inhalt der übermittelten Verwaltungsakte der belangten Behörde, einschließlich der Stellungnahmen, vorgelegten Unterlagen, Beschwerde, sowie der Gerichtsakte und Durchführung einer mündlichen Verhandlung Beweis erhoben.

1. Feststellungen (Sachverhalt)

II.1.1. Die Beschwerdeführer

Der BF1 und die BF2 sind verheiratet; sie sind die Eltern der mittlerweilen volljährigen BF3 und des noch minderjährigen BF4. Hinsichtlich der BF liegt ein Familienverfahren vor.

Die BF sind Staatsangehörige von Armenien, führen die im Spruch genannten Namen, gehören der Volksgruppe der Armenier und der christlichen Religionsgemeinschaft an. Ihre Identitäten stehen nicht fest.

Der BF1, die BF2 und der BF4 reisten illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 25.11.2013 ihre ersten Asylanträge in Österreich. Diese Anträge wurden mit Bescheiden des BFA vom 23.01.2014 gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz wegen Zuständigkeit der Slowakei - ohne in die Sache einzutreten - als unzulässig zurückgewiesen. Diese Entscheidungen erwuchsen nach Bestätigung durch das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) am 19.03.2014 in Rechtskraft.

Der BF1 stellte am 03.07.2014 und die BF2 am 18.07.2014 für sich und den BF4 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.

Die BF3 reiste im Mai 2016 als damals noch Minderjährige in Österreich ein und stellte am 27.05.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der BF1 stellte 2001 in der Schweiz, 2004 in Deutschland, 2006 in Zypern und 2013 in der Slowakei jeweils einen Asylantrag, die BF2 und der BF4 stellten im Oktober 2013 in der Slowakei Asylanträge.

Die BF stammen aus XXXX in Armenien und sprechen Armenisch auf muttersprachlichem Niveau.

Der BF1 hat in seinem Heimatland 8 Jahre die Schule besucht und eine Ausbildung als Automechaniker absolviert. Er hat den Unterhalt für sich und seine Familie als Automechaniker und LKW-Fahrer verdient.

Die BF2 hat in ihrem Heimatland 10 Jahre die Schule und 2 Jahre die Universität besucht und als Lehrerin gearbeitet.

Die BF3 hat in ihrem Heimatland 11 Jahre die Schule besucht und war zum Zeitpunkt ihrer Ausreise Schülerin.

Familienangehörige der BF sind nach wie vor im Heimatland der BF aufhältig und es besteht Kontakt zu ihnen.

Beim BF1 wurden eine andauernde Persönlichkeitsstörung (F62.0), Störungen durch Opioide Abhängigkeit (F11.22), Hyperlipidämie (E78.5), Diabetes mellitus (E13) und eine chronische obstruktive Lungenkrankheit (J44) diagnostiziert und er benötigt eine Dauertherapie. Er ist arbeitsfähig. Eine Medikation im Hinblick auf Diabetes mellitus besteht nicht.

Der BF1 besuchte zwei Deutschkurse (A1), er spricht Deutsch auf mäßigem Niveau.

Die BF2 befand sich im Jahr 2014 wegen Depression (F32.0) und akuter Stressbelastung (F43.0) in psychotherapeutischer Behandlung. Sie wurde wegen Mastopathie in Österreich operiert und ist nun gesund und arbeitsfähig.

Die BF2 verfügt über Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1. Die BF2 ist in der Rezeption des Ute Bock Bildungszentrums im Ausmaß von 8 Wochenstunden und als Reinigungskraft im Rahmen von Dienstleistungsschecks tätig.

Die BF3 ist gesund und arbeitsfähig. Sie besucht in Österreich eine höhere Lehranstalt für wirtschaftliche Berufe. Von Juni bis August 2020 absolvierte sie ein Pflichtpraktikum in einem Cafe- und Restaurantbetrieb und sie hat die ÖSD-Deutschprüfung auf dem Niveau A2 abgelegt.

Der BF4 ist gesund. Er besuchte zunächst in Österreich die Volks- und Neue Mittelschule und nunmehr eine Fachschule für wirtschaftliche Berufe.

Die BF, insbesondere die BF2 und BF3, verfügen über zahlreiche Unterstützungsschreiben und haben sich in Österreich einen Freundeskreis aufgebaut. Sie sind keine Mitglieder in einem Verein oder einer sonstigen Organisation.

Die BF beziehen Leistungen aus der Grundversorgung.

Die BF sind in Österreich strafrechtlich unbescholten. Der BF1 wurde am 18.10.2019 bei einem Ladendiebstahl aufgegriffen.

II.1.2. Die Lage im Herkunftsstaat Armenien

II.1.2.1. Die länderkundlichen Feststellungen der belangten Behörde zur allgemeinen Lage in Armenien werden in der aktualisierten Form auch der hg. Entscheidung des BVwG zugrunde gelegt. Den BF wurden zudem das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung am 08.05.2019 mit Kurzinformation zuletzt am 17.03.2020) übermittelt. Es wird konkret auf die insoweit relevanten Abschnitte sowie auf die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Behandelbarkeit von Persönlichkeitsstörungen sowie auf die aktuellen Ausführungen zur Covid-19 Pandemie in Armenien hingewiesen:

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt immer wieder glaubhafte Berichte von Anwälten über die Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze durch Gerichte. Die Unschuldsvermutung werde nicht eingehalten, rechtliches Gehör nicht gewährt, Verweigerungsrechte von Zeugen nicht beachtet und Verteidiger oft ohne Rechtsgrundlage abgelehnt. Nach bisher vorliegenden Informationen hat sich die Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis seit Mitte 2018 verbessert. Die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter wurde bisher durch Nepotismus, finanzielle Abhängigkeiten und weit verbreitete Korruption konterkariert. Es gibt Anzeichen, dass allein der Regierungswechsel im Mai 2019 zu weniger Korruption in der Justiz geführt hat. Hinsichtlich des Zugangs zur Justiz gab es bereits Fortschritte, dass die Zahl der Pflichtverteidiger erhöht wurde und einer breiteren Bevölkerung als bisher kostenlose Rechtshilfe zuteil wird (AA 7.4.2019). Zwar muss von Gesetzes wegen Angeklagten ein Rechtsbeistand gewährt werden, doch führt der Mangel an Pflichtverteidigern außerhalb Jerewans dazu, dass dieses Recht den Betroffenen verwehrt wird (USDOS 11.3.2020).

