Entscheidungsdatum
08.09.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
L521 2227807-1/25E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde des XXXX , Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH als Mitglieder der ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, 1170 Wien, Wattgasse 48, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.12.2019, Zl. 1245220207-190921116, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 13.07.2020 und 30.07.2020 zu Recht:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Artikel 133 Absatz 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 09.09.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen der Erstbefragung am der Antragstellung folgenden Tag legte der Beschwerdeführer dar, den Namen XXXX zu führen und Staatsangehöriger der Türkei zu sein. Er sei am XXXX im Landkreis XXXX in der türkischen Provinz Ad?yaman geboren und habe dort zuletzt gelebt, Angehöriger der kurdischen Volksgruppe, bekenne sich zum Islam der sunnitischen Glaubensrichtung und sei ledig. Er habe von 01.09.2003 bis 01.07.2011 die Grund- und von 01.09.2011 bis 01.01.2012 eine höhere Schule ohne Abschluss besucht. Zuletzt sei er als Bau- bzw. Hilfsarbeiter beruflich tätig gewesen. Seine Eltern, drei Schwestern und vier Brüder seien in der Türkei aufhältig. Ein Stiefonkel lebe in Österreich oder einem anderen Staat der Europäischen Union.
Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, die Türkei am 05.09.2019 illegal von Istanbul ausgehend auf dem Landweg verlassen zu haben. Er sei schlepperunterstützt in einem Lastkraftwagen nach Österreich gereist.
Zu den Gründen seiner Ausreise befragt führte der Beschwerdeführer aus, die Türkei wegen des Putschversuches im Jahr 2016 verlassen zu haben. Er sei damals beim Militär gewesen. Sein damaliger Kommandant sei jetzt für zwanzig Jahre in Haft gegangen und habe einem militärischen Freund ausgerichtet, dass ihm dies auch passieren könne. Bei einer Rückkehr befürchte er verhaftet zu werden und ins Gefängnis zu müssen. Im Übrigen habe er in der Türkei Probleme wegen seiner Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe.
2. In der Folge wurde der Beschwerdeführer am 11.12.2019 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg, im Beisein einer geeigneten Dolmetscherin in türkischer Sprache niederschriftlich vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter einvernommen.
Eingangs legte der Beschwerdeführer dar, sowohl der kurdischen als auch der türkischen Sprache mächtig zu sein und der Einvernahme in gesundheitlicher Hinsicht folgen zu können. Er habe bislang im Verfahren wahrheitsgemäße Angaben getätigt. Es sei alles richtig protokolliert worden.
Zur Person legte der Beschwerdeführer insbesondere dar, Staatsangehöriger der Türkei zu sein. Er sei am XXXX im Landkreis XXXX in der türkischen Provinz Ad?yaman geboren und habe dort auf einem Bauernhof gemeinsam mit seiner Familie gewohnt. Er sei Angehöriger der kurdischen Volksgruppe, ledig und kinderlos. Er bekenne sich zum Islam der sunnitischen Glaubensrichtung und habe neun Jahre die Grundschule besucht. Das Gymnasium habe er im ersten Jahr abgebrochen. Er habe den Beruf des Betonierers auf Baustellen erlernt und diese Tätigkeit etwa insgesamt drei Jahre ausgeübt. Seinen Lebensunterhalt habe er auch mit Hilfe seiner Eltern bestritten.
Gegenwärtig würden sich seine Eltern und Geschwister in der Türkei aufhalten. Zudem verfüge er über Onkel, Cousins und Cousinen in der Türkei. Seine Angehörigen würden im Landkreis XXXX in der türkischen Provinz Ad?yaman leben. Er stehe mit seinen Eltern und seinen Geschwistern monatlich über WhatsApp in Kontakt. Seinen Angehörigen gehe es gut. Diese würden ihren Lebensunterhalt als Bauern bestreiten.
Hinsichtlich des Grundes für das Verlassen des Heimatstaates führte der Beschwerdeführer aus, während des Putschversuches am 15.07.2016 beim türkischen Militär gewesen zu sein. Am Vortag habe er frei gehabt. Er sei dann angerufen worden, den Dienst anzutreten. Dieser Aufforderung sei er aber nicht nachgekommen, weil er sich nämlich nicht sicher gewesen sei, ob es sich um einen richtigen Putschversuch oder ein „Spiel“ handle. Nach seinem freien Tag sei er in den Dienst gegangen, woraufhin seine Offiziere aufgrund seines Verhaltens am Tag des Putsches behauptet hätten, er habe mit der Sache zu tun. Er habