TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/2 W245 2172177-1

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Veröffentlicht am 02.12.2020
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Entscheidungsdatum

02.12.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch


W245 2172177-1/29E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Bernhard SCHILDBERGER, LL.M. als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch KOCHER & BUCHER Rechtsanwälte OG, Friedrichgasse 31, 8010 Graz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, vom 07.09.2017, Zahl: XXXX , betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

II.     Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX wird gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres erteilt.

IV.      In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

I.1.    Der zum damaligen Zeitpunkt minderjährige Beschwerdeführer XXXX (in der Folge kurz „BF“), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz.

I.2.    Im Rahmen der am 01.12.2015 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, dass er – im Iran – ca. zwei Wochen vor seiner Flucht auf einer Baustelle gearbeitet habe. Sein Bauherr sei ein einflussreicher Militärangehöriger gewesen. Der BF habe im Aufzugsschacht gearbeitet. Der BF habe sieben Monate gearbeitet und keinen Lohn erhalten. Der Auftraggeber habe sich eines Tages im Aufzugsschacht aufgehalten, da er selbst etwas nach oben habe transportieren wollen. Das Seil sei gerissen und der Auftraggeber sei schwer verletzt worden. Der BF sei zum Zeitpunkt des Unfalles im dritten Stock gewesen. Der schwerverletzte Auftraggeber sei ins Spital gebracht worden. Drei Tage später habe der Sohn des Auftraggebers, der ebenso Soldat gewesen sei, dem BF unterstellt, dass er das Seil durchgeschnitten und seinen Vater verletzt habe, weil der BF keinen Lohn (Geld) bekommen habe. Der Sohn des Auftraggebers habe den BF damit gedroht, ihn einsperren zu lassen. Der BF habe Angst gehabt, dass der Sohn des Auftraggebers ihn nach langjähriger Haft nach Afghanistan abschieben werde. Bei einer Rückkehr habe er Angst, dass er in Haft komme und danach nach Afghanistan abgeschoben werde, wo Krieg herrsche. Mit afghanischen Behörden habe der BF kein Problem, da er noch nie in Afghanistan gewesen sei.

I.3.    Bei der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge „belangte Behörde“, auch „bB“) am 20.07.2017 gab der nunmehr volljährige BF an, dass seine Familie aufgrund des Krieges Afghanistan verlassen habe und in den Iran gegangen sei. Abgesehen vom Krieg habe die Familie wirtschaftliche Probleme in Afghanistan gehabt.

Im Iran habe der BF auf dem Bau gearbeitet. Der Bauherr sei ein Mitglied der XXXX gewesen. Es habe einen Arbeitsunfall gegeben. Ein Mann sei vom siebten Stock in den Liftschacht gestützt. Dieser Mann sei zwar nicht gestorben, aber er sei seither gelähmt. Der Bauherr habe behauptet, dass der BF Schuld an diesem Unfall habe. Deshalb habe der Bauherr dem BF keinen Lohn bezahlt. Der Sohn des Bauherrn sei Polizist gewesen und habe am Flughafen gearbeitet. Der Sohn habe den BF bei der Polizei angezeigt. Dies sei der Grund, warum der BF den Iran verlassen habe.

Weiters habe er im Iran nicht musizieren können. Der BF sei Sänger. Er hätte gerne einen Videoclip gemacht, bei dem ein paar Frauen dabei seien. Dies dürfe er im Iran nicht machen. Er habe aber trotzdem zwei Videoclips gemacht, allerdings ohne Frauen. Diese Clips habe er an den Satellitensender namens „ XXXX “ geschickt. Sie seien auch im Jahr 2013 ausgestrahlt worden. Diese Videoclips haben von Einwanderern im Iran gehandelt.

Zudem habe er im Iran angesucht, ein Konzert abhalten zu dürfen. Jedoch habe der BF dafür im Iran keine Genehmigung erhalten, weil er Afghane sei. Auch habe er sich im Iran illegal aufgehalten.