Richter stehen unter systemischem politischem Druck und Justizbehörden werden durch Korruption untergraben. Berichten zufolge fühlen sich die Richter unter Druck gesetzt, mit Staatsanwälten zusammenzuarbeiten, um Angeklagte zu verurteilen. Der Anteil an Freisprüchen ist extrem niedrig (FH 4.2.2019). Allerdings entließen viele Richter nach der "Samtenen Revolution" im Frühjahr 2018 etliche Verdächtige in politisch sensiblen Fällen aus der Untersuchungshaft, was die Ansicht von Menschenrechtsgruppen bestätigte, dass vor den Ereignissen im April/Mai 2018 gerichtliche Entscheidungen politisch konnotiert waren, diese Verdächtigen in Haft zu halten, statt gegen Kaution freizulassen (USDOS 11.3.2020).

Trotz gegenteiliger Gesetzesbestimmungen zeigt die Gerichtsbarkeit keine umfassende Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Die Verwaltungsgerichte sind hingegen verglichen zu den anderen Gerichten unabhängiger. Sie leiden allerdings unter Personalmangel. Nach dem Regierungswechsel im Mai 2018 setzte sich das Misstrauen in die Unparteilichkeit der Richter fort und einige Menschenrechtsanwälte erklärten, es gebe keine rechtlichen Garantien für die Unabhängigkeit der Justiz. NGOs berichten, dass Richter die Behauptungen der Angeklagten, ihre Aussage sei durch körperliche Übergriffe erzwungen worden, routinemäßig ignorieren. Die Korruption unter Richtern ist weiterhin ein Problem. Die am 10. Oktober 2019 verabschiedete Strategie für die Justiz- und Rechtsreform 2019-2023 zielt darauf ab, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz und das Justizsystem zu stärken und die Unabhängigkeit der Justiz zu fördern (USDOS 11.3.2020).

Die Verfassung und die Gesetze sehen das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess vor, aber die Justiz setzt dieses Recht nicht durch. Ebenso sieht das Gesetz die Unschuldsvermutung vor, Verdächtigen wird dieses Recht jedoch in der Regel nicht zugesprochen. Das Gesetz verlangt, dass die meisten Prozesse öffentlich sind, erlaubt aber Ausnahmen, auch im Interesse der "Moral", der nationalen Sicherheit und des "Schutzes des Privatlebens der Teilnehmer". Gemäß dem Gesetz können Angeklagte Zeugen konfrontieren, Beweise präsentieren und den Behördenakt vor einem Prozess einsehen. Allerdings haben Angeklagte und ihre Anwälte kaum Möglichkeiten, die Aussagen von Behördenzeugen oder der Polizei anzufechten. Die Gerichte neigen währenddessen dazu, routinemäßig Beweismaterial zur Strafverfolgung anzunehmen. Zusätzlich verbietet das Gesetz Polizeibeamten, in ihrer offiziellen Funktion auszusagen, es sei denn, sie waren Zeugen oder Opfer (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

•        AA - Auswärtiges Amt (7.4.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2007493/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Armenien_%28Stand_Febru.pdf, Zugriff 18.3.2020

•        FH - Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 - Armenia, https://www.ecoi.net/en/document/2002606.html, Zugriff 11.4.2019

•        USDOS – U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ARMENIA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 13.3.2020

Sicherheitsbehörden

Die Polizei ist für die innere Sicherheit zuständig, während der Nationale Sicherheitsdienst (NSD oder eng. NSS) für die nationale Sicherheit, die Geheimdienstaktivitäten und die Grenzkontrolle zuständig ist (USDOS 11.3.2020, vgl. AA 7.4.2019). Beide Behörden sind direkt der Regierung unterstellt. Ein eigenes Innenministerium gibt es nicht. Die Beamten des NSD dürfen auch Verhaftungen durchführen. Hin und wieder treten Kompetenzstreitigkeiten auf, z.B. wenn ein vom NSD verhafteter Verdächtiger ebenfalls von der Polizei gesucht wird (AA 7.4.2019).

Der Sonderermittlungsdienst führt Voruntersuchungen in Strafsachen durch, die sich auf Delikte von Beamten der Gesetzgebungs-, Exekutiv- und Justizorgane beziehen und von Personen, die einen staatlichen Sonderdienst ausüben. Auf Verlangen kann der Generalstaatsanwalt solche Fälle an die Ermittler des Sonderermittlungsdienstes weiterleiten (SIS o.D., vgl. USDOS 11.3.2020, HRW 14.1.2020). Der NSD und die Polizeichefs berichten direkt an den Premierminister. NSD, SIS, die Polizei und das Untersuchungskomitee unterliegen demzufolge der Kontrolle der zivilen Behörden (USDOS 11.3.2020).

Obwohl das Gesetz von den Gesetzesvollzugsorganen die Erlangung eines Haftbefehls verlangt oder zumindest das Vorliegen eines begründeten Verdachts für die Festnahme, nahmen die Behörden gelegentlich Verdächtige fest oder sperrten diese ein, ohne dass ein Haftbefehl oder ein begründeter Verdacht vorlag. Nach 72 Stunden muss laut Gesetz die Freilassung oder ein richterlicher Haftbefehl erwirkt werden. Angeklagte haben ab dem Zeitpunkt der Verhaftung Anspruch auf Vertretung durch einen Anwalt bzw. Pflichtverteidiger. Die Polizei vermeidet es oft, betroffene Personen über ihre Rechte aufzuklären. Statt Personen formell zu verhaften, werden diese vorgeladen und unter dem Vorwand festgehalten, eher wichtige Zeugen denn Verdächtige zu sein. Hierdurch ist die Polizei in der Lage, Personen zu befragen, ohne das das Recht auf einen Anwalt eingeräumt wird (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

•        AA - Auswärtiges Amt (7.4.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2007493/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Armenien_%28Stand_Febru.pdf, Zugriff 18.3.2020

•        HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 – Armenia, https://www.hrw.org/world-report/2020/country-chapters/armenia, Zugriff 16.1.2020

•        SIS - Special Investigation Service of Republic of Armenia (o.D.): Functions Of Special Investigation Service, http://www.ccc.am/en/1428578692, Zugriff 10.4.2019

•        USDOS – U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ARMENIA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 13.3.2020

Wehrdienst und Rekrutierungen

Männer armenischer Staatsangehörigkeit unterliegen vom 18. bis zum 27. Lebensjahr der allgemeinen Wehrpflicht (24 Monate). Auf Antrag besteht die Möglichkeit der Befreiung oder Zurückstellung vom Wehrdienst sowie der Ableistung eines militärischen oder zivilen Ersatzdienstes. Bei der Zurückstellung vom Militärdienst aus sozialen Gründen (z.B. pflegebedürftige Eltern, zwei oder mehr Kinder) muss bei Wegfall der Gründe der Betreffende bis zum 27. Lebensjahr noch einrücken. Wenn die Gründe nach dem 27. Lebensjahr noch bestehen, ist eine Einrückung in Friedenszeiten nicht mehr vorgesehen. Derjenige muss sich allerdings als Reservist zur Verfügung stellen (AA 7.4.2019). Der Aufschub des Militärdienstes aus gesundheitlichen Gründen kann nach absolvieren der entsprechenden medizinischen Untersuchungen in Armenien gewährt werden (RA EVN 6.2.2020).

