Entscheidungsdatum
25.11.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W248 2188502-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. NEUBAUER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich vom 02.02.2018, Zl. XXXX , in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 09.11.2020 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
1 Verfahrensgang:
1. XXXX , geb. XXXX , (im Folgenden: Beschwerdeführer), ein afghanischer Staatsbürger, stellte am 13.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Im Zuge der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, Landespolizeidirektion XXXX – Polizeiinspektion XXXX am 14.01.2016, gab der Beschwerdeführer an, aus dem Dorf XXXX , in der Provinz Laghman, zu stammen. Seine Muttersprache sei Paschtu. Er gab weiters an, den Namen XXXX zu führen, am XXXX geboren zu sein, afghanischer Staatsbürger sowie Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischer Moslem zu sein. Er sei verheiratet und habe keine Kinder. Seine Eltern und seine zwei jüngeren Brüder würden sich noch in seinem Heimatdorf in Afghanistan befinden. Der Beschwerdeführer habe von 1997 bis 2001 die Grundschule, von 2001 bis 2005 die Hauptschule und anschließend bis etwa 2009 eine allgemeinbildende höhere Schule in Afghanistan besucht. Bis Anfang 2016 habe er als Chauffeur beim Militär gearbeitet. Der Beschwerdeführer sei gemeinsam mit seinem Cousin XXXX nach Österreich gereist. Den Entschluss, Afghanistan zu verlassen habe der Beschwerdeführer vor etwa acht Monaten gefasst. Vor etwa zwei Monaten habe er Afghanistan verlassen. Er habe selbst die Schleppung organisiert und die Kosten in Höhe von etwa USD 6.000,00 bezahlt.
Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass er aufgrund seiner Tätigkeit für das Militär von den Taliban aufgefordert worden sei, eine Bombe in einem Armeeauto zu platzieren. Anschließend solle er die Arbeit für die Armee beenden und sich den Taliban anschließen. Da er sich geweigert habe, sei sein Haus in seinem Heimatdorf von den Taliban angegriffen worden. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan fürchte er um sein Leben.
3. Am 22.08.2016 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) mit einem Dolmetscher für die Sprache Paschtu statt.
Der Beschwerdeführer gab bei dieser Gelegenheit an, traditionell verheiratet zu sein. Seine Ehefrau befinde sich bei seinen Eltern im Heimatdorf. Sowohl seine Onkel väterlicherseits als auch seine Onkel mütterlicherseits würden sich ebenfalls in seiner Heimat befinden. Der Vater des Beschwerdeführers sei Händler in einem Lebensmittelladen.
Befragt zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer aus, dass er aufgrund seiner Tätigkeit für das afghanische Militär (ANA) von den Taliban mit dem Tod bedroht worden sei. Er habe etwa zwei Monate vor seiner Ausreise einen Drohbrief erhalten, in welchem er aufgefordert worden sei, dem stellvertretenden Kommandanten, welchen er chauffiert habe, eine Mine zu legen, sodass dieser ums Leben komme. Sein Vater habe den Drohbrief gefunden und diesen dem Sicherheitskommandanten gezeigt, welcher jedoch nichts unternommen habe. Die Taliban hätten den Beschwerdeführer ebenfalls über seinen Vater bedroht, indem sie seinen Vater aufgefordert hätten, dass er seinem Sohn (d.h. dem nunmehrigen Beschwerdeführer) sagen solle, dass dieser den Forderungen der Taliban nachkommen solle. Der Beschwerdeführer habe den Drohbrief anfangs nicht ernst genommen. Auch seine Freunde, mit welchen er gemeinsam zur Armee gegangen sei, hätten Drohanrufe erhalten und seien getötet worden. Er habe kurz vor seiner Ausreise einen weiteren Drohbrief erhalten. Kurz danach sei der Beschwerdeführer zu Hause angegriffen worden. Die Taliban hätten eine Granate in den Innenhof geworfen. In dieser Nacht habe der Beschwerdeführer auf dem Dach geschlafen und sei durch die Explosion aufgewacht. Anschließend sei er über die Dächer geflüchtet und habe sich im Haus seines Onkels mütterlicherseits versteckt. Noch in der selben Nacht sei er weitergereist.