Bei einer Rückkehr in den Iran drohe dem BF in erster Linie wegen seiner Aussprache – er spreche nicht Dari, sondern Farsi – unmenschliche Behandlung oder die Todesstrafe. Zudem werde er bei einer Rückkehr seitens der afghanischen Regierung umgebracht, weil er ein Angehöriger der Volksgruppe der Hazara sei.

I.4.    Mit dem angefochtenen Bescheid vom 07.09.2017 wies die bB den Antrag des BF auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkt I. und II.). Es wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

I.5.    Mit Verfahrensanordnung vom 11.09.2017 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung und Diakonie, als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 11.09.2017 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.

I.6.    Gegen den Bescheid der bB richtete sich die am 25.09.2017 fristgerecht erhobene Beschwerde.

I.7.    Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 02.10.2017 von der bB vorgelegt.

I.8.    Mit Ladung zur Beschwerdeverhandlung wurden dem BF das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, sowie weitere Länderberichte im Rahmen des Parteiengehörs zur Kenntnis gebracht. Dazu langte bis zur Beschwerdeverhandlung keine Stellungnahme ein.

I.9.    Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 28.02.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF im Beisein seines bevollmächtigten Vertreters persönlich teilnahm. Ein Vertreter der bB nahm an der Verhandlung nicht teil.

I.10.   Am 02.03.2018 übermittelte der BF im Wege seiner Vertretung eine Stellungnahme.

I.11.   Mit Ladung zur Beschwerdeverhandlung wurden dem BF das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, sowie weitere Länderberichte im Rahmen des Parteiengehörs zur Kenntnis gebracht. Dazu langte bis zur Beschwerdeverhandlung keine Stellungnahme ein.

I.12.   Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 22.08.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF im Beisein seines bevollmächtigten Vertreters persönlich teilnahm. Ein Vertreter der bB nahm an der Verhandlung nicht teil.

I.13.   Mit Schreiben vom 03.12.2019 wurde dem BF ergänzendes und aktualisiertes Länderberichtsmaterial mit der Möglichkeit übermittelt, innerhalb einer Frist von einer Woche dazu Stellung zu nehmen. Innerhalb dieser Frist langte beim BVwG eine Stellungnahme ein.

I.14.   Am 02.09.2020 gab Kocher & Bucher Rechtsanwälte OG eine Vertretungsvollmacht bekannt. Gleichzeitig wurde ein Fristsetzungsantrag gemäß § 38 Abs 2 Z 3 VwGVG gestellt.

I.15.   Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 16.10.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF im Beisein seines bevollmächtigten Vertreters persönlich teilnahm. Ein Vertreter der bB nahm an der Verhandlung nicht teil.

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1.   Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.

II.1.1. Zum sozialen Hintergrund des BF:

Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Die Muttersprache des BF ist Dari. Er ist im erwerbsfähigen Alter und der BF leidet an keiner ernsthaften Krankheit. Der BF reagiert allergisch auf Nahrungsmittel (Gemüse).

Der BF ist Angehöriger der schiitischen Glaubensrichtung. Der BF ist wenig religiös interessiert.

Der BF wurde nach seinen Angaben in Teheran, im Iran geboren. Er hat bis zu seiner Ausreise in Teheran gelebt.

Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Die Familie des BF, bestehend aus seinen Eltern, einem Bruder und einer Schwester, lebt in Teheran. Die Familie im Iran wird durch den Vater versorgt; er ist im Baustellenbereich tätig. Die wirtschaftliche Situation der Familienangehörigen ist sehr schlecht. Die Familie des BF verfügt in Afghanistan bzw. im Iran über kein Vermögen. Der BF hat Kontakt zu seiner Familie im Iran.

Eine Herkunftsprovinz des BF kann nicht festgestellt werden.