Armenische Rekruten werden auch an der Waffenstillstandslinie um Bergkarabach eingesetzt. Männliche Armenier ab 16 Jahren sind zur Wehrregistrierung verpflichtet. Sofern sie sich im Ausland aufhalten und sich nicht vor dem Erreichen des 16. Lebensjahres aus Armenien abgemeldet haben, müssen sie zur Musterung nach Armenien zurückkehren; andernfalls darf ihnen kein Reisepass ausgestellt werden. Nach der Musterung kann die Rückkehr ins Ausland erfolgen. Mit der Ende 2017 erfolgten Novellierung des Wehrpflichtgesetzes bietet das armenische Verteidigungsministerium im Rahmen des Konzepts „Armee-Nation“ zwei neue Optionen für den Wehrdienst. Das Programm „Jawohl“ ermöglicht den Rekruten einen flexiblen Wehrdienst von insgesamt drei Jahren mit mehrmonatigen Unterbrechungen. Man wird u.a. auch an der Frontlinie eingesetzt. Im Anschluss erhalten die Rekruten ca. 9.000 Euro für eine Existenzgründung sowie einen Wohnungskredit. Diese Regelung ist seit Dezember 2017 in Kraft. Das Programm „Es ist mir eine Ehre“ erlaubt Hochschulstudenten das Studium abzuschließen und erst dann als Offizier ihren Wehrdienst abzuleisten. Im Laufe des Studiums werden für diese Studenten Pflichtveranstaltungen im Militärinstitut organisiert. Diese Regelung tritt ab Mai 2018 in Kraft (AA 7.4.2019).

Das Auswärtige Amt gibt mit Bezug auf Informationen des Verteidigungsministeriums an, dass es für Personen mit legalem Daueraufenthalt im Ausland auf Antrag Befreiungsmöglichkeiten auch im wehrpflichtigen Alter geben soll: Eine interministerielle Härtefall-Kommission prüft die Anträge auf Befreiung vom Wehrdienst (AA 7.4.2019). Laut Auskunft eines lokalen Anwaltes verleiht ein Aufenthaltsstatus im Ausland der betroffenen Person keine Privilegien (RA EVN 6.2.2020).

Es besteht ein komplexes System von gesetzlichen Garantien und Schutzmechanismen sowie interne wie externe Mechanismen, damit die Rechte des Personals, inklusive der Rekruten, in den Streitkräften geschützt werden. Auch bestehen externe und alternative Mechanismen zum Schutz der Rechte des Militärpersonals, so etwa der Rechtsschutz oder Beschwerden, die sowohl an den armenischen Ombudsmann als auch den „Public Council“ des Verteidigungsministeriums gerichtet werden können, welcher aus Vertretern von lokalen NGOs besteht, und sich mit Beschwerden zu Menschenrechtsverletzungen, speziell während der Einberufung, auseinandersetzt (OSCE 13.4.2018).

Quellen:

•        AA - Auswärtiges Amt (7.4.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2007493/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Armenien_%28Stand_Febru.pdf, Zugriff 18.3.2020

•        OSCE – Organization for Security and Co-operation in Europe (15.4.2019): Response by the Delegation of Armenia to the Questionnaire on the Code of Conduct on Politico-Military Aspects of Security, https://www.osce.org/forum-for-security-cooperation/418040?download=true, Zugriff 7.5.2019

•        RA EVN – lokaler Rechtsanwalt in Armenien (6.2.2020): Auskunft per E-Mail.

Wehrersatzdienst

Es gibt einen Ersatzdienst für Wehrdienstverweigerer. Im Gesetz über den alternativen Wehrdienst vom 17.12.2003 ist sowohl ein 30-monatiger Ersatzdienst innerhalb der Streitkräfte (ohne Waffen, d.h. in der Regel hauswirtschaftliche Tätigkeiten) als auch ein 36-monatiger Ersatzdienst außerhalb der Streitkräfte vorgesehen. Die Anzahl der Wehrdienstverweigerer ist gering. Das novellierte Zivildienstgesetz vom 8.6.2013 eröffnet die Möglichkeit des Zivildienstes auch aus religiöser Überzeugung. Der Zivildienst untersteht dabei nicht mehr der Dienstaufsicht des Militärs, sondern wird von einem Gremium bestehend aus je zwei Vertretern des Sozial-, Gesundheits- und Verteidigungsministeriums gestaltet und beaufsichtigt (AA 17.4.2018).

Der Europäische Ausschuss für Soziale Rechte des Europarates (ESCR) befand Ende 2016, dass auch nach der Reduktion der Zivildienstdauer von 42 auf 36 Monate bzw. auf 30 Monate innerhalb der Armee, die Dauer im Vergleich zum Wehrdienst von 24 Monaten zu lang ist, und somit weiterhin nicht mit der Europäischen Sozialcharta konform geht (CoE-ECSR 1.2017).

Quellen:

•        AA - Auswärtiges Amt (17.4.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien

•        CoE-ECSR - Council of Europe - European Committee of Social Rights (1.2017): European Committee of Social Rights Conclusions 2016; Armenia, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1486111217_cr-2016-arm-eng.pdf, Zugriff 29.3.2019

Wehrdienstverweigerung / Desertion

Wehrpflichtige, die sich der Wehrpflicht entzogen haben, müssen trotz vorhandener Strafvorschriften grundsätzlich nicht mit einer Bestrafung rechnen, wenn sie sich nach der Rückkehr bei der zuständigen Behörde melden. Auch bereits eingeleitete Ermittlungsverfahren wegen Wehrdienstentzugs werden in solchen Fällen eingestellt. Männer über 27 Jahre, die sich der Wehrpflicht entzogen haben, können gegen Zahlung einer Geldbuße die Einstellung der strafrechtlichen Verfolgung erreichen. Durch die letzte Modifizierung des Wehrpflichtgesetzes wurde die Ausnahmeregelung über die Einstellung des Strafverfahrens gegen Strafzahlung bei Personen, die sich im Zeitraum zwischen 1992 und 1. Dezember 2017 der Wehrpflicht entzogen haben, bis zum 31. Dezember 2019 verlängert (AA 7.4.2019).

