TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/26 W257 2185570-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 26.11.2020
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Entscheidungsdatum

26.11.2020

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs1 Z2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
IntG §11
IntG §9 Abs4 Z1
VwGVG §28 Abs5

Spruch


W257 2185570-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Herbert MANTLER, MBA, als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX Staatsbürger der Islamischen Republik Afghanistan, vertreten durch Dr. Christian SCHMAUS, Rechtsanwalt in Wien, 1060 Wien, Chwallagasse 4/11, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich vom 05.01.2018, Zahl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.11.2020 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt III. wird als unbegründet abgewiesen. Der angefochtene Bescheid wird dahingehend abgeändert, dass er in seinem Spruchpunkt III. zu lauten hat:

„Eine ‚Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz‘ wird XXXX nicht erteilt.“

III. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid dahingehend abgeändert, dass er in seinem Spruchpunkt IV. zu lauten hat:

„Eine Rückkehrentscheidung gegen XXXX ist auf Dauer unzulässig. XXXX wird der Aufenthaltstitel ‚Aufenthaltsberechtigung plus‘ erteilt.“

IV. Die Spruchpunkte V. und VI. werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe

1.       Verfahrensgang:

1.1.     XXXX (im Folgenden „Beschwerdeführer“), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 28.10.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

1.2.    Im Rahmen der am selben Tag erfolgten Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, er sei Staatsbürger der Islamischen Republik Afghanistan, sei am 01.01.1999 geboren und lebte zuletzt 8 Monate in Teheran. Er gehöre der Volksgruppe der Hazara an und bekenne sich zur schiitischen Glaubensausrichtung des Islams. Er hätte zwei Jahre eine Koran-Schule besucht, sei ledig und hätte keine Sorgepflichten. Er stamme aus dem Dorf XXXX im Distrikt Jaghuri in der Provinz Ghazni, Afghanistan, wo er geboren wurde und auch dort im Familienverband aufgewachsen sei. Er sei von seinem Heimatdorf vor ca einem Jahr geflohen und hätte sich ca 8 Monate in Teheran/Iran aufgewachsen. Er hätte einen 65-jährigen Vater, eine 50-jährige Mutter, eine 13-jährige Schwester und zwei Brüder im Alter von ca. 10 und 8 Jahren. Er wäre von Afghanistan aus wirtschaftlichen Gründen geflohen und er hätte dort auch nicht zur Schule gehen können. Die Sicherheitslage wäre zudem in Afghanistan sehr schlecht gewesen.

1.3.    Der Beschwerdeführer wurde am 15.12.2017 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge „belangte Behörde“, auch BFA genannt) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Hierbei änderte er sein Geburtsdatum auf den XXXX . Ergänzend brachte er vor, dass sein Vater der Ortsvorsteher in dem Dorf gewesen sei und für die Verteilung der Hilfsgüter zuständig gewesen sei. Zudem hätte sie eine kleine Landwirtschaft besessen und wäre der Vater auch Gelegenheitsarbeiter gewesen. Sie hätten in dem Dorf ein eigenes Haus besessen. Er selbst hätte auch in der Landwirtschaft ausgeholfen. Sein Vater wäre von den Taliban beobachtet worden, wie er Hilfsgüter in das Dorf gebracht hätte. Ein Fahrer, mit dem sein Vater immer mitgefahren sei, hätte den Wohnort der Familie den Taliban verraten, weswegen sie sofort flüchten hätten müssen. Die Familie flüchtete nach Pakistan und dort wurde er von seiner Familie getrennt. Er hätte sei Ende 2014 keinen Kontakt mehr zu seiner Familie.

Seine Mutter und sein Vater wären Einzelkinder gewesen; er hätte dadurch – weil die ganze Familie in den Pakistan verzogen sei - keine Familienangehörige mehr in Afghanistan und könne deswegen nicht mehr zurück. Außerdem würden die Feinde seines Vaters ihn dort finden. Außerdem sei er Schiite und Hazara und würde auch deswegen verfolgt.

Er absolviere in Österreich den Pflichtschulabschluss und hätte auch schon österreichische Freunde. Er legte ein Konvolut an Teilnahmebestätigungen und Empfehlungsschreiben vor, darunter ein A1-Zertifikat vom 22.11.2017 und eine Schulbesuchsbestätigung vom 12.12.2017 der Übergangsstufe.

1.4.     Das BFA wies den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit dem im Spruch erwähnten Bescheid gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.) und erkannte ihm gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 auch den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt, gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz und § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III.-V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer nicht glaubhaft vorbringen hätte können, dass er aus wohlbegründeter Furcht ausreisen musste und bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer erkennbaren Gefahr ausgesetzt sein könnte. Das dargelegte Bedrohungsszenario sei unglaubwürdig, weil die Angaben nur sehr vage und lückenhaft seien. Im Kern konnte die Behörde keine glaubhafte Gefahr erkennen, denn die Taliban hätten den Vater beobachtet und hätten gewusst, mit welchem Fahrzeug er welche Strecke fährt, hätten aber nicht gewusst, wo er wohnt oder arbeiten würde. Damit wäre sein Vorbringen unglaubwürdig gewesen.