4. Am 23.01.2017 fand eine ergänzende niederschriftliche Einvernahme vor dem BFA statt. Der Beschwerdeführer führte aus, dass er auch ein wenig Dari spreche. Er habe seine Eltern, seine Ehefrau und „sein Kind“ zurücklassen müssen, da er in Gefahr gewesen sei. Der Beschwerdeführer erklärte auf Rückfrage ausdrücklich, keine Kinder zu haben und mit seinem „Kind“ seine jüngeren Brüder gemeint zu haben. Sein Vorname sei XXXX . Er habe sein Mobiltelefon verloren, sodass er bereits seit längerem keinen Kontakt mehr zu seiner Familie habe. Sein Vater sei gelähmt und nicht arbeitsfähig, und seine Ehefrau dürfe nicht arbeiten. Seine Familienmitglieder seien Selbstversorger als Landwirte und würden von den Mieterlösen der familieneigenen Geschäfte leben.
Hinsichtlich seiner Fluchtgründe wiederholte der Beschwerdeführer, dass er aufgrund seiner Tätigkeit als Soldat für das afghanische Militär bedroht worden sei. Er habe einen Drohbrief erhalten, womit er aufgefordert worden sei, seinen Führer zu töten. Sein Vater habe den Drohbrief zerrissen. Von diesem Drohbrief habe der Beschwerdeführer telefonisch erfahren. Etwa drei Monate später sei im Garten seines Hauses eine Granate explodiert. Der Beschwerdeführer habe an diesem Tag am Dach geschlafen, und seine Familienmitglieder hätten sich im Dachgeschoss befunden. Er sei daraufhin in den Garten gesprungen und über den Garten zu seinem Onkel mütterlicherseits geflüchtet. Im Falle einer Rückkehr würde er von den Taliban getötet werden. Vor Konsequenzen oder Problemen mit dem afghanischen Militär aufgrund seiner Desertion fürchte er sich nicht.
5. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf internationalen Schutz auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Dem Beschwerdeführer wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).
In der Begründung des Bescheides gab das BFA die entscheidungsrelevanten Angaben des Beschwerdeführers wieder und traf Feststellungen zur Lage in Afghanistan. Es wurde im Wesentlichen zu Spruchpunkt I. ausgeführt, dass der Beschwerdeführer als Person unglaubwürdig sei. Hinsichtlich seiner Mutter habe er angegeben, dass sie 57 Jahre alt sei, sodass es aus medizinischer Sicht unmöglich sei, dass sie den jüngeren Bruder des Beschwerdeführers XXXX , welcher etwa 10 Jahre alt sei, im Alter von 47 bekommen habe. Demnach hätte seine Mutter den anderen Bruder XXXX mit 45 Jahren zur Welt gebracht. Da in Afghanistan Ehen üblicherweise arrangiert werden würden, werde üblicherweise in jungem Alter geheiratet. Daher sei nicht nachvollziehbar, dass seine Mutter ihr erstes Kind, den Beschwerdeführer, erst im Alter von 29 Jahren bekommen habe. Auf der vorgelegten Taskira sei auf dem Foto kaum noch Stempelfarbe zu erkennen, hingegen sei die Farbe auf dem Papier nicht verblasst. Da auch die Stempellinien an den Fotorändern aufgrund des Höhenunterschiedes unterbrochen sein müssten, was sie jedoch nicht seien, werde erheblich an der Echtheit der Taskira gezweifelt. Die Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers ergebe sich ebenfalls aus der Tatsache, dass er nicht angeben habe können, wie lange er in der Armee gedient habe sowie welche Fahrzeuge er jahrelang gelenkt habe. Sein konkretes Fluchtvorbringen sei sehr vage vorgebracht worden. Der Beschwerdeführer habe den Erhalt eines Drohbriefes erwähnt, jedoch diesbezüglich keine Details geschildert. Gemäß seinen Angaben sei er aufgefordert worden, eine Mine zu legen, sodass diesem Brief kein Drohelement habe entnommen werden können. Auch die Schilderungen hinsichtlich seiner vier Freunde, welche angeblich getötet worden wären, seien sehr vage geblieben. Unglaubwürdig sei weiters, dass dem Beschwerdeführer erst irgendwann bewusst geworden sein solle, dass auch er in Gefahr sei. Den Angriff auf sein Haus habe der Beschwerdeführer auch erst in einem Nachsatz erwähnt. Auch die diesbezügliche Schilderung sei vage und ohne Details erfolgt. Widersprüche hätten sich insbesondere betreffend die Drohbriefe ergeben, zumal der Beschwerdeführer behauptet habe, dass sein Vater den ersten Drohbrief zerrissen habe, und er trotzdem eine Kopie gesehen habe. Hinsichtlich des Angriffs auf sein Haus habe der Beschwerdeführer eindeutig gelogen, da er diesen Angriff nicht habe beschreiben wollen. Aufgrund seiner speziellen Antwort betreffend die Fluchtgründe seines Cousins sei eindeutig, dass sich der Beschwerdeführer lediglich einen Asyltitel in Österreich erschleichen wolle. Es sei äußerst unglaubwürdig, dass der Beschwerdeführer und sein Cousin sich innerhalb von zwei Monaten während ihrer gemeinsamen Flucht nach Österreich nicht über ihre Fluchtgründe austauschen würden. Der Beschwerdeführer habe „rotzfrech“ geantwortet, dass sein Cousin der Behörde schon seine Fluchtgründe angeben werde.