Am 12.10.2017 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EMRK), dass Mitglieder der Zeugen Jehovas zu Unrecht verurteilt wurden, weil sie sich geweigert hatten, unter militärischer Aufsicht Zivildienst zu leisten, feststellend, dass die Regierung Wehrdienstverweigerern aus Gewissensgründen „einen alternativen Militärdienst wirklich ziviler Art" anbieten muss. Die Regierung führte noch im selben Jahr einen alternativen Zivildienst ein, der nicht vom Militär kontrolliert wird. Laut Vertretern der Zeugen Jehovas sei das Staatskomitee, zuständig für Koordination und Prüfung der Anträge auf Ersatzdienst, weiterhin kooperativ, und das Programm funktioniere gut (USDOS 20.4.2018).

Quellen:

•        AA - Auswärtiges Amt (7.4.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2007493/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Armenien_%28Stand_Febru.pdf, Zugriff 18.3.2020

•        USDOS – US Department of State (29.5.2018): 2017 Report on International Religious Freedom - Armenia, 29 May 2018, https://www.ecoi.net/en/document/1436783.html, 29.3.2019

Frauen

Verfassung und Gesetze schreiben die Gleichberechtigung von Männern und Frauen fest und verbieten die Diskriminierung auf der Basis des Geschlechts. Die Rolle der Frau in Armenien ist gleichwohl durch das in der Bevölkerung verankerte patriarchalische Rollenverständnis geprägt (AA 7.4.2019, vgl. USDOS 11.3.2020).

Frauen sind in Führungspositionen im öffentlichen Sektor deutlich unterrepräsentiert. Im Jahr 2018 lag die durchschnittliche Arbeitslosenquote der Frauen in Armenien bei 17,3%. Auch in der Exekutive bleibt die Beteiligung von Frauen auf den höchsten Entscheidungsebenen, auf regionaler und lokaler Ebene sowie im diplomatischen Dienst gering. Ungleichheit im Bereich der Löhne ist besonders offensichtlich (CoE-CommDH 29.1.2019, vgl. USDOS 11.3.2020, FH 4.2.2019).

Vergewaltigung ist eine Straftat. Die Höchststrafe beträgt 15 Jahre. Allgemeine gesetzliche Bestimmungen zur Vergewaltigung gelten für die Verfolgung von Vergewaltigungen in der Ehe. Häusliche Gewalt wird nach allgemeinen Gesetzen über Gewaltanwendung verfolgt, obwohl die Behörden die meisten Vorwürfe häuslicher Gewalt nicht wirksam untersuchen oder verfolgen (USDOS 11.3.2020). Es gibt Berichte, dass die Polizei, insbesondere außerhalb von Jerewan, in Fällen häuslicher Gewalt nur ungern tätig wird und Frauen davon abhält, Beschwerden einzureichen. Die meisten Fälle häuslicher Gewalt werden per Gesetz als Vergehen von geringer oder mittlerer Schwere betrachtet und die Regierung stellt nicht genügend weibliche Polizeibeamte und Ermittlerinnen für die Arbeit vor Ort ein, um diese Verbrechen zu untersuchen (USDOS 11.3.2020). Trotzdem hat Armenien seit 2015 bedeutende Fortschritte bei der Schaffung und Verbesserung des Rechtsrahmens zur Bekämpfung häuslicher Gewalt gemacht. Wichtige gesetzgeberische Maßnahmen wurden von Sensibilisierungskampagnen begleitet, die zu einer öffentlichen Debatte und einem spürbaren Einstellungswandel zum Thema häusliche Gewalt führen. Trotz dieser begrüßenswerten Entwicklungen und sehr lobenswerten Bemühungen bleibt die häusliche Gewalt in Armenien ein schwerwiegendes, weit verbreitetes und teilweise noch unterschätztes Phänomen (CoE-CommDH 29.1.2019). Das neue Gesetz über häusliche Gewalt hat einige Elemente und Normen des Istanbuler Übereinkommens übernommen, verschiedene Formen häuslicher Gewalt definiert und den staatlichen Behörden eine positive Verpflichtung auferlegt, solche Gewalt zu verhindern und ihre Opfer zu schützen. Es verpflichtet die Behörden auch, eine nationale Strategie zur Bekämpfung häuslicher Gewalt zu entwickeln und umzusetzen, Unterkünfte für Opfer von Gewalt einzurichten, ihnen kostenlose medizinische Versorgung zu bieten und regelmäßige Schulungen für alle in diesem Bereich tätigen Fachleute durchzuführen (CoE-CommDH 29.1.2019).

Das Gesetz verlangt, dass bestimmte Dienstleistungen für diejenigen erbracht werden, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind, es sieht aber keine Maßnahmen für monetäre Entschädigungen der Opfer vor. Die im Gesetz vorgesehenen Maßnahmen - Verwarnungen und Schutzanordnungen - reichen möglicherweise nicht aus, um die Menschenrechtsverpflichtungen des Landes zum Schutz der Betroffenen von häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt zu erfüllen, dies infolge des Umfanges des Ermessensspielraum für die Strafverfolgungsbehörden und Richter, der vorgesehenen limitierten Fristen (z.B. Wegweisung) sowie der schwachen Konsequenzen, die Täter häuslicher Gewalt zu erwarten haben. Das Gesetz enthält zudem keine Details hinsichtlich der Beweislast, die für die Erlangung von Verwarnungen oder Schutzanordnungen oder für die strafrechtliche Verfolgung von Tätern häuslicher Gewalt erforderlich ist. Es ist letztendlich nicht klar, ob das Gesetz für alle Paare gilt, oder nicht registrierte Ehen bzw. Lebensgemeinschaften ausnimmt (OHCHR 29.3.2019).