Zusätzlich zog die belangte Behörde die innerstaatliche Fluchtalternative Kabul heran und vermeinte, dass keine reale Gefährdungslage in der Hauptstadt Kabul für den Beschwerdeführer zu erkennen sei.

1.5.    Gegen den Bescheid richtet sich die fristgerecht eingebrachte vollumfängliche Beschwerde des Beschwerdeführers, wobei er seine Aussagen inhaltlich aufrecht hält.

1.6.    Der Verwaltungsakt langte am 08.02.2018 am Bundesverwaltungsgericht ein und wurde entsprechend der Geschäftseinteilung der Gerichtsabteilung W257 zugewiesen (OZ 1). Am 02.05.2018 langten integrative Unterlagen ein (OZ 5). Darunter eine Kopie eines Lehrvertrages vom 01.02.2018, ein ÖSD-Zertifikat A2 vom 26.02.2018. Am 15.10.2018 langte die Vollmacht der jetzigen Rechtsvertreterin ein (OZ 6). Am 22.01.2018 langten weitere integrative Unterlagen ein, darunter Lichtbilder die ihm im sozialen Leben vornehmlich mit der XXXX zeigen, eine Stellungnahme, darin der Antrag auf zeugenschaftliche Einvernahme der XXXX , ein Antrag auf Zuerkennung der Aufenthaltsberechtigung plus gem. § 55 Abs. 1 AsylG, und vier Unterstützungsschreiben. Unter OZ 8 liegt ein Bericht er PI Braunau ein, welche berichtet, dass der BF bei einem Raufhandel beteiligt war. Von einer Strafverfolgung wurde abgesehen (OZ 9). Unter OZ 10 wurde ein Lehrvertrag eingebracht.

1.7.    Mit Schreiben vom 10.12.2018 (OZ 5) wurde die Entlassung des Beschwerdeführers mit 08.12.2018 aus der Grundversorgung des Landes Salzburg wegen unbekannten Aufenthalts mitgeteilt. Mit Schreiben vom 09.01.2019 (OZ 6) wurde die Aufnahme des Beschwerdeführers mit 28.12.2018 in die Grundversorgung mitgeteilt. Mit Schreiben vom 19.02.2019 (OZ 7) wurde wiederum die Entlassung des Beschwerdeführers mit 13.02.2019 aus der Grundversorgung mitgeteilt. Unter OZ 11 eine Mitteilung des BFA hinsichtlich geänderter rechtlicher Bestimmungen für Lehrlinge (Fristhemmung bei einer Rückkehrentscheidung). Unter OZ 12 wurden die Parteien zu einer mündlichen Verhandlung für den unter Anschluss der Länderberichte eingeladen. Es wurden folgende Länderberichte übersandt:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019, zuletzt aktualisiert am 21.07.2020 (LIB)

-        UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO),

-        Ecoi.net Themendossier zu Afghanistan: „Sicherheitslage und die soziökonomische Lage in Herat und in Masar-e Scharif“ vom 26.05.2020 (ECOI Herat und Masar-e Sharif)

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif)

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat)

-        Arbeitsübersetzung Landinfo Report „Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne“ vom 23.08.2017 (Landinfo 1)

-        Arbeitsübersetzung Landinfo Report „Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban“ vom 29.06.2017 (Landinfo 2)

-        ACCORD Afghanistan: Covid-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen; Reaktionen der Taliban, Stigmatisierung) vom 05.06.2020 (ACCORD Covid-19)

Es wurde Gelegenheit zur Einsicht- und Stellungnahme innerhalb von zwei Wochen gegeben. Die Parteien nahmen von dieser Gelegenheit nicht Gebrauch.

1.8.    Mit Schreiben vom 14.10.2020 wurde eine Stellungnahme der Rechtsvertreterin eingebracht. Darin wurde der Beschwerdeführer als äußerst integriert beschrieben. Es liegen Unterstützungsschreiben von XXXX vor. In der Stellungnahme werden die bisherigen Argumente im Grunde wiederholt und im Kern auf sein ursprüngliches Fluchtvorbringen eingegangen. Es wurde ausgeführt, dass er wegen der Verfolgung seines Vaters und dem Familienverband zur sozialen Gruppe derjenigen gehöre, der eine angenommene politische Gesinnung unterstellt werden könne uns so einer Verfolgung ausgesetzt sei. Eingegangen wurde auch auf die Covid-Pandemie in Afghanistan. Die Bezugsperson des Beschwerdeführers sei XXXX Mit der Familie XXXX pflege er eine familiäre Beziehung, verbringe sehr viel Zeit mit ihnen und lebt wie ein weiteres Familienmitglied bei ihnen. Vorgelegt werden Lohn- und Gehaltsabrechnung, eine Einstellungszusage seines jetzigen Lehrberechtigten nach Beendigung des Lehrverhältnisses. Das Lehrverhältnis begann am 01.02.2018 und endet am 31.01.2022.