Der BF besuchte zumindest fünf Jahre lang eine Schule im Iran. Zudem hat er acht Monate ein Musikkonservatorium im Iran besucht. Mit 14 Jahren begann der BF, als Bauarbeiter zu arbeiten. Der BF führte Maurerarbeiten und Fliesenlegerarbeiten durch, wurde jedoch für diese Tätigkeiten nicht spezifisch ausgebildet. Durch diese Arbeit war der BF im Iran in der Lage, sich selbst zu versorgen. Der BF verfügt über kein Vermögen im Iran oder in Afghanistan.

Der BF trägt ein Tattoo an der linken Schulter mit der Aufschrift „ XXXX “.

Der BF ist strafgerichtlich unbescholten. Nach seinen eigenen Angaben ist er in seinem Herkunftsstaat nicht vorbestraft und hatte keine Probleme mit Behörden und war politisch nicht aktiv.

Der BF hat den Iran im August 2015 verlassen.

II.1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründet der BF im Wesentlichen damit, dass er im Iran auf einer Baustelle einen Unfall des Auftraggebers verursacht habe. Dieses Vorbringen konnte der BF jedoch nicht glaubhaft machen, da es sich bei Gesamtbetrachtung sämtlicher im Verlauf des Verfahrens getätigten Angaben in entscheidenden Punkten als widersprüchlich sowie als nicht schlüssig und nicht plausibel erwiesen hat.

Dem BF droht bzw. drohte nicht wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara oder zur schiitischen Glaubensrichtung konkrete und individuelle bzw. droht nicht jedem Angehörigen der Volksgruppe der Hazara oder der schiitischen Glaubensrichtung physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan.

Der BF ist auf Grund seiner Tätowierung bzw. seinen kleinen Ohrlöchern in Afghanistan keiner psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt und er hat insbesondere im Falle einer Rückkehr eine solche nicht befürchten.

Der BF ist aufgrund seiner geschaffenen und öffentlichen Musikwerke sowie seiner musikalischen Aktivitäten in Österreich keiner konkreten Bedrohung bzw. Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt ist und er hat insbesondere im Falle einer Rückkehr eine solche nicht befürchten.

Es ist nicht glaubhaft, dass der BF im Iran an einem Lied von XXXX mitgewirkt hat und deshalb (mittelbar) bedroht oder verfolgt worden ist.

Der BF ist wegen seines Aufenthaltes im Iran keiner psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt und er hat insbesondere im Falle einer Rückkehr eine solche nicht befürchten.

Der BF ist wegen seiner Aussprache keiner psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt und er hat insbesondere im Falle einer Rückkehr eine solche nicht befürchten.

Es wird festgestellt, dass der BF wegen der Flucht bzw. Ausreise seiner Familie aus Afghanistan keiner Bedrohung bzw. Verfolgung ausgesetzt ist. Auch hat er dies bei einer Rückkehr nicht zu befürchten.

Es wird festgestellt, dass der BF wegen eines in Österreich aufgenommenen Videos keiner Bedrohung bzw. Verfolgung ausgesetzt ist. Auch hat er dies bei einer Rückkehr nicht zu befürchten.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF eine „westliche Lebenseinstellung“ in solcher Weise übernommen hätte, dass ihm deshalb physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan droht.

Der BF konnte weder ein Schlüsselerlebnis noch seine Motivation für den Glaubenswechsel bzw. für die Hinwendung zum Christentum schlüssig darlegen.

Der BF verfügt über kein grundlegendes christliches Wissen.

Der BF konnte eine mit dem Religionswechsel einhergehende Verhaltens- bzw. Einstellungsänderung nicht darstellen.

Die vorgebrachte christliche Glaubensüberzeugung ist aktuell nicht derart ernsthaft, dass sie Bestandteil der Identitäten des BF wurde.

Die Hinwendung des BF zum Christentum erweist sich als eine Scheinkonversion. Der BF wird im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan sich nicht privat oder öffentlich zum christlichen Glauben bekennen noch weiterhin ausüben.

Auch ist im Verfahren nicht hervorgekommen, dass der BF Verwandten oder sonstigen Personen in Afghanistan mitgeteilt hat, dass er zum Christentum konvertiert ist.