Für den Schutz von Opfern häuslicher Gewalt beinhaltet das Gesetz die Anwendung von Schutzmaßnahmen, einschließlich Warnung, Notfallintervention und Schutzanordnung. Die Anwendung dieser Maßnahmen kann dazu führen, dass folgende Einschränkungen gelten: die sofortige und gewaltsame Entfernung des Gewalttäters aus dem Wohnort des Opfers und das Verbot seiner Rückkehr bis zum Ablauf der durch die Anordnung vorgesehenen Frist; Verbot für den Täter, das Opfer und gegebenenfalls die in Obhut des Opfers befindlichen Personen sowie Orte, an denen sie arbeiten, studieren oder leben oder andere Orte, zu besuchen; Verbot für den Täter, sich dem Opfer in einer Entfernung zu nähern, die beim Opfer eine nachvollziehbare Angst um die persönliche Sicherheit hervorruft. Trotz der im Gesetz vorgesehenen Maßnahmen wurden nach den Daten aus dem Gerichtsinformationssystem nur vier Fälle mit Anträgen auf Schutzanordnung zur Prüfung angenommen. Im Rahmen dieses Gesetzes wurden 413 Verwarnungen durch die Polizei ausgesprochen, in 128 Fällen wurde eine Entscheidung über ein sofortiges Eingreifen getroffen und Registrierungskarten für 541 Täter ausgefüllt (HCA 1.2019).

Der Untersuchungsausschuss der Republik Armenien hat 519 Straftaten von häuslicher Gewalt im Jahr 2018 bearbeitet, im Vergleich zu 458 Straftaten im Jahr 2017. Die meisten Strafsachen beziehen sich auf Gewaltanwendung durch den Ehemann. Im Jahr 2018 wurden in Armenien rund 990 Fälle von häuslicher Gewalt registriert, in 413 Fällen wurde eine Verwarnung ausgesprochen, während 128 Fälle eine sofortige Einmischung der Strafverfolgungsbehörden erforderten (CSVaW 2019). Laut diversen Studien sind 30% der armenischen Frauen Opfer körperlicher Gewalt in der Famlie, während Zwei-Drittel Opfer psychischer Gewalt sind (HCA 1.2019).

Im World Gender Gap Index 2018 nahm Armenien Rang 98 von 149 Ländern ein (2017: 97 von 144; 2016: 102 von 144). Insbesondere in den Subkategorien Gesundheit (Rang 148) und politische Teilhabe (Rang 115) schnitt das Land besonders schlecht ab, wohingegen in der Unterkategorie „Teilhabe an der Bildung“ mit dem 35. Rang, der entsprechende Wert überdurchschnittlich gut war (WEF 2019).

Quellen:

•        AA - Auswärtiges Amt (7.4.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2007493/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Armenien_%28Stand_Febru.pdf, Zugriff 18.3.2020

•        CSVaW - Coalition to Stop Violence against Women (2019): Annual Newsletter, January - December 2018, http://coalitionagainstviolence.org/wp-content/uploads/2019/03/annual-newsletter_en.pdf?x24321, Zugriff 26.3.2019

•        CoE-CommDH – Council of Europe - Commissioner for Human Rights (29.1.2019): Report on the Commissioner for Human Rights of the Council of Europe Dunja Mijatovi? following her visit to Armenia from 16 to 20 September 2018 [CommDH(2019)1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2002632/CommDH%282019%291+-+Report+on+Armenia_EN.docx.pdf, Zugriff 26.3.2019

•        FH - Freedom House (4.2.2019): Freedom in the World 2019 - Armenia, https://www.ecoi.net/en/document/2002606.html, Zugriff 26.3.2019

•        HCA – Helsinki Committee of Armenia (1.2019): Human Rights in Armenia 2018 Report, Ditord Observer #1 (73), http://armhels.com/wp-content/uploads/2019/03/Ditord-2019Engl_Ditord-2019arm-1.pdf, Zugriff 26.3.2019

•        HRD - Human Rights Defender Of The Republic Of Armenia (2018): Annual Communique on the Activities of the Human Rights Defender of the Republic of Armenia, and the State of Protection of Human Rights and Freedoms during the Year 2017, http://www.ombuds.am/resources/ombudsman/uploads/files/publications/b738f4eb767ab62bedef29f766fa9ea0.pdf, Zugriff 26.3.2019

•        OHCHR – UN Office of the High Commissioner for Human Rights (29.3.2018): Mandates of the Special Rapporteur in the field of cultural rights; the Special Rapporteur on violence against women, its causes and consequences; and the Working Group on the issue of discriminationagainst women in law and in practice [OL ARM 1/2018] https://spcommreports.ohchr.org/TMResultsBase/DownLoadPublicCommunicationFile?gId=23666, Zugriff 26.3.2019

•        USDOS – U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ARMENIA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 13.3.2020

•        WEF – World Economic Forum (2019): Gender Gap Index 2018 – Armenia, http://reports.weforum.org/global-gender-gap-report-2018/data-explorer/#economy=ARM, Zugriff 13.3.2019

Grundversorgung und Wirtschaft

Über ein Viertel der armenischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, d.h. es stehen weniger als 75 Euro pro Monat zur Verfügung. Die registrierte Arbeitslosenquote liegt bei 20%. Mehr als ein Drittel der Jugendlichen ist weder in Ausbildung noch in der Beschäftigung. Die Schattenwirtschaft macht über 30% des Bruttoinlandsprodukts aus. Die Wirtschaft wird nach wie vor von den sogenannten "Oligarchen" dominiert, Geschäftsleuten, die in bestimmten Wirtschaftszweigen Monopole gegründet und in der Vergangenheit erheblichen Einfluss auf die Politik ausgeübt haben (FriEnt 23.4.2019).

Das Durchschnittseinkommen betrug im ersten Quartal 2019 rund AMD 174.000 [ca. EUR 323] (ArmStat 2019), während die monatliche Durchschnittspension 2017 AMD 40.634 [ca. EUR 74] ausmachte. Das Mindesteinkommen beträgt AMD 55.000 [EUR 100], die Mindestpension AMD 16.000 [EUR 29] (ArmStat 2018).

Der UNDP Human Development Index, ein Messwert zur Beurteilung der Humanentwicklung und der Ungleichheit, ergab 2017 für Armenien einen Wert von 0.757 [Statistischer Bestwert ist 1] (im Vergleich der HDI von Österreich beträgt 0.908). Damit belegte Armenien, dessen Wert sich seit 1990 kontinuierlich verbesserte, Platz 83 von 189 Staaten (UNDP 15.7.2018).

Für 2018 wird in Armenien ein Wirtschaftswachstum von 5% erwartet. Im Vergleich zu den Vorjahren ist es ein etwas moderaterer Wert. 2017 stieg das armenische BIP um 7,5%, was mit der Überwindung der Wirtschaftskrise Russlands, des wichtigsten Partners Armeniens, zusammenhängt. Rohstoffgewinnung und deren Verarbeitung dominieren die armenische Industrie. Auch der Landwirtschaftssektor spielt eine wichtige Rolle, vor allem in Exporten des Landes. Der 8.5.2018 schlug ein neues Kapitel in der jüngeren Geschichte Armeniens auf. Der neue armenische Premierminister Pashinyan erklärte den Kampf gegen die alle Bereiche umfassende Korruption. Seine weiteren Ziele sind die Verbesserung der Lebensbedingungen der in großen Teilen verarmten Bevölkerung und der Wirtschaftsaufschwung (WKO 23.7.2018).