Zu seinen Fluchtgründen befragt, brachte der Beschwerdeführer bei der mündlichen Verhandlung im Wortlaut folgendes vor:

R: Schildern Sie bitte nochmals im Detail, warum Sie Afghanistan verlassen mussten. Nehmen Sie sich dazu Zeit und bleiben Sie bei der Wahrheit!

(Beginn der freien Erzählung)

BF: Mein Vater war in unserer Gegend der Vertreter des Bezirks. Wenn uns von der Regierung geholfen wurde hat mein Vater dafür gesorgt, dass diese Hilfe von Ghazni/Jaghori zu uns kommt. Dann wurde diese unter den Dorfbewohnern verteilt, wenn die Dorfbewohner irgendwelche Probleme hatten hat er dafür gesorgt, dass diese weitergeleitet wurden nach Ghazni. Er versuchte die Probleme der Leute zu lösen. Deshalb ist mein Vater von den Taliban bedroht worden. Sie wollten nicht, dass mein Vater der Bevölkerung, vor allem den schiitischen Hazaras, behilflich ist. Deshalb konnten wir dort nicht mehr weiterleben und waren gezwungen Afghanistan zu verlassen.

(Ende der freien Erzählung)

R: Erzählen Sie mir konkret von der Bedrohung.

BF: Das erste Mal war mein Vater unterwegs von Jaghori Richtung Ghazni und die Taliban wussten, dass er dort unterwegs ist und haben ihn am Weg aufgehalten. Mein Vater war mit dem Auto unterwegs, hatte aber an dem Tag keine Dokumente mit und deswegen konnten die Taliban nicht nachweisen, dass er für die Regierung arbeitet. Dieses Mal haben ihn die Taliban freigelassen. Er ist nach Ghazni und wieder zurückgekommen. Mein Vater arbeitete dann weiter und später haben die Taliban zwei Mal ihm über ein Taxifahrer Briefe zukommen lassen. Sie drohten ihm darin, dass er mit dieser Arbeit aufhören soll. Mein Vater machte damit aber weiter. Die Dorfbewohner sagten, dass außer ihm ihnen niemanden helfen kann und seitens der Regierung wird ihnen nicht geholfen. Mein Vater war immer unterwegs Richtung Ghazni und zurück. Die Taliban haben manchmal Spione unterwegs, sie sind normal gekleidet und sie geben die Informationen weiter wie z.B. das mein Vater von Ghazni aus unterwegs ist. Mein Vater war wieder unterwegs von Ghazni Richtung Jaghori und diese Spione haben den Taliban Bescheid gegeben, wie diese Person gekleidet in einem Auto unterwegs ist. Irgendwas ist dazwischengekommen und mein Vater hat nicht das Auto genommen welches die Taliban kannten und er hat ein anderes genommen. Mein Vater wollte am nächsten Tag oder ein paar Stunden später losfahren, aber die Taliban hielten dieses besagte Auto auf, welches ihnen die Spione genannt haben. Sie fragten den Fahrer wo diese Person mit dieser Kleidung und diesen Personalien ist. Der Fahrer sagte, dass diese Person mit ihm fahren wollte, aber irgendwas ist dazwischengekommen und er ist nicht mitgefahren. Sie sagten dem Fahrer, dass er sagen soll wo sich diese Person aufhält und seine Adresse nennen soll. Weil der Fahrer sein Leben in Gefahr sah und Angst hatte, hat er die Adresse unseres Hauses und die Adresse der Arbeit meines Vaters genannt. Sie ließen den Fahrer danach wieder weiterfahren. Als der Fahrer in Jaghori angekommen ist hat er sofort meinen Vater angerufen und erzählte ihm, dass die Taliban ihn unterwegs aufgehalten haben, ihn bedroht haben und er gezwungen wurde ihnen die Adresse meines Vaters bekannt zu geben. Deshalb konnte mein Vater nicht zurück nach Hause kommen. Er sagte uns, dass wir so schnell wie möglich das Haus verlassen sollen, die Taliban Bescheid wissen und unser Leben in Gefahr ist. Wir haben ganz schnell die Gegend verlassen, haben ein Auto genommen und sind Richtung Ghazni gefahren.

R: Möchten Sie noch etwas dazu ausführen?

BF: Ja, mein Vater hatte einen Freund in Pakistan. Er hat ihn angerufen und sagte ihm, dass unser Leben in Afghanistan in Gefahr ist und was er machen soll. Dann haben wir ein Auto genommen und sind mit dem Auto durch Hilfe eines Schleppers nach Pakistan. In Pakistan waren wir dann in einem Hotel. Dort war eine Gruppe die nach Iran reisen wollte, mein Vater hat auf den Schlepper gewartet und mich dann übergeben. Mein Vater hat auf seinen Freund und nicht auf den Schlepper gewartet, sodass er meine Familie zu seinem Freund bringt. Er wollte, dass ich mich der Gruppe die in den Iran reist anschließe.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

2.       Feststellungen

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.

Zur Person des Beschwerdeführers

2.1.    Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , ist für das Verfahren am XXXX geboren. Er ist in Afghanistan, in der Provinz Ghazni geboren und aufgewachsen. Er ist Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zur schiitischen Glaubensausrichtung. Er wurde wegen seines Glaubens oder seiner Volksgruppe nicht konkret verfolgt oder bedroht. Eine allgemeine Gefahr, dass er wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit verfolgt werden könnte, oder wegen seiner Religionsausrichtung, kann aufgrund der gängigen Judikatur, dass nur eine konkrete Verfolgung Anlass für die Anerkennung als Flüchtling nach der GFK sein kann, außer Acht gelassen werden.

Die Erstsprache des Beschwerdeführers ist Dari. Er spricht außerdem Deutsch auf dem Niveau A2. Bis zur seiner Ausreise wuchs er im Familienverband auf. Er lebte 8 Monate im Iran bevor er nach Europa weiterzog.

Es kann nicht festgestellt werden, dass seine Familie in Pakistan wohnt, auch kann nicht festgestellt werden, dass er keine Familienangehörige in Afghanistan hat.

Der Beschwerdeführer gilt in seinem Herkunftsstaat als Zivilist.

Der Beschwerdeführer besuchte in seinem Heimatdorf zwei Jahre lang die Koranschule. Der Beschwerdeführer verfügt über keine spezielle Berufsausbildung, aber über Berufserfahrung, die er hier in Österreich erworben hat. Er arbeitete auch in der Landwirtschaft der Eltern. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder oder sonstige Sorgepflichten.

Die Familie des Beschwerdeführers besteht aus den Eltern, seiner Schwester und seinen zwei Brüdern. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern hat.

Der Beschwerdeführer reiste schlepperunterstützt von Kabul nach Iran. Dort war er acht Monate aufhältig und rieste dann schlepperunterstützt nach Europa. Der Beschwerdeführer reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 28.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitet als Lehrling. Das Lehrverhältnis endet am 31.01.2022.

2.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Es wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer in seinem Heimatland keiner konkreten individuellen Verfolgung durch den Taliban oder von sonstigen privaten Verfolgern aufgrund der unterstellten Zusammenarbeit mit der Regierung ausgesetzt war oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten hätte. Er wird von diesen auch nicht gesucht.

Der Vater des Beschwerdeführers wurde von den Taliban nicht bedroht. Dadurch ergibt sich auch keine Bedrohung seiner Person. Er hatte in Afghanistan keinen Kontakt zu den Taliban.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen.

Auch sonst haben sich keine Hinweise für eine dem Beschwerdeführer in Afghanistan individuell drohende Verfolgung ergeben.

2.3.    Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrolle nach Österreich ein und befindet sich seit seiner Antragstellung im Oktober 2015 auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet.

Er bezieht seit seiner Einreise bis zur Arbeitsaufnahme als Lehrling Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung. Der Beschwerdeführer ist zum Zeitpunkt der Entscheidung selbsterhaltungsfähig. Er befindet sich im dritten Lehrjahr in der Ausbildung als Restaurantfachmann. Er verdient ca 863.- Euro und bekommt zudem Unterstützung durch seine unterstützenden Familie XXXX . Er ist in Betrieb des Lehrberechtigten in Ranshofen wohnhaft und verbringt seine Freizeit mit der unterstützenden Familie XXXX . Er ist im Familienverband wie ein eigenes Kind integriert und beteiligt sich am Familienleben. Von der Lehrlingsentschädigung bezahlt er die Miete in der Höhe von ca. 365.- Euro.