Der BF teilte Verwandten oder sonstigen Personen in Afghanistan nicht mit, dass er keinen religiösen Glauben mehr ausübt.

Festgestellt wird, dass aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan eine konkrete Bedrohung bzw. Verfolgung des BF nicht abgeleitet werden kann.

Insgesamt ist bzw. war der BF in Afghanistan keiner konkreten Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt und er hat insbesondere im Falle einer Rückkehr eine solche nicht befürchten.

II.1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:

Der BF ist im Iran geboren und aufgewachsen. Er verfügt daher in Afghanistan über keine Herkunftsprovinz, in die er zurückkehren könnte.

Dem BF ist auch eine Neuansiedlung in Afghanistan, etwa in den Städten Mazar-e Sharif, Herat oder Kabul, aufgrund seiner individuellen Umstände in Verbindung mit der aktuell wegen der COVID-19-Pandemie angespannten Beschäftigungs-, Wohn- und Versorgungsituation derzeit nicht zumutbar.

Der BF verbrachte sein gesamtes Leben bis zur Ausreise 2015 im Iran, er war noch nie in Afghanistan. Er verfügt in Afghanistan über keine ihm bekannten Angehörigen oder sonstige Kontakte und somit kein familiäres oder soziales Netzwerk, mit dessen Unterstützung er sich eine Existenzgrundlage aufbauen könnte. Der BF hat insbesondere auch in den Städten Mazar-e Sharif, Herat und Kabul keinerlei Kontakte. Er wäre als Hazara und schiitischer Muslim sowie aufgrund seiner iranischer Sprachfärbung in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Diskriminierungen ausgesetzt. Zudem besteht die maßgebliche Wahrscheinlichkeit, dass der BF wegen seiner Tätowierung und seines westlichen Lebensstils Diskriminierungen ausgesetzt ist. Auch werden Flüchtlinge der zweiten Generation (wie der BF) von Afghanen als ‚verwöhnt', ‚Nichtstuer' oder ‚nicht afghanisch' betrachtet.

Der BF ist ein junger, weitgehend gesunder und arbeitsfähiger Mann. Er verfügt über grundlegende Schulbildung und hat auch im Iran als Bauarbeiter gearbeitet. Er verfügt jedoch über keine spezifische Berufsausbildung. Der BF reagiert allergisch auf Nahrungsmittel (Gemüse). Der BF kann aufgrund seiner Allergie Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gebiet der Erzeugung, Lagerung, Transport, Verkauf und/oder Verarbeitung von Nahrungsmittel (Gemüse) nur eingeschränkt nützen.

Der BF wäre daher bei einer Neuansiedlung in einer der genannten afghanischen Städte zur Sicherung seines Lebensunterhaltes jedenfalls auf Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten angewiesen. Diese stehen aber aufgrund der in Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie verhängten Ausgangsbeschränkungen in den Großstädten derzeit nur in sehr eingeschränktem Ausmaß zur Verfügung. Die ohnehin schwierige Situation am Arbeitsmarkt wird durch die große Zahl von Rückkehrern aus dem Iran und Pakistan, die sich vor allem in den Großstädten ansiedeln, weiter verschärft. Die Allergie des BF schränkt seine Arbeitsmöglichkeiten in den Städten Mazar-e Sharif, Herat und Kabul massiv ein.

Dasselbe gilt für die Unterkunftssituation, überdies sind Teehäuser und Hotels aufgrund der COVID-19-Maßnahmen derzeit geschlossen. Auch die Nahrungsmittelpreise sind in den letzten Monaten massiv gestiegen. Es wäre dem eher geringqualifizierten BF, der noch nie in Afghanistan gelebt hat und dort niemanden kennt, als Hazara, Schiit und aufgrund seines iranischen Akzents Diskriminierungen ausgesetzt wäre, daher in der aktuellen Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht möglich, eine Arbeit und eine günstige Unterkunft zu finden. Ferner hat der BF Diskriminierungen wegen seiner Tätowierung bzw. wegen seines westlichen Lebensstils zu befürchten. Er wäre, um für seinen Lebensunterhalt sorgen zu können, in besonderer Weise auf Unterstützung angewiesen, die ihm aber, wie bereits ausgeführt, nicht zur Verfügung steht.