Quellen:

•        ArmStat - Statistical Committee of the Repbulic of Armenia (2019): Average monthly nominal wages, drams / 2019, https://www.armstat.am/en/?nid=12&id=08001, Zugriff 7.5.2019

•        ArmStat - Statistical Committee of the Repbulic of Armenia (2018): Armenia in Figures - Living Standards And Social Sphere, https://www.armstat.am/file/article/armenia_2018_5.pdf, Zugriff 25.3.2019

•        FriEnt - Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung (23.4.2019): Armenien ein Jahr nach der „Samtenen Revolution“, https://www.frient.de/news/details/news/armenien-ein-jahr-nach-der-samtenen-revolution/, Zugriff 8.5.2019

•        UNDP - United Nations Development Programme (15.7.2018): Human Development Indices and Indicators: 2018 Statistical Update, Briefing note for countries on the 2018 Statistical Update, Armenia, http://hdr.undp.org/sites/all/themes/hdr_theme/country-notes/ARM.pdf, Zugriff 25.3.2019

•        WKO – Wirtschftskammer Österreich (23.7.2018): Die armenische Wirtschaft, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-armenische-wirtschaft.html, Zugriff 25.3.2018

Sozialbeihilfen

Sozialwesen

Das Sozialsystem in Armenien ist wie folgt aufgebaut:

•        Staatliches Sozialhilfeprogramm, z.B. Unterstützung von Familien, einmalige Geburtenzuschüsse, sowie Kindergeld bis zum Alter von zwei Jahren

•        Sozialhilfeprogramme für Personen mit Behinderung, Veteranen, Kinder, insbesondere medizinische und soziale Rehabilitationshilfe, Altersheime, Waisenhäuser, Internate

•        staatliches Sozialversicherungsprogramm, welches aus Alters- und Behindertenrente, sowie Zuschüssen bei vorübergehender Behinderung und Schwangerschaft.

•        Privilegien für Personen, die im Jahr 1999 signifikante Notlagen durchlebten, vor allem für Veteranen des Zweiten Weltkriegs.

Alle armenischen Staatsbürger sind berechtigt, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen.

Anmeldeverfahren: RückkehrerInnen können in einem der 51 Büros des staatlichen Sozialversicherungsservice (10 in Jerewan und 41 in der anderen Regionen) Sozialhilfe beantragen oder online ein Formular einreichen: http://www.ssss.am/arm/e-reception/send-application/

Pensionssystem

Das Renteneintrittsalter in Armenien liegt bei 63 Jahren. Eine Sozialrente wird ab 65 Jahre gewährt. Bei beschwerlicher oder gefährlicher Arbeit kann das Eintrittsalter niedriger liegen. Das staatliche Rentenversicherungssystem, basierend auf einer gesetzlichen Sozialversicherung, ist in folgende Elemente gegliedert:

?Altersrente

?Verlängerte Dienstrente

?Behindertenrente

?Rente für Familien, die den Einkommensträger verloren haben

Um eine armenische Rente in Anspruch nehmen zu können muss der/die Rückkehrende in Armenien registriert sein. Anmeldungen für die staatliche Rente können ebenfalls auf der Website des staatlichen Sozialversicherungsservice des Ministeriums für Arbeit und Soziales eingereicht werden (IOM 2018).

Der Pensionsanspruch gilt ab einem Alter von 63 mit mindestens 25 Jahren abgeschlossener Beschäftigung; ab einem Alter von 59 mit mindestens 25 Jahren Beschäftigung, wobei mindestens 20 Jahre erschwerte oder gefährlicher Arbeit vor dem 1. Januar 2014 oder mindestens 10 Jahre derartiger Arbeit nach dem 1. Januar 2014 verrichtet wurde; oder ab einem Alter von 55 mit mindestens 25 Jahren Beschäftigung, einschließlich mindestens 15 Jahre in Schwerst- oder gefährlicher Arbeit vor dem 1. Januar 2014 bzw. mindestens 7,5 Jahre in einer solchen nach dem 1. Januar 2014. Eine verringerte Pension steht nach mindestens zehnjähriger Anstellung, jedoch erst ab 65 zu. Bei Invalidität im Rahmen der Sozialversicherung sind zwischen zwei und zehn Jahre Anstellung Grundvoraussetzung, abhängig vom Alter des Versicherten beim Auftreten der Invalidität. Die Invaliditätspension hängt vom Grade der Invalidität ab. Unterhalb der erforderlichen Zeiten für eine Invaliditätspension besteht die Möglichkeit einer Sozialrente für Invalide in Form einer Sozialhilfe. Zur Pensionsberechnung werden die Studienjahre, die Wehrdienstzeit, die Zeit der Kinderbetreuung und die Arbeitslosenzeiten herangezogen. Die Alterspension im Rahmen der Sozialversicherung beträgt 100% der Basispension von AMD 16.000 monatlich zuzüglich eines variablen Bonus. Die Bonuspension macht AMD 500 monatlich für jedes Kalenderjahr ab dem elften Beschäftigungsjahr multipliziert mit einem personenspezifischen Koeffizienten, basierend auf der Länge der Dienstzeit (SSA 2016).

Schutzbedürftige Personen

Das Ministerium für Arbeit und Soziales (MLSA) implementiert Programme zur Unterstützung von schutzbedürftigen Personen: Behinderte, ältere Personen, RentnerInnen, Waisen, Opfer von Menschenhandel, Frauen und Kinder. Der Zugang zu diesen Leistungen erfolgt über die 51 Büros des staatlichen Sozialversicherungsservice (IOM 2018).

Arbeitslosenunterstützung

2015 wurde die Arbeitslosenunterstützung zugunsten einer Einstellungsförderung eingestellt. Zu dieser Förderung gehört auch die monetäre Unterstützung für Personen die am regulären Arbeitsmarkt nicht wettbewerbsfähig sind. Das Arbeitsgesetz von 2004 sieht ein Abfertigungssystem seitens der Arbeitgeber vor. Bei Betriebsauflösung oder Stellenabbau beträgt die Abfertigung ein durchschnittliches Monatssalär, bei anderen Gründen hängt die Entschädigung von der Dienstzeit ab, jedoch maximal 44 Tage im Falle von 15 Anstellungsjahren (SSA 2016).