Er ist gänzlich im Familienverband integriert und als „drittes“ nicht leibliches Kinder der Familie XXXX anzusehen. Er hat eine Beziehung zu den beiden - in etwa gleichaltrigen – Kinder der Familie, die so weit geht, als dass der etwa 18-jährige Sohn nach dem Abschluss der HTL und der Wahrnehmung seines ersten Arbeitsplatzes nicht am ersten Tag die Arbeit antrat, sondern dem BF begleitet sodass er der mündlichen Verhandlung vor dem Vwg beiwohnten konnte. Ein ebenso inniges Verhältnis ist auch zu der Tochter der Familie anzunehmen, reiste sie von Salzburg zur mündlichen Verhandlung an. Die vorgelegten Lichtbilder, die den BF im Verband der Familie zeigen, sowie die Aussage der Zeugin, welche offenbar der Dreh- und Angelpunkt der Inklusion des BF in die Familie ist, runden das Bild eines gänzlich integrierten Menschen in die Familie ab. Der BF ist seit ca 2015 bei dieser Familie integriert (sh dazu die Aussagen der Z.); man kann also von einer tragfähigen Beziehung von langer Dauer ausgehen.

Der Beschwerdeführer verfügt über gute Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1. Er hat am 29.02.2020 die Deutschprüfung auf dem Niveau B1 nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen aus den Inhalten zur Sprachkompetenz und aus den Werte- und Orientierungswissen bestanden. Es besteht eine Einstellungszusage des jetzigen Lehrberechtigten; dieser würde ihn im Falle eines positiven Bescheides über das Lehrverhältnis hinaus weiterhin anstellen.

Der Beschwerdeführer nimmt am sozialen und gesellschaftlichen Leben in Österreich aktiv und in umfangreicher Weise teil. Er betätigt sich in seiner Freiheit sportlich, besuchte Integrationskurse, ist in der evangelischen Pfarrgemeinde integriert (aber weiterhin Moslem), nimmt bei Ausflügen seiner unterstützenden Familie XXXX teil, ebenso ist er bei Familienfesten anwesend und nimmt auch an gemeinsamen Urlauben teil. Der Beschwerdeführer wird von seinen vielen Unterstützten als fleißig, zuverlässig, bemüht, bescheiden, umgänglich und freundlich beschrieben.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

2.4.    Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat

Dem Beschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Gahzni, aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Der Beschwerdeführer kann Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.

Der Beschwerdeführer ist jung, anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen. Er kann in der Landwirtschaft und im Gastgewerbe arbeiten.

Der Beschwerdeführer ist mit den kulturellen Gepflogenheiten und der Sprache seines Herkunftsstaates vertraut.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Herat oder Mazar-e Sharif kann der Beschwerdeführer grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Herat oder Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten.

Es ist dem Beschwerdeführer möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Als gesunder junger Mann, droht ihm auch keine Gefahr einer tödlichen Erkrankung im Falle einer Ansteckung durch das Corona-Virus.

2.5.    Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 13.11.2019, zuletzt aktualisiert am 21.07.2020 (LIB)

-        UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO),

-        Ecoi.net Themendossier zu Afghanistan: „Sicherheitslage und die soziökonomische Lage in Herat und in Mazar-e Scharif“ vom 26.05.2020 (ECOI Herat und Mazar-e Sharif)

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Mazar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Mazar-e Sharif)

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat)

-        Arbeitsübersetzung Landinfo Report „Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne“ vom 23.08.2017 (Landinfo 1)

-        Arbeitsübersetzung Landinfo Report „Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban“ vom 29.06.2017 (Landinfo 2)

-        ACCORD Afghanistan: Covid-19 (allgemeine Informationen; Lockdown-Maßnahmen; Proteste; Auswirkungen auf Gesundheitssystem, Versorgungslage, Lage von Frauen und RückkehrerInnen; Reaktionen der Taliban, Stigmatisierung) vom 05.06.2020 (ACCORD Covid-19)

2.5.1.  Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 1).

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen), andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (LIB, Kapitel 2).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 2)

2.5.2.  Regierungsfeindliche Gruppen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

2.5.2.1. Taliban

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte. Die Taliban setzen Aktivitäten, um das Bewusstsein der Bevölkerung um COVID-19 in den von diesen kontrollierten Landesteilen zu stärken. Sie verteilen Schutzhandschuhe, Masken und Broschüren, führen COVID-19 Tests durch und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen an (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4)

2.5.2.2. Rekrutierung durch die Taliban:

Menschen schließen sich den Taliban zum einen aus materiellen und wirtschaftlichen Gründen zum anderen aus kulturellen und religiösen Gründen an. Die Rekruten sind durch Armut, fehlende Chancen und die Tatsache, dass die Taliban relativ gute Löhne bieten, motiviert. Es spielt auch die Vorstellung, dass die Behörden und die internationale Gemeinschaft den Islam und die traditionellen Standards nicht respektieren würden, eine zentrale Rolle, wobei sich die Motive überschneiden. Bei Elitetruppen sind beide Parameter stark ausgeprägt. Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junger Männer, deren Motiv der Wunsch nach Rache, Heldentum gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen sind (Landinfo 2, Kapitel 4.1). Die Billigung der Taliban in der Bevölkerung ist nicht durch religiöse Radikalisierung bedingt, sondern Ausdruck der Unzufriedenheit über Korruption und Misswirtschaft (Landinfo 2, Kapitel 4.1.1).