Zu Spruchpunkt II. wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer nach Afghanistan zurückkehren könne, jedoch liege für seine Heimatprovinz eine Gefährdungslage vor. Dem Beschwerdeführer stehe jedoch eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul zur Verfügung.
Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 06.02.2018 zugestellt.
6. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 05.02.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die XXXX , amtswegig als Rechtsberatung zur Seite gegeben.
7. Der Beschwerdeführer reiste am 03.02.2018 illegal nach Ungarn. Gemäß der Übersetzung des ungarischen Schreibens vom Polizeipräsidium XXXX vom 04.02.2018 sei der Beschwerdeführer gemeinsam mit einem Freund zum Vergnügen nach Ungarn gereist. Er habe sehr viel Alkohol getrunken, sodass er in einem stark alkoholisierten Zustand gewesen sei.
8. Mit Schreiben vom 02.03.2018 erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch die XXXX Beschwerde gegen sämtliche Spruchpunkte des Bescheides des BFA und legte eine Vollmacht für die genannte Organisation vor. Die Beschwerde langte verspätet beim BFA ein.
Der Beschwerdeführer führte in seiner Beschwerde aus, dass er von den Taliban aufgefordert worden sei, eine Bombe in einem der Militärfahrzeuge zur Explosion zu bringen und sich in weiterer Folge den Taliban anzuschließen. Da er der Aufforderung der Taliban nicht Folge geleistet habe, sei das Haus der Familie angegriffen worden. Der Beschwerdeführer sei insbesondere als Angehöriger des afghanischen Militärs einer besonderen Gefährdung ausgesetzt. Das Ermittlungsverfahren der Behörde sei mangelhaft geführt worden. Die Länderberichte seien einseitig und unvollständig. Er verwies diesbezüglich auf Länderberichte betreffend die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan, insbesondere in Kabul. Die Beweiswürdigung im gegenständlichen Bescheid sei ebenfalls mangelhaft. Als Begründung für die Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers habe die Behörde insbesondere die Angabe eines unrichtigen Geburtsdatums seiner Mutter angeführt. Der Beschwerdeführer habe entgegen dem Vorhalt der Behörde nachvollziehbare und konsistente Zeitangaben gemacht. Im Protokoll der ersten Einvernahme vor dem BFA seien Fragen eines anderen Protokolls enthalten gewesen. Die Ausdrucksweise im gegenständlichen Bescheid lasse die nötige Professionalität und Sachlichkeit vermissen. Zusammenfassend habe der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen glaubhaft und konsistent vorgebracht. Er werde insbesondere aufgrund seiner Tätigkeit für das afghanische Militär sowie aufgrund seiner westlichen Lebensweise und Einstellung von den Taliban verfolgt. Eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul stehe dem Beschwerdeführer jedenfalls nicht zur Verfügung.
9. Mit E-Mail vom 02.03.2018 übermittelte die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers statt der Beschwerde lediglich den gegenständlichen Bescheid an das BFA. Dieser Mangel wurde seitens des BFA am 05.03.2018 der Rechtsvertretung bekannt gegeben, welche die Beschwerde erst am 07.03.2018 und daher verspätet per E-Mail übermittelte.
Gemeinsam mit der Beschwerde übermittelte die Rechtsvertretung am 07.03.2018 einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand.
10. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 08.03.2018 mit Schreiben vom 07.03.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Mit einem weiteren E-Mail vom 08.03.2018 wurde der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand vom 07.03.2018 vom BFA dem Bundesverwaltungsgericht nachgereicht.
11. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand wurde vom Bundesverwaltungsgericht am 30.04.2020 gemäß § 33 Abs. 4 VwGVG iVm § 6 AVG an das BFA zur Entscheidung rückübermittelt.
12. Mit Beschluss vom 06.05.2020 wurde das Beschwerdeverfahren zu XXXX gemäß § 17 VwGVG iVm § 38 AVG bis zur Entscheidung des BFA über den eingebrachten Wiedereinsetzungsantrag vom 07.03.2018 ausgesetzt.
13. Mit Bescheid vom 28.05.2020 gab das BFA dem Antrag des Beschwerdeführers auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand vom 07.03.2018 gemäß § 33 Abs. 1 VwGVG statt.