Mutterschaftsgeld

Obwohl der Geburtsvorgang eines Babys technisch gesehen nach dem Gesetz kostenlos ist, fallen jedoch im Laufe von neun Monaten und vor allem in den Tagen nach der Geburt viele weitere Kosten an. Dies betrifft im Allgemeinen auch die Krankenhausgebühren. In den ersten sieben Lebensjahren eines Kindes sind alle Arztbesuche und Impfungen kostenlos. Dazu gehören auch Allergietests und ähnliche Untersuchungen, die für das Kind notwendig sind. Medikamentenkosten sind das Einzige, wofür die Eltern [fallweise] aufkommen müssen. Bestimmte Medikamente, wie Vitamin D bei Wintergeburten, werden von den Kliniken ebenfalls kostenlos zur Verfügung gestellt. In einigen Krankenhäusern werden sogar kostenlos Windeln oder Cremes ausgeben, sobald das Baby geboren ist. Die Geburt ist in Armenien offiziell kostenlos, die meisten Krankenhäuser verlangen jedoch inoffiziell Geldleistungen für die Anwesenheit des Arztes (Repat Armenia 26.6.2018).

Derzeit bestehen in Armenien drei Arten von Beihilfen in Verbindung mit Kindesgeburten. Einerseits die einmalige Mutterschaftsbeihilfe von AMD 50.000. Darüber hinaus gibt es eine monatliche Zahlung von ca. AMD 18.000 im Monat an alle erwerbstätigen Elternteile, die ein Kind (bis zum 2. Lebensjahr) versorgen und sich in einem teilweise bezahlten Mutterschaftsurlaub befinden. Für das dritte und vierte Kind stehen je AMD 1 Million zu und zusätzlich AMD 500.000, eingezahlt auf ein Spezialkonto für das Kind, von dem vor dem 18. Lebensjahr nur für bestimmte Zwecke, wie etwa für Schulgebühren Geld abgehoben werden darf. Ab dem fünften Kind wird der einmalige Geldbetrag bis auf AMD 1,5 Millionen erhöht plus einer halben Million auf dem Spezialkonto. Außerdem haben Mütter, auch selbständig erwerbstätige, das Recht auf einen Mutterschutzurlaub von 70 Tagen vor und 70 Tagen nach der Geburt. Dieser Zeitraum wird bei schwierigen Geburten auf 155 oder Mehrlingsgeburten auf 180 Tage ausgedehnt. In diesem Zeitraum wird das Gehalt zu 100% weiter bezahlt. Es können bis zu drei Jahre unbezahlte Karenz in Anspruch genommen werden, ohne das es zum Verlust des Arbeitsplatzes kommt (Repat Armenia 26.6.2018).

Quellen:

•        IOM – International Organization for Migration (2018): Länderinformationsblatt Armenien 2018, http://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2018_Armenia_DE.pdf, Zugriff 25.3.2019

•        Repat Armenia (26.62018): Having Your Child In Armenia Maternity, http://repatarmenia.org/en/practical-info/education-healthcare/a/having-your-child-in-armenia, Zugriff 19.11.2018

•        SSA – Social Security Administration (2016): Social Security Programs Throughout the World: Asia and the Pacific, 2016 – Armenia, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2016-2017/asia/armenia.html, Zugriff 19.11.2018


Medizinische Versorgung

Die primäre medizinische Versorgung ist in der Regel entweder durch regionale Polikliniken oder ländliche Behandlungszentren erbracht. Die sekundäre medizinische Versorgung wird von regionalen Krankenhäusern und einigen der größeren Polikliniken mit speziellen ambulanten Diensten übernommen, während die tertiäre medizinische Versorgung größtenteils den staatlichen Krankenhäusern und einzelnen Spezialeinrichtungen in Jerewan vorbehalten ist. Die primäre medizinische Versorgung ist wie früher grundsätzlich kostenfrei (AA 17.4.2018, vgl. MedCOI 2.2018). Im Jahr 2019 kündigte das Gesundheitsministerium aus Kostengründen die Schließung einiger lokaler Krankenhäuser an (News.am 14.1.2020).

Um Zugang zu kostenlosen medizinischen Primärleistungen zu erhalten, muss eine Person armenischer Staatsbürger sein und in einer der Polikliniken oder primären Gesundheitseinrichtungen (Primary Healthcare – PHC) in der Nähe ihres Wohnortes registriert sein. In diesen Polikliniken oder PHC-Einrichtungen sind alle allgemeinen und wichtigsten spezialisierten medizinischen Dienstleistungen völlig kostenlos (einschließlich Impfungen und routinemäßiger labortechnischer Untersuchungen). Die folgenden Dienstleistungen stehen in den Polikliniken kostenlos zur Verfügung:

•        allgemeines Gesundheitswesen: Allgemeinmediziner, Hausarzt, Bezirkstherapeut, Kinderarzt

•        spezialisierte medizinische Dienste: Neurologen, Endokrinologen, Onkologen, Kardiologen, Chirurgen, Phthysiatern, Hals-Nasen-Ohren-Heilern (HNO), Gynäkologen, Dermatologen, Chirurgen/Traumatologen, Augenärzten, Infektions-/Immunologen, Stomatologen; und in mehreren Polikliniken Rheumatologen, Urologen

•        Laboruntersuchungen: Blutkörperchenzahl, biochemische Routineuntersuchungen

•        medizinisch-technische Untersuchungen: Ultraschall, EKG, Röntgen, Spirometrie, Fundoskopie

•        Impfungen und Hausbesuche durch einen Hausarzt: bei akuten Erkrankungen - Infektionen der oberen Atemwege, Temperatur, Schmerzsyndrom; bei onkologischen Patienten durch Onkologen (MedCOI 2.2018).

Kostenlose medizinische Versorgung gilt nur noch eingeschränkt für die sekundäre und die tertiäre Ebene. Das Fehlen einer staatlichen Krankenversicherung erschwert den Zugang zur medizinischen Versorgung insoweit, als für einen großen Teil der Bevölkerung die Finanzierung der kostenpflichtigen ärztlichen Behandlung extrem schwierig geworden ist. Viele Menschen sind nicht in der Lage, die Gesundheitsdienste aus eigener Tasche zu bezahlen. Der Abschluss einer privaten Krankenversicherung übersteigt die finanziellen Möglichkeiten der meisten Familien bei weitem (AA 7.4.2019).