Die Taliban sind aktiver als bisher bemüht Personen mit militärischem Hintergrund sowie mit militärischen Fertigkeiten zu rekrutieren. Die Taliban versuchen daher das Personal der afghanischen Sicherheitskräfte auf ihre Seite zu ziehen. Da ein Schwerpunkt auf militärisches Wissen und Erfahrungen gelegt wird, ist mit einem Anstieg des Durchschnittsalters zu rechnen Landinfo 2, Kapitel 3). Durch das Anwerben von Personen mit militärischem Hintergrund bzw. von Mitgliedern der Sicherheitskräfte erhalten Taliban Waffen, Uniformen und Wissen über die Sicherheitskräfte. Auch Personen die über Knowhow und Qualifikationen verfügen (z.B. Reparatur von Waffen), können von Interesse für die Taliban sein (Landinfo 2, Kapitel 5.1).

Die Mehrheit der Taliban sind Paschtunen. Die Rekrutierung aus anderen ethnischen Gruppen ist weniger üblich. Um eine breitere Außenwirkung zu bekommen, möchte die Talibanführung eine stärkere multiethnische Bewegung entwickeln. Die Zahl der mobilisierten Hazara ist unerheblich, nur wenige Kommandanten der Hazara sind mit Taliban verbündet. Es ist für die Taliban wichtig sich auf die Rekruten verlassen zu können (Landinfo 2, Kapitel 3.3).

Die Taliban waren mit ihrer Expansion noch nicht genötigt Zwangsmaßnahmen zur Rekrutierung anzuwenden. Zwangsrekrutierung ist noch kein herausragendes Merkmal für den Konflikt. Die Taliban bedienen sich nur sehr vereinzelt der Zwangsrekrutierung, indem sie männliche Dorfbewohner in von ihnen kontrollierten Gebieten, die mit der Sache nicht sympathisieren, zwingen, als Lastenträger zu dienen (Landinfo 2, Kapitel 5.1). Die Taliban betreiben eine Zwangsrekrutierung nicht automatisch. Personen die sich gegen die Rekrutierung wehren, werden keine rechtsverletzenden Sanktionen angedroht. Eine auf Zwang beruhende Mobilisierungspraxis steht auch den im Pashtunwali (Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen) enthaltenen fundamentalen Werten von Familie, Freiheit und Gleichheit entgegen. Es kommt nur in Ausnahmefällen und nur in sehr beschränktem Ausmaß zu unmittelbaren Zwangsrekrutierungen durch die Taliban. Die Taliban haben ausreichend Zugriff zu freiwilligen Rekruten. Zudem ist es schwierig einen Afghanen zu zwingen, gegen seinen Willen gegen jemanden oder etwas zu kämpfen (Landinfo 2, Kapitel 5.1).

Im Kontext Afghanistans verläuft die Grenze zwischen Jungen und Mann fließend. Ausschlaggebend für diese Beurteilung sind Faktoren wie Pubertät, Bartwuchs, Mut, Unabhängigkeit, Stärke und die Fähigkeit die erweiterte Familie zu repräsentieren. Der Familienälteste ist das Oberhaupt, absolute Loyalität gegenüber getroffenen Entscheidungen wird vorausgesetzt. Kinder unterstehen der Obrigkeit der erweiterten Familie. Es stünde im Widerspruch mit der afghanischen Kultur, würde man Kinder gegen den Wunsch der Familie und ohne entsprechende Entscheidung des Familienverbandes aus dem Familienverband „herauslösen“ (Landinfo 2, Kapitel 6).

2.5.3.  Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2018 lediglich Platz 168 von 189 des Human Development Index. Die Armutsrate hat sich laut Weltbank von 38% (2011) auf 55% (2016) verschlechtert. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 21).

Schätzungen zufolge sind 44% der Bevölkerung unter 15 Jahren und 54% zwischen 15 und 64 Jahren alt. Am Arbeitsmarkt müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können. In Anbetracht von fehlendem Wirtschaftswachstum und eingeschränktem Budget für öffentliche Ausgaben, stellt dies eine gewaltige Herausforderung dar. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos – Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Schätzungen zufolge sind 877.000 Jugendliche arbeitslos; zwei Drittel von ihnen sind junge Männer (ca. 500.000) (LIB, Kapitel 21).

Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht (LIB, Kapitel 21).

Fähigkeiten, die sich Rückkehrer/innen im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Eine Quelle betont jedoch die Wichtigkeit von Netzwerken, ohne die es nicht möglich sei, einen Job zu finden. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang – als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft (LIB, Kapitel 21).