Dieser Bescheid wurde dem Bundesverwaltungsgericht am 28.05.2020 übermittelt.
14. In weiterer Folge wurde das mit Beschluss vom 06.05.2020 ausgesetzte Beschwerdeverfahren fortgesetzt.
15. Am 09.11.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner Vertretung, der Zeugin XXXX , interessierter Öffentlichkeit und einer Dolmetscherin für die Sprache Paschto statt. In dieser Verhandlung wurde der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und hatte die Möglichkeit, diese Gründe umfassend darzulegen. Das BFA als belangte Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil.
Der Beschwerdeführer führte aus, dass sich seine Kernfamilie nach wie vor in seinem Heimatdorf in Afghanistan befinde. Mit seiner Ehefrau habe er etwa 2-3 Mal pro Woche Kontakt. Er sei zwölf Jahre lang zur Schule gegangen und habe ein Jahr lang den Beruf des Elektrikers erlernt. Hinsichtlich seiner Arbeit für das afghanische Militär führte der Beschwerdeführer aus, dass er keinerlei militärische Ausbildung absolviert habe und als Lenker für den stellvertretenden Kommandanten am Stützpunkt in XXXX , einem XXXX , tätig gewesen sei. Die Familie des Beschwerdeführers besitze 20 Geschäfte sowie etwa 10 Jirib Grundstücke im Dorf und könne durchaus als reich bezeichnet werden.
Befragt zu seinen Fluchtgründen wiederholte der Beschwerdeführer, dass er aufgrund seiner Tätigkeit für das afghanische Militär von den Taliban mittels zweier Drohbriefe bedroht worden sei. Die Frage, ob er jemals persönlich Kontakt zu Taliban gehabt habe, verneinte der Beschwerdeführer, brachte jedoch erstmalig vor, dass er von einem Talibankommandanten, welcher in seinem Dorf lebe, vor einiger Zeit in einem Taxi mit dem Tod bedroht worden sei. Dieser Kommandant habe ebenfalls seinem Vater mitgeteilt, dass dieser seinem Sohn (also dem Beschwerdeführer) sagen solle, dass dieser seine Tätigkeit für das Militär beenden solle. Nach dem Angriff auf das Wohnhaus des Beschwerdeführers hätten seine Mutter, seine Ehefrau und seine jüngeren Brüder laut geweint und geschrien, sodass die Taliban wohl davon ausgegangen seien, dass er getroffen worden sei. Die Taliban hätten es ausschließlich auf den Beschwerdeführer und nicht auf seine Familienmitglieder abgesehen.
Hinsichtlich seiner vorgebrachten „westlichen“ Einstellung konnte der Beschwerdeführer weder angeben, was dieses Vorbringen für ihn bedeute, noch konnte er konkrete Beispiele für Denkweisen nennen, die er sich nach dem Beschwerdevorbringen in Österreich angeeignet haben soll. Im Falle einer Rückkehr werde er jedenfalls getötet werden.
Der Beschwerdeführer legte Integrationsunterlagen vor und führte aus, ehrenamtlich in einem XXXX tätig zu sein. Weiters legte der Beschwerdeführer eine Absichtserklärung von XXXX , Obmann des Vereins XXXX , vom 06.11.2020 vor, den Beschwerdeführer als Hausarbeiter anzustellen.
Die befragte Zeugin XXXX bestätigte das ehrenamtliche Engagement des Beschwerdeführers in dem genannten XXXX seit zwei Jahren und beschrieb den Beschwerdeführer als liebevollen, hilfsbereiten und charmanten Menschen. Der Beschwerdeführer sei fixer Bestandteil ihrer Familie und wie ein Bruder für die Zeugin.
Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
2 Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht mit hinreichender Sicherheit fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung sowie der Einvernahmen des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des BFA, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des BFA, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem sowie in das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung vom 13.11.2018, letzte Kurzinformation vom 21.07.2020, die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018, die EASO Country Guidance Afghanistan - Guidance note and common analysis (Juni 2019), das ACCORD – Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 15.01.2020, die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif vom 30.04.2020, die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Herat vom 23.04.2020, die ACCORD-Anfragebeantwortung „Zwangsrekrutierungsmaßnahme der Taliban“ vom 13.08.2018, Landinfobericht Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne vom 23.08.2017 sowie die aktuellen COVID-19 Zahlen zu Afghanistan - OCHA, WHO: Afghanistan Flash Update: Daily Brief: COVID-19, No. 80 (08.10.2020) werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
2.1 Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Paschto. Der Beschwerdeführer ist traditionell verheiratet und hat keine Kinder. Er stammt aus dem Dorf XXXX , welches sich im Distrikt XXXX , in der afghanischen Provinz Laghman befindet. Seine Eltern, seine Brüder und seine Ehefrau leben nach wie vor in seinem Heimatdorf in Afghanistan. Die Familie des Beschwerdeführers ist sehr wohlhabend. Sein Vater besitzt 20 Geschäfte und 10 Jirib Grundstücke im Heimatdorf. Der Beschwerdeführer entstammt einer Khanfamilie, er hat weitere Verwandte in Afghanistan.