Die beim BF vorgenommene Einzelfallprüfung ergibt, dass aufgrund der oben dargelegten individuellen und allgemeinen Umstände nicht davon ausgegangen werden kann, dass es ihm aktuell möglich wäre, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten in Afghanistan bei einer Neuansiedlung in den Städten Mazar-e Sharif, Herat oder Kabul dort Fuß zu fassen und ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedlung liefe der BF vielmehr Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

II.1.4. Zum Leben des BF in Österreich:

Der BF hält sich seit 01. Dezember 2015 in Österreich auf.

Der BF hat keine Familienangehörigen in Österreich. Beim BF finden sich keine besonderen Merkmale der Abhängigkeit zu seinen Familienangehörigen in Österreich. Insbesondere sind im Verfahren keine besonderen Umstände hervorgekommen, dass der BF auf die Unterstützung bzw. Hilfe seiner Familienangehörigen in Österreich angewiesen ist.

Der BF pflegt in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und Afghanen. Es bestehen keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens (wie z.B. Beziehungen, Lebensgemeinschaften). Der BF ist kein Mitglied von politischen Parteien und war auch sonst nicht politisch aktiv. Neben den erwähnten Freundschaften, ist der BF kein Mitglied von Vereinen. In seiner Freizeit geht der BF ins Fitnesscenter und beschäftigt sich mit Musik.

Der BF besucht zwischenzeitlich Deutschkurse und weist dies durch Teilnahmebestätigungen nach. Er ist in der Lage, in einfachen Situationen des Alltagslebens auf elementarer Basis auf Deutsch zu kommunizieren.

Da der BF keine Arbeitserlaubnis hat, war er bisher in Österreich nicht erwerbstätig. Der BF lebt von der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Der BF übte acht Monate eine Lehre als Koch aus. Er konnte die Lehre aufgrund einer Nahrungsmittelallergie nicht fortsetzen.

II.1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

II.1.5.1. Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel 4).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).

II.1.5.1.1. Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB Kapitel 1).

Dieser Konflikt in Afghanistan kann nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Kapitel 2).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 1).

Die Verhandlungen mit den Taliban stocken auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind. In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (LIB, Kapitel 1).

II.1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).

Einer Prognose der Weltbank vom Juli 2020 zufolge wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Afghanistans im Jahr 2020 als Folge der COVID-19-Maßnahmen zwischen 5,5 und 7,4 % schrumpfen, was die Armut verschlimmern und zu einem starken Rückgang der Staatseinnahmen führen werde. Schon 2019 ist das absolute BIP trotz Bevölkerungswachstums das zweite Jahr in Folge gesunken. Seit 2013 ist auch das Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf stark zurückgegangen, von rund 660 auf 540 US-Dollar im Jahr 2019 (EASO August 2020, Kapitel 2.1.1.).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).

Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5 % der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80 % der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5 % erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Einer Schätzung der Weltbank zufolge wird der Anteil der unter der Armutsgrenze lebenden Afghanen infolge der COVID-19-Maßnahmen im Jahr 2020 auf 61 bis 72 % steigen, dies aufgrund sinkender Einkommen und steigender Preise für Nahrungsmittel und andere Haushaltswaren (EASO 2020, Kapitel 2.3.1.).