Neben einer mangelnden Arbeitsplatzqualität ist auch die große Anzahl an Personen im wirtschaftlich abhängigen Alter (insbes. Kinder) ein wesentlicher: Die Notwendigkeit, das Einkommen von Erwerbstätigen mit einer großen Anzahl von Haushaltsmitgliedern zu teilen, führt oft dazu, dass die Armutsgrenze unterschritten wird, selbst wenn Arbeitsplätze eine angemessene Bezahlung bieten würden. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind (LIB, Kapitel 21).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Nach einer Zeit mit begrenzten Bankdienstleistungen, entstehen im Finanzsektor in Afghanistan schnell mehr und mehr kommerzielle Banken und Leistungen. Die kommerziellen Angebote der Zentralbank gehen mit steigender Kapazität des Finanzsektors zurück. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Die Bank wird dabei nach folgendem fragen: Ausweisdokument (Tazkira), 2 Passfotos und 1.000 bis 5.000 AFN als Mindestkapital für das Bankkonto. Bis heute sind mehr als ein Dutzend Banken im Land aktiv: unter anderem die Afghanistan International Bank, Azizi Bank, Arian Bank, oder The First Microfinance Bank, Ghazanfar Bank, Maiwand Bank, Bakhtar Bank. Über Jahrhunderte hat sich eine Form des Geldaustausches entwickelt, welche Hawala genannt wird. Dieses System, welches auf gegenseitigem Vertrauen basiert, funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich. Hawala wird von den unterschiedlichsten Kundengruppen in Anspruch genommen: Gastarbeiter, die ihren Lohn in die Heimat transferieren wollen, große Unternehmen und Hilfsorganisationen bzw. NGOs, aber auch Terrororganisationen (LIB, Kapitel 21).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von "Teehäusern", die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. "Teehäuser" werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

2.5.4.  Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

2.5.5.  Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 bis 42% Pashtunen, rund 27 bis 30% Tadschiken, ca. 9 bis 10% Hazara, ca. 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (LIB, Kapitel 16).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen. Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag besteht fort und wird nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Kapitel 16).

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments – jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in ANA und der ANP repräsentiert (LIB, Kapitel 16.1).

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden, und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (LIB, Kapitel 16.1).

2.5.6.  Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Außerdem wurde Afghanistan für den Zeitraum 2018-2020 erstmals zum Mitglied des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen gewählt. Die Menschenrechte haben in Afghanistan eine klare gesetzliche Grundlage. Die 2004 verabschiedete afghanische Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog. Darüber hinaus hat Afghanistan die meisten der einschlägigen völkerrechtlichen Verträge – zum Teil mit Vorbehalten – unterzeichnet und/oder ratifiziert. Die afghanische Regierung ist jedoch nicht in der Lage, die Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten. Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken in Anliegen von Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen den Zugang der Bürger zu Justiz ein. In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

2.5.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 18).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden. In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Die großen COVID-19 bedingten Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wiederaufgenommen. Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich. Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

2.5.7.  Provinzen und Städte

2.5.7.1. Herkunftsprovinz Ghazni

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Provinz Ghazni liegt im Südosten Afghanistans und grenzt an die Provinzen Bamyan und Wardak im Norden, Logar, Paktya und Paktika im Osten, Zabul im Süden und Uruzgan und Daykundi im Westen. Ghazni liegt an keiner internationalen Grenze (UNOCHA 4.2014). Die Provinz ist in 19 Distrikte unterteilt: die Provinzhauptstadt Ghazni-Stadt sowie den Distrikte Ab Band, Ajristan, Andar (auch Shelgar genannt (AAN 22.5.2018)), De Hyak, Gelan, Giro, Jaghatu, Jaghuri, Khwaja Omari, Malistan, Muqur, Nawa, Nawur, Qara Bagh, Rashidan, Waghaz, Wali Muhammad Shahid (Khugyani) und Zanakhan (CSO 2019). Nach Schätzungen der CSO für den Zeitraum 2019-20 leben 1.338.597 Menschen in Ghazni (CSO 2019). Die Provinz wird von Paschtunen, Tadschiken und Hazara sowie von mehreren kleineren Gruppen wie Bayats, Sadats und Sikhs bewohnt (PAJ o.D.). Fast die Hälfte der Bevölkerung von Ghazni sind Paschtunen, etwas weniger als die Hälfte sind Hazara und rund 5% sind Tadschiken (NPS o.D.).