Der Beschwerdeführer verfügt über eine zwölfjährige Schulbildung und hat etwa ein Jahr lang den Beruf Elektriker gelernt. Der Beschwerdeführer war seit etwa 2010 als Fahrer für das afghanische Militär tätig. Eine (auch nur geringfügige) militätische Ausbildung hat er nicht.
Der Beschwerdeführer ist jung, gesund und arbeitsfähig.
Der Beschwerdeführer ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.
Der Beschwerdeführer ist unbescholten.
2.2 Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner Fahrertätigkeit für das afghanische Militär von Taliban persönlich oder mittels Drohbriefen bedroht wurde.
Weiters kann weder festgestellt werden, dass ein Angriff der Taliban auf das Haus des Beschwerdeführers stattfand, noch, dass der Beschwerdeführer jemals Kontakt zu Taliban hatte.
Ein Zwangsrekrutierungsversuch durch die Taliban fand nicht statt.
Der Beschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in seine körperliche Integrität noch wegen konkreter Verfolgungs- oder Lebensgefahr verlassen.
Der Beschwerdeführer reiste schlepperunterstützt nach Europa.
2.3 Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich seit mehr als viereinhalb Jahren durchgehend in Österreich auf. Er war nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 13.01.2016 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Der Beschwerdeführer hat in Österreich bisher Deutschkurse bis zum Niveau A2 besucht, jedoch noch keine Deutsch-, oder Integrationsprüfung absolviert. Seit etwa zwei Jahren engagiert sich der Beschwerdeführer regelmäßig ehrenamtlich für den gemeinnützigen Verein „ XXXX “. Der Beschwerdeführer ist aktuell nicht Mitglied in einem Verein.
Er ist nicht erwerbstätig und lebt von der Grundversorgung. Der Beschwerdeführer legte eine Willensbekundung vom 06.11.2020 vor, ihn als Hausarbeiter im gemeinnützigen Verein „ XXXX “ anzustellen.
Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über keine Verwandten, zumal seine gesamte Kernfamilie nach wie vor im Heimatort lebt. Er ist gemeinsam mit einem Cousin nach Österreich eingereist, welcher sich jedoch nicht mehr im Bundesgebiet aufhält.
Der Beschwerdeführer verfügt über österreichische Freunde. Er führt eine intensive Freundschaft mit XXXX und ihrer Familie.
Ein schützenswertes Familien- bzw. Privatleben iSd. Art. 8 EMRK konnte nicht festgestellt werden.
2.4 Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Der Beschwerdeführer ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan weder aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Volksgruppenzugehörigkeit, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von anderen Personen oder Gruppen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Fahrertätigkeit für das afghanische Militär weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in die körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen.
Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts in einem westlichen Land oder wegen seiner Wertehaltung in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Es liegt keine „westliche“ Lebenseinstellung beim Beschwerdeführer vor, die wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden wäre.
Der Beschwerdeführer kann daher nach Afghanistan, in sein Heimatdorf in der Provinz Laghman, zu seiner Familie zurückkehren.
Seine Herkunftsprovinz Laghman wird in den vorliegenden, aktuellen Länderinformationen als relativ ruhig erachtet, wobei Taliban in einigen abgelegenen Distrikten aktiv sind. Der Heimatdistrikt des Beschwerdeführers steht nicht unter der Kontrolle der Taliban. Die Autobahn AH-1 führt von Kabul in den Heimatdistrikt des Beschwerdeführers, sodass er sein Heimatdorf auch hinreichend sicher erreichen kann.
Der Beschwerdeführer verfügt über familiäre und soziale Anknüpfungspunkte in Afghanistan. Die gesamte Kernfamilie des Beschwerdeführers befindet sich in seinem Heimatdorf. Zu seiner Familie besteht regelmäßig, etwa zwei bis drei Mal pro Woche, Kontakt. Der Vater des Beschwerdeführers ist sehr vermögend. Der Beschwerdeführer verfügt im Vergleich zu sehr vielen anderen Afghanen über eine sehr gute Schulbildung und über eine langjährige Arbeitserfahrung als Fahrer. Er ist gesund, arbeitsfähig und arbeitswillig.