Aufgrund der COVID-19-Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z. B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Ebenfalls infolge der COVID-19-Maßnahmen, insbesondere aufgrund von Grenzschließungen und Exporteinschränkungen, kam es ab März 2020 zu einem starken Anstieg der Nahrungsmittelpreise. So ist etwa der Preis für Weizenmehl in ganz Afghanistan gestiegen. Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) geht davon aus, dass viele Haushalte aufgrund reduzierter Kaufkraft nicht in der Lage sein werden, ihren Ernährungs- und essentiellen Nicht-Ernährungs-Bedürfnissen nachzukommen. UNOCHA zufolge hat sich der Ernährungszustand von Kindern unter fünf Jahren in den meisten Teilen Afghanistans verschlechtert, wobei in 25 der 34 Provinzen Notfalllevels an akuter Unterernährung erreicht würden (EASO August 2020, Kapitel 2.4.1.).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge lebt 52 % der Bevölkerung in Armut, während 45 % in Ernährungsunsicherheit lebt. Dem Lockdown Folge zu leisten, „social distancing“ zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (LIB, Kurzinformation 29.06.2020). Einem FEWS-Bericht zur Ernährungssicherheit von April 2020 sind Haushalte in Kabul, Herat, Mazar-e Sharif und anderen großen Städten sowie jene, die von kleinen Geschäften oder Gewerben, Überweisungen, nicht-landwirtschaftlicher Lohnarbeit und geringbezahlten Jobs abhängig sind, am schlimmsten vom eingeschränkten Zugang zu Beschäftigung und den gestiegenen Nahrungsmittelpreisen betroffen (EASO August 2020, Kapitel 2.4.1.).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen:

In Kabul hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein „Solidaritätsprogramm“ entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei welchem bedürftigen Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden. In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes. Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern. Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 20).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6 % der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72 %, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86 % der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte normalerweise die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.). Derzeit sind die meisten Teehäuser, Hotels und ähnliche Orte aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (LIB, Kurzinformation 21.07.2020).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

II.1.5.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO, Kapitel Common Analysis: Afghanistan, V). Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge gab es 2018 3.135 funktionierende Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei rund 87 % der Bevölkerung eine solche innerhalb von zwei Stunden erreichen könnten. Laut WHO gab es 2018 134 Krankenhäuser, 26 davon in Kabul (EASO August 2020, Kapitel 2.6.1.).

90 % der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel 21).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar (LIB, Kapitel 21.1).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil. Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei. Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung. Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung. 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten. Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).

Berichten zufolge haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt, mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Aufgrund der COVID-19-Pandemie wurden einige medizinische Leistungen, wie routinemäßige Impfungen, das Polio-Programm, Schwangerschaftsuntersuchungen und psychische und psychosoziale Behandlungen, entweder eingestellt oder zumindest reduziert (EASO August 2020, Kapitel 2.6.2.).

II.1.5.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9-10% der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen oder politischen Stammesstrukturen (LIB, Kapitel 16.3).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB Kapitel 16.3).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, dies steht im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – halten an (LIB, Kapitel 16.3).

II.1.5.5. Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).

II.1.5.5.1. Schiiten

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 - 19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten). 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen (LIB, Kapitel 15.1).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 15.1).

II.1.5.5.2. Christen - Konvertiten:

Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht. Es gibt keine Berichte über die Verhängung der Todesstrafe aufgrund von Apostasie oder der Strafverfolgung bei Blasphemie. Gefahr bis hin zur Ermordung droht Konvertiten hingegen oft aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld. Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden. Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, sind Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (LIB 13.11.2109, S. 285f). Es gibt viele Personen die freitags nicht beten oder während des Ramadans nicht fasten. Dies ist eine heiklere Angelegenheit in den ländlichen Gebieten, als in den städtischen Gebieten. Für das Nichtbeten des Freitagsgebetes werden solche Personen nicht bestraft und von den staatlichen Behörden nicht angewiesen, dies zu tun. Für das Nichtfasten während des Ramadans würden staatliche Behörden bzw. die Gesellschaft dem Nichtfastenden-des-Ramadan anraten und anweisen den Ramadan einzuhalten. Die Gesellschaft behandelt dies als kleine Vergehen (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Christen, Konvertiten, Abtrünnige in Afghanistan, 12.07.2017, S. 5f). Für gebürtige Muslime ist ein Leben in der afghanischen Gesellschaft möglich, ohne, dass sie den Islam praktizieren würden und auch dann, wenn sie Apostaten oder Konvertiten sind. Solche Personen sind dann in Sicherheit, wenn diese Stillschweigen bewahren. Es kann zu einer Gefährdung kommen, wenn öffentlich bekannt wird, dass diese aufgehört haben an den Islam zu glauben (Anfragebeantwortung von ACCORD zur Situation von Apostaten, christlichen Konvertiten, Personen, die Kritik am Islam äußern, 01.06.2017, Seite 7). Apostasie und Blasphemie stellen Kapitalverbrechen dar, bei denen Todesstrafe droht. In beiden Fällen haben die Betroffenen vor Gericht drei Tage Zeit um ihre „Tat“ zu widerrufen (Anfragebeantwortung von ACCORD zur Situation von Apostaten, christlichen Konvertiten, Personen, die Kritik am Islam äußern, 01.06.2017, Seite. 14).