Alle armenischen StaatsbürgerInnen, einschließlich Rückkehrende, Asylsuchende und Flüchtlinge, haben ohne Einschränkungen das Recht auf Dienstleistungen von Krankenversicherungen. Rückkehrende, die nicht von der staatlichen Krankenkasse profitieren, können eine freiwillige private Krankenversicherung abschließen. Die Preise variieren zwischen 230 USD und 350 USD pro Jahr. Für die Anmeldung werden der Pass/Personalausweis und die Krankenversicherungskarte benötigt. Für den Abschluss einer privaten Krankenversicherung muss die Person die Krankenkassen direkt kontaktieren (IOM 2018).

Die armenische Verfassung von 1995 garantiert den universellen Anspruch auf medizinische Leistungen, die vom Staat finanziert werden sollten. Ab 1997 wurden aufgrund der Finanzierungsnöte die Ansprüche durch die Einführung des Basis-Leistungspakets (BBP) begrenzt, bei dem es sich um ein öffentlich finanziertes Paket handelt, das eine Liste von Dienstleistungen festlegt, die für die gesamte Bevölkerung kostenlos sind (weitgehend Grundversorgung, sanitär-epidemiologische Dienstleistungen und Behandlung von rund 200 gesellschaftlich bedeutsamen Krankheiten) und die diejenigen Gruppen festlegt, die alle Dienstleistungen kostenlos erhalten sollten. Die unter den BBP fallenden Dienstleistungen und Bevölkerungsgruppen werden jährlich seitens der Regierung überprüft. Zu den Kategorien von Menschen, die nach dem BBP Anspruch auf kostenlose Gesundheitsleistungen haben, gehören Menschen mit Behinderungen, die je nach Schweregrad in die Gruppen I, II oder III eingeteilt sind; Kriegsveteranen; Hinterbliebene von Gefallenen, aktive Soldaten und ihre Familienmitglieder; generell Kindern unter sieben Jahren, unter 18 Jahren mit Behinderung, Kinder von vulnerablen Bevölkerungsgruppen oder Familien mit vier oder mehr Minderjährigen, von minderjährigen Elternteilen, Kindern ohne elterliches Sorgerecht oder aus Familien mit Menschen mit Behinderungen, Kinder in Pflegeheimen; alte Menschen in Pflegeheimen, Häftlinge, Opfer von Menschenhandel, Schutzsuchende und deren Familienmitglieder. D.h., wenn ein Patient unter das BBP fällt, ist die Behandlung kostenlos. Auch private medizinische Einrichtungen müssen kostenlose Dienstleistungen für die unter das BBP fallenden Personengruppen erbringen. Die Kosten übernimmt das Gesundheitsministerium. Gehört jedoch der Patient nicht zu einer der sozial schwachen oder besonderen Bevölkerungsgruppen, ist er nicht versichert oder fällt nicht unter ein "spezielles Krankheitsprogramm" (z.B. AIDS, Tuberkulose, Psychiatrie, etc. sowie die teilweise Abdeckung anderer Erkrankungen, wie Krebs), so muss er für die erhaltene Behandlung bezahlen (MedCOI 2.2018).

Für die hospitale Behandlung zahlreicher Erkrankungen und Leiden besteht ein komplexes System des Selbstbehalts (Co-Payment System), wodurch nicht die gesamten Kosten beim Patienten liegen. Ausgenommen sind wiederum Minderjährige und Personen, die unter das BBP hinsichtlich der Hospitalsbetreuung fallen, für die die gesamten Kosten übernommen werden. Wenn ein Patient eine Krankenhausbehandlung benötigt, nimmt die primäre medizinische Einrichtung (z.B. Poliklinik) eine Überweisung an den entsprechenden Krankenhausdienst vor. Die Hausärzte informieren die Patienten in der Regel über ihre Chance auf kostenlose Behandlung oder Zuzahlung in Krankenhäusern, die Dienstleistungen im Rahmen des BBP anbieten. Nach der Anmeldung hat der Patient oder sein gesetzlicher Vertreter den ersten erforderlichen Betrag seines Anteils an der Zuzahlung zu begleichen. Der Selbstbehalt (Zuzahlungsbetrag) kann vollständig oder schrittweise bezahlt werden, spätestens jedoch mit der Entlassung des Patienten aus dem Krankenhaus. Die staatliche Gesundheitsbehörde übernimmt den Rest der Gesamtkosten nach der Analyse der monatlichen Finanzberichte der Krankenhäuser. Es gibt keine Rückerstattung und beide Parteien (Patient und Staat) zahlen ihren eigenen Anteil. Der Betrag, den jede Partei innerhalb des Zuzahlungssystems zahlen muss, ist kein fester Prozentsatz für alle betroffenen Krankheiten (MedCOI 2.2018).

Folgende Personengruppen können kostenfreie Medikamente in lokalen Polykliniken erhalten:

? Behinderte, 1. und 2. Gruppe (die Kategorien werden vom Ministerium für Arbeit und Soziales bestimmt)

? Behinderte Kinder unter 18 Jahren

? Veteranen des II. Weltkriegs

? Kinder ohne elterliche Aufsicht, sowie Halbwaisen unter 18 Jahren

? Kinder (unter 18 Jahren) aus Familien mit 4 oder mehr minderjährigen Kindern

? Angehörige von Militärangehörigen, die im Dienste der Republik Armenien verstorben sind

? Kinder aus Familien mit behinderten Kindern unter 18 Jahren Kinder unter 7 Jahre

Eine Kostenerstattung in Höhe von 50% ist für folgende Personengruppen gewährleistet:

? Behinderte der 3.Gruppe

? Rechtswidrig Verurteilte

? Alleinstehende, arbeitslose Pensionäre

? Familien bestehend aus arbeitslosen Pensionären

? Alleinstehende Mütter mit Kindern unter 18 Jahren

Eine Kostenerstattung in Höhe von 30% erhalten arbeitslose Pensionäre (IOM 2018).

Ein Grundproblem der staatlichen medizinischen Fürsorge ist die schlechte Bezahlung des medizinischen Personals (für einen allgemein praktizierenden Arzt ca. EUR 250/Monat). Dies führt dazu, dass die Qualität der medizinischen Leistungen des öffentlichen Gesundheitswesens in weiten Bereichen unzureichend ist. Denn hochqualifizierte und motivierte Mediziner wandern in den privatärztlichen Bereich ab, wo Arbeitsbedingungen und Gehälter deutlich besser sind. Der Ausbildungsstand des medizinischen Personals ist zufriedenstellend. Die Ausstattung der staatlichen medizinischen Einrichtungen mit technischem Gerät ist dagegen teilweise mangelhaft. In einzelnen klinischen Einrichtungen – meist Privatkliniken - stehen hingegen moderne Untersuchungsmethoden wie Ultraschall, Mammographie sowie Computer- un

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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