Sollte der Beschwerdeführer nicht in sein Heimatdorf zurückkehren können oder wollen, kann er auch in einer anderen Stadt mit umfassender finanzieller Unterstützung seines Vaters rechnen. Ausgehend von den Länderfeststellungen zu Afghanistan sowie die aktuelle Covid-19 Pandemie berücksichtigend, steht dem Beschwerdeführer mit den größeren Städten in Afghanistan, insbesondere mit Mazar-e Sharif oder Kabul, eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Sowohl Mazar-e Sharif als auch Kabul verfügen über einen international erreichbaren Flughafen, sodass die Anreise in diese Städte auch weitgehend gefahrlos erfolgen kann.
Der Beschwerdeführer verfügt über sehr gute Ortskenntnisse in Kabul, da er dort jahrelang als Fahrer gearbeitet hat. Die Stadt Mazar-e Sharif hat der Beschwerdeführer nach seinen eigenen Angaben bereits einmal besucht, sodass er zwar über keine soliden Ortskenntnisse verfügt, sich jedoch grundsätzlich dort zurechtfinden kann.
Trotz der durch die Covid-19 Pandemie angespannte Situation am Arbeits- und Wohnungsmarkt ist der Beschwerdeführer aufgrund des großen Vermögens seiner Familie im Stande, sich auch teurere Unterkünfte zu leisten. Da die Familie des Beschwerdeführers derart wohlhabend ist, er auch regelmäßig Kontakt mit seiner Kernfamilie hat und zweifellos mit finanzieller Unterstützung rechnen kann, sind auch die gestiegenen Lebensmittelpreise und die generell schwierigere Wirtschafts- und Versorgungslage kein Hindernis für eine Rückführung nach Afghanistan.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere in sein Heimatdorf bzw. bei einer Ansiedelung in Mazar-e Sharif oder Kabul kann der Beschwerdeführer grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Es ist ihm möglich, nach eventuell anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und sich dort eine Existenz aufzubauen. Aufgrund des großen Vermögens seiner Familie ist der Beschwerdeführer im Stande, seine Bedürfnisse zu finanzieren, auch wenn er nicht unmittelbar nach seiner Ankunft eine Arbeit finden sollte. Das Vermögen der Familie ist ausreichend, sodass damit sowohl der Beschwerdeführer als auch seine Familie versorgt werden können.
2.5 Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 13.11.2019, mit letzter Kurzinformation vom 21.07.2020 (LIB 13.11.2019),
- UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),
- EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO),
- ACCORD-Anfragebeantwortung zu „Zwangsrekrutierungsmaßnahme der Taliban“ vom 13.08.2018,
- Landinfobericht Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne vom 23.08.2017,
- ACCORD – Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 15.01.2020,
- EASO Special Report 07.05.2020 – Asylum Trends and COVID-19ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif vom 30.04.2020,
- ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Herat vom 23.04.2020, sowie
- die aktuellen COVID-19-Zahlen zu Afghanistan OCHA, WHO: Afghanistan Flash Update: Daily Brief: COVID-19, No. 83 (05.11.2020)
- diverse zitierte Quellen, welche ebenfalls im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan verwendet werden.
2.5.1 Allgemeine Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB 13.11.2019).
Nach Jahrzehnten gewaltsamer Konflikte befindet sich Afghanistan in einer schwierigen Aufbauphase und einer weiterhin volatilen Sicherheitslage. Die staatlichen Strukturen sind noch nicht voll arbeitsfähig. Tradierte Werte stehen häufig einer umfassenden Modernisierung der afghanischen Gesellschaft entgegen (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 02.09.2019).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan, und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB 13.11.2019).
Ende Februar 2020 unterzeichneten die USA und die Taliban ein Friedensabkommen, welches den Abzug der US-Truppen vorsieht. Die afghanische Regierung wurde daran jedoch nicht beteiligt. Ein beidseitiger Gefangenenaustausch gilt als Voraussetzung für direkte Gespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban. Über die Umsetzung gibt es aber Streit, speziell bei der Frage, ob die Regierung auch ranghohe Befehlshaber der Extremisten freilässt (Zeit-Online 11.04.2020).