II.1.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 10).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

II.1.5.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel 19).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z. B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden. In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Die großen COVID-19-bedingten Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen. Afghanistan hat mit 24.06.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish-Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wiederaufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird. Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.06.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wiederaufgenommen. Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wiederaufgenommen. Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich. Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (LIB, Kurzinformation 29.06.2020).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 18.1).

II.1.5.8. Relevante Provinzen und Städte

II.1.5.8.1. Provinz Balkh bzw. Stadt Mazar-e Sharif

Balkh liegt im Norden Afghanistans. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. In der Provinz Balkh leben 1.475.649 Personen, davon geschätzte 469.247 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif. (LIB, Kapitel 2.5).

Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Afghanistans. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Im Jahr 2019 gab es 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen. (LIB, Kapitel 2.5).

Die Hauptstadt der Provinz Balkh ist Mazar-e Sharif. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden, da sie den Antragsteller in risikoreichere Situationen bringen könnten (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 2.5).

Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In der Stadt Mazar-e Sharif gab bzw. gibt es aufgrund der Corona-Pandemie Ausgangssperren. Durch diese Ausgangssperren sind insbesondere Taglöhner, welche auf ihre tägliche Arbeit und ihren täglichen Lohn angewiesen sind, und Familien, welche nicht auf landwirtschaftliche Einkünfte zugreifen können, besonders betroffen (ACCORD Masar-e Sharif).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Derzeit sind die meisten Teehäuser, Hotels und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (LIB, Kurzinformation 21.07.2020).

Die in der Stadt Mazar-e Sharif und Umgebung befindlichen Orte, an denen die Mehrheit der IDPs und RückkehrerInnen letztlich unterkommen, teilt UNHCR in drei Kategorien ein: Die erste Kategorie ist das Stadtzentrum, wo die Lebenshaltungskosten vergleichsweise hoch sind. In der zweiten Kategorie befinden sich längerfristige und dauerhafte Siedlungen bzw. Stätten („sites“), welche sich in den Vororten oder am Stadtrand befinden. Dort gibt es ein gewisses Maß an Infrastruktur, und humanitäre Organisationen bieten dort ein gewisses Ausmaß an Unterstützung an. Es gibt dort einen gewissen Zugang zu soliden Unterkünften, Bildung und medizinischer Versorgung. Die beiden größten längerfristigen Siedlungen bzw. Stätten sind das Sakhi-Camp (20 km nordöstlich der Stadt), Qalen Bafan (im westlichen Teil von Mazar-e Scharif), sowie Zabihullah (etwa 20 km südöstlich der Stadt). Die dritte Kategorie von Gebieten sind jene Siedlungen oder Stätten, die erst vor kürzerer Zeit und aufgrund der anhaltenden und zunehmenden Vertreibung entstanden sind. Diese Siedlungen, die in der Regel von der Regierung nicht anerkannt werden, befinden sich häufig auf Landstrichen mit unklaren Eigentumsverhältnissen. In diesen neueren Siedlungen leben viele Menschen in Zelten, oft unter prekären Bedingungen und mit stark eingeschränktem Zugang zu humanitärer Hilfe. Es mangelt dort an Wasser, Strom und sozialen Einrichtungen. Im Prinzip ist die Situation hinsichtlich des Zugangs zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Wasser und anderen Dienstleistungen umso schlimmer, je weiter außerhalb der Stadt jemand lebt, wobei die Situation in den informellen Siedlungen bzw. Stätten am schlimmsten ist. Ob allerdings die Situation in der Innenstadt besser ist, hängt von den individuellen – insbesondere finanziellen – Umständen eines Binnenvertriebenen oder Rückkehrers ab (ACCORD Masar-e Sharif).

Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76 %), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10-15 – teils öffentliche, teils private – Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB, Kapitel 21).

II.1.5.8.2. Provinz bzw. Stadt Herat

Herat liegt im Westen Afghanistans. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Die Provinz hat 2.095.117 Einwohner. Die Provinz ist über einen Flughafen in der Nähe von Herat-Stadt zu erreichen (LIB, Kapitel 2.13).

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, in dem die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. In der Provinz Herat kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen. Unter anderem kam es dabei auch zu Luftangriffen durch die afghanischen Sicherheitskräfte. Im Jahr 2019 gab es 400 zivile Opfer (144 Tote und 256 Verletzte) in der Provinz Herat. Dies entspricht einer Steigerung von 54% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.13).

Die Hauptstadt der Provinz ist Herat-Stadt. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert, der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 durch Iran-Rückkehrer und Binnenvertriebene besonders gestiegen. Sie hat 556.205 Einwohner (LIB, Kapitel 2.13).

Herat ist durch die Ring-Road sowie durch einen Flughafen mit nationalen und internationalen Anbindungen sicher und legal erreichbar (LIB, Kapitel 3.13). Der Flughafen Herat (HEA) liegt 13 km südlich der Stadt im Distrikt Gozara. Die Straße, welche die Stadt mit dem Flughafen verbindet wird laufend von Sicherheitskräften kontrolliert. Unabhängig davon gab es in den letzten Jahren Berichte von Aktivitäten von kriminellen Netzwerken, welche oft auch mit Aufständischen in Verbindung stehen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten auszuüben. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Herat so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

Im Vergleich mit anderen Teilen des Landes weist Herat wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf. Es gibt Arbeitsmöglichkeiten im Handel, darunter den Import und Export von Waren mit dem benachbarten Iran, wie auch im Bergbau und Produktion. Die Industrie der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs) ist insbesondere im Handwerksbereich und in der Seiden- und Teppichproduktion gut entwickelt und beschäftigt Tagelöhner sowie kleine Unternehmer (LIB, Kapitel 20).

In der Stadt Herat gab bzw. gibt es aufgrund der Corona-Pandemie Ausgangssperren. Durch diese Ausgangssperren sind insbesondere Taglöhner, welche auf ihre tägliche Arbeit und ihren täglichen Lohn angewiesen sind, und Familien, welche nicht auf landwirtschaftliche Einkünfte zugreifen können, besonders betroffen (ACCORD Herat).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Herat, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Herat besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Derzeit sind die meisten Teehäuser, Hotels und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19-Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (LIB, Kurzinformation 21.07.2020).

Die größten und bedeutendsten IDP- und RückkehrerInnen-Siedlungen in Herat-Stadt und Umgebung sind: Shahrak-e-Sabz (im Distrikt Gusara), Kahddestan (im Distrikt Indschil), Shaidayee (5km östlich der Stadt Herat) und Urdo Bagh. Die Versorgung der dort lebenden Menschen ist schlecht, der Zugang zur Grundversorgung ist eingeschränkt (ACCORD Herat).

Die meisten Menschen in Herat haben Zugang zu Elektrizität (80 %), zu erschlossener Wasserversorgung (70 %) und zu Abwasseranlagen (30 %). 92,1 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen und 81,22 % zu besseren Wasserversorgungsanlagen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

II.1.5.8.3. Provinz bzw. Stadt Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat 5.029.850 Einwohner. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel 3.1). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Lande

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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