Die Stadt Ghazni liegt an der Ring Road, welche die Hauptstadt Kabul mit dem großen Ballungszentrum Kandahar im Süden verbindet und auch die Straße zu Paktikas Hauptstadt Sharan zweigt in der Stadt Ghazni von der Ring Road ab, die Straße nach Paktyas Hauptstadt Gardez dagegen etwas nördlich der Stadt. Die Kontrolle über Ghazni ist daher von strategischer Bedeutung (CJ 13.8.2018). Einem Bericht vom Dezember 2018 zufolge steht die Ghazni-Paktika-Autobahn unter Taliban-Kontrolle und ist für Zivil- und Regierungsfahrzeuge gesperrt, wobei die Aufständischen weiterhin Druck auf die Kabul-Kandahar-Autobahn ausüben (AAN 30.12.2018), bzw. Straßenkontrollen durchführen (PAJ 31.1.2019). Im Mai 2019 war die Ghazni-Paktika-Autobahn seit einem Jahr geschlossen (PAJ 13.5.2019a). Auch die Ghazni-Paktia-Autobahn war Anfang März 2019 trotz einer 20-tägigen Militäroperation (PAJ 27.2.2019) gegen die Taliban immer noch gesperrt (BAMF 4.3.2019; vgl. PAJ 27.2.2019). Im Mai 2019 führten die Regierungskräfte an den Rändern von Ghazni-Stadt Räumungsoperationen zur Befreiung der Verkehrswege durch (KP 16.5.2019). Die Kontrolle über die Straße nach Gardez, der Provinzhauptstadt von Paktia ist bedeutsam für die Verteidigung von Ghazni, da sich die Militärbasis des für die Provinz zuständigen Corps dort befindet (AAN 25.7.2018).

Gemäß dem UNODC Opium Survey 2018 gehörte Ghazni 2018 nicht zu den zehn wichtigsten schlafmohnanbauenden Provinzen Afghanistans. Während die Provinz zwischen 2013 und 2016 schlafmohnfrei war, wurden 2017 etwa 1.000 Hektar angebaut. Im Jahr 2018 nahm die Anbaufläche um 64% ab. Der größte Teil von Ghazni's Schlafmohn wurde 2018 im volatilen Distrikt Ajristan angebaut (UNODC/MCN 11.2018).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Ghazni gehörte im Mai 2019 zu den relativ volatilen Provinzen im Südosten Afghanistans. Taliban-Kämpfer sind in einigen der unruhigen Distrikte der Provinz aktiv, wo sie oft versuchen, terroristische Aktivitäten gegen die Regierung und Sicherheitseinrichtungen durchzuführen. Gleichzeitig führen die Regierungskräfte regelmäßig Operationen in Ghazni durch, um die Aufständischen aus der Provinz zu vertreiben (KP 27.5.2019).

Aufgrund der Präsenz von Taliban-Aufständischen in manchen Regionen der Provinz, gilt Ghazni als relativ unruhig (XI 22.9.2019), so standen beispielsweise Ende 2018, einem Bericht zufolge, acht Distrikte der Provinz unter Kontrolle der Taliban gestanden haben, fünf weitere Distrikte waren stark umkämpft (AAN 30.12.2018). Im Jänner 2019 wurde berichtet, dass die administrativen Angelegenheiten der Distrikte Andar, Deh Yak, Zanakhan, Khwaja Omari, Rashidan, Jaghatu, Waghaz und Khugyani aufgrund der Sicherheitslage bzw. Präsenz der Taliban nach Ghazni-Stadt oder in die Nähe der Provinzhauptstadt verlegt wurden. Aufgrund der Sicherheitslage sei es für die Bewohner schwierig, zu den neuen administrativen Zentren zu gelangen (PAJ 27.1.2019). Dem Verteidigungsminister zufolge, sind in der Provinz mehr Taliban und Al-Qaida-Kämpfer aktiv, als in anderen Provinzen. Dem Innenminister zufolge, hat sich die Sicherheitslage in der Provinz verschlechtert und die Taliban erlitten bei jüngsten Zusammenstößen schwere Verluste (PAJ 19.4.2019).

In Ergänzung zur Afghan National Police (ANP), der Afghan Local Police (ALP) und der paramilitärischen Kräfte des National Directorate of Security (NDS) entsteht im Distrikt Jaghuri im Rahmen eines Pilotprojekts eine neu eingerichtete Afghan National Army Territorial Force (ANA TF). Diese lokale Einheit soll die Bevölkerung schützen und Territorium halten, ohne von lokalen Machthabern oder Gruppeninteressen vereinnahmt zu werden (AAN 15.1.2019). Während des Angriffs auf Ghazni-Stadt im August 2018 wurden die afghanischen Regierungskräfte von US-amerikanischen Streitkräften unterstützt – laut einer Quelle nicht nur durch Luftangriffe, sondern auch von US-Spezialeinheiten am Boden (TM 23.8.2018). Ghazni liegt im Verantwortungsbereich des 203. ANA Tandar Corps (USDOD 6.2019; vgl. AAN 25.7.2018) das der Task Force Southeast untersteht, die von US-amerikanischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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