Pressemeldungen zufolge hat es seit dem Friedensabkommen mit den USA (29.02.2020) über 4.500 Angriffe der Taliban gegeben, bei denen über 900 Soldaten oder Polizisten und 610 Taliban-Kämpfer getötet wurden. Dabei griffen die Taliban keine Städte oder Provinzzentren an, sondern fokussierten sich auf Dörfer in den Provinzen Herat, Kabul, Kandahar und Balkh. Nach Angaben des afghanischen Nationalen Sicherheitsrates wurden bei Angriffen oder Anschlägen der Taliban in der ersten Woche des Ramadans (24.04.2020 bis ca. 30.04.2020) mindestens 66 Zivilisten verletzt oder getötet. Medienberichten zufolge gab es auch in der vergangenen Woche Kämpfe und Anschläge in zahlreichen Provinzen. So wurden etwa am 29.04.20 bei einem Selbstmordanschlag in der Nähe eines Stützpunkts der afghanischen Spezialkräfte im Südwesten der Hauptstadt Kabul (Polizeidistrikt 7) mindestens drei Menschen getötet und 15 verletzt. Die NATO meldet ebenso wie die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA, vgl. BN v. 27.04.2020), einen deutlichen Rückgang der zivilen Opfer im ersten Quartal 2020. Die NATO hat allerdings inzwischen die Veröffentlichung von Daten über Angriffe der Taliban eingestellt. Man wolle die derzeit laufenden politischen Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban nicht belasten. Am 02.05.2020 entließ die Regierung 98 weitere gefangene Taliban und somit insgesamt 748 der geforderten 5.000 Personen. Die Taliban haben im Gegenzug 112 von den versprochenen 1.000 ihrer Gefangenen freigelassen (Deutsches Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Briefing Notes 04.05.2020).
Aktuell liegen weiterhin Berichte aus vielen Provinzen über Kampfhandlungen und Anschläge, bei denen auch Zivilisten zu Schaden kommen, vor. Nach Informationen der New York Times seien im Juli 2020 bisher mindestens 137 Sicherheitskräfte und 51 Zivilisten getötet worden. Beispielhaft seien folgende Ereignisse genannt: Bei einem Feuergefecht zwischen afghanischen und pakistanischen Soldaten wurden am 15./16.07.2020 in der östlichen Provinz Kunar (Distrikt Sarkano) mindestens 20 Zivilisten verletzt oder getötet. Nach afghanischer Darstellung hätten pakistanische Streitkräfte versucht, einen Checkpoint auf afghanischem Gebiet zu errichten. Auch in der Provinz Nangarhar sollen pakistanische Kräfte Checkpoints vor der Grenze zu Pakistan auf afghanischem Gebiet errichtet haben. Während des Besuchs von Präsident Ghani in Ghazni City (Südosten) wurden mehrere Raketen auf die Stadt abgefeuert, wobei vier Zivilisten verletzt wurden. Ein Vertreter des Provinzrats von Ghazni erklärte, dass sechs der neun Distrikte der Provinz belagert würden. Am 19.07.20 wurden in den Provinzen Zabul und Paktika zwei Polizeichefs von Distrikten bei Anschlägen getötet und mehrere Polizisten verletzt.
Die Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC) hat in den letzten neun Monaten 17 Angriffe auf religiöse Einrichtungen dokumentiert, bei denen 170 Menschen getötet und 272 verletzt wurden. Hervorzuheben seien Angriffe auf zwei Moscheen in Kabul, auf Sikh Tempel in Kabul und Jalalabad, sowie Übergriffe auf Geistliche in Takhar, Parwan, Laghman, Paktia und Helmand. Einen Imam im Dorf Kohna Masjid (Distrikt Dahana-e-Ghori, Provinz Baghlan) sollen die Taliban gefoltert und getötet haben, weil er eine Beerdigungszeremonie für einen lokalen Polizeikommandanten abgehalten haben soll.
Die USA haben mit dem im Friedensabkommen mit den Taliban vereinbarten Truppenabzug begonnen und Soldaten aus den Provinzen Helmand, Uruzgan, Paktika und Laghman zurückgezogen. Gleichzeitig besteht die US-Regierung auf der Erfüllung weiterer Vereinbarungen, wie dem Abschluss der Freilassung von Gefangenen, der Reduzierung der Gewalt sowie der Aufnahme von innerafghanischen Gesprächen. Der Gefangenenaustausch verläuft schleppend. Nach Angaben der afghanischen Regierung seien bisher 4.400 der versprochenen 5.000 gefangenen Taliban freigelassen worden. Hinsichtlich der übrigen 600 Gefangenen verweigert die Regierung die Freilassung, da sie wegen schwerer Verbrechen inhaftiert seien, die Taliban sollten eine neue Liste vorlegen. Die Taliban haben inzwischen 600 von 1.000 afghanischen Sicherheitskräften freigelassen (Deutsches Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Briefing Notes 20.07.2020).
2.5.2 Sicherheitslage im Zeitraum 10.12.2019 bis Ende Februar 2020:
Die Sicherheitslage bleibt volatil. Zwischen 08.11.2019 und 06.02.2020 wurden von UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet (ähnlich wie in derselben Periode des vorherigen Jahres). Die meisten Vorfälle fanden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, welche gemeinsam insgesamt 68% der Vorfälle ausmachten. Die Regionen mit den meisten Vorfällen waren Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh. Die Kampfhandlungen verringerten sich zu Jahresende 2019 und Jahresbeginn 2020, infolge der saisonalen Trends in den Wintermonaten. Am 22.02.2020 konnte infolge der Gespräche der USA mit den Taliban eine nationale Reduktion der Gewalt verzeichnet werden.
Die etablierten Trends bleiben jedoch bestehen; mit 2.811 bewaffneten Zusammenstößen, welche 57% aller Vorfälle ausmachen, gab es im Vergleich zur selben Zeitperiode des vorherigen Jahres eine Verringerung um 4%. Die Verwendung von improvisierten Sprengkörpern bleibt die zweithöchste Art von Vorfällen, mit einer Steigerung von 21%, im Vergleich zur selben Zeitperiode des vorherigen Jahres, während sich Selbstmord-Attentaten um 25% verringert haben. Die 330 Luftangriffe des afghanischen Militärs erreichte eine 18%ige Verringerung, verglichen mit derselben Periode im Jahr 2019. In den Provinzen Helmand, Kandahar und Farah wurden 44% der Luftangriffe durchgeführt.
Am 31.12.2019 wurde berichtet, dass die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Darzab in der Provinz Jawzjan, aufgrund des Abzuges der Security Forces erlangten. Vorübergehend erlangten die Taliban Kontrolle über den Distrikt Arghandab in der Provinz Zabul, während die Security Forces den Distrikt Guzargahi Nur in der Provinz Baghlan, welcher sich seit September 2019 unter Taliban Kontrolle befand, zurückeroberten (Bericht des UNO-Generalsekretärs zu politischen, humanitären, menschenrechtlichen und sicherheitsrelevanten Entwicklungen vom 10.12.2019 bis Ende Februar 2020).
2.5.3 Sicherheitslage im Jahr 2019:
Berichtete Konfliktvorfälle nach Provinzen:
Provinz
Anzahl Vorfälle
Anzahl Vorfälle mit Todesopfern
Anzahl Todesopfer
Badakhshan
200
95
798
Badghis
325
200
1863
Baghlan
395
184
1465
Balkh
615
269
1821
Bamyan
17
1
2
Daykundi
31
15
189
Farah
426
220
1562
Faryab
539
342
2601
Ghazni
1285
743
4484
Ghor
172
95
782
Helmand
1523
582
3030
Herat
456
229
1146
Jawzjan
189
101
705
Kabul
301
85
501
Kandahar
1157
435
3270
Kapisa
216
74
334
Khost
309
53
194
Kunar
294
129
757
Kunduz
493
281
2073
Laghman
269
83
384
Logar
415
169
985
Nangarhar
734
443
2736
Nimroz
119
27
114
Nuristan
54
16
119
Paktika
301
136
745
Paktia
592
133
741
Panjshir
6
0
0
Parwan
183
30
147
Samangan
76
41
289
Sar-e-Pul
125
71
404
Takhar
262
181
1404
Uruzgan
594
387
2872
Wardak
552
194
1207
Zabul
690
282
1956
(ACCORD-Kurzübersicht über Konfliktvorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project 29.06.2020).
Der afghanischen Regierung ist es weiterhin gelungen, die Kontrolle über die Hauptstadt Kabul, die größeren Bevölkerungszentren, die meisten wichtigen Straßen, über Provinzzentren und die Mehrheit der Distrikte aufrecht zu erhalten. Die afghanischen Sicherheitskräfte verfügen jedoch nicht über genügend Kräfte, um den Taliban-Offensiven, die in über der Hälfte der 34 Provinzen stattfinden, standzuhalten (Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe 12.09.2019).
Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit, das Kampfniveau deutlich zurückging und sowohl regierungsfreundliche Kräfte als auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten. Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren. Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08.2018 – 31.10.2018) verstärkt (LIB 13.11.2019).
Weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente erzielten zuletzt signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet. In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten. So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan.
Für den Berichtszeitraum 10.05.2019 – 08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert. Für den Berichtszeitraum 08.02.2019 – 09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist. Für den Berichtszeitraum 10.05.2019 – 08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018. Im Gegensatz dazu, registrierte die NGO International NGO Safety Organisation für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (LIB 13.11.2019).
Rund 39% der afghanischen Distrikte standen Anfang 2019 unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen, und 37% wurden von den Taliban kontrolliert. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat kontrollierte rund 4% der Distrikte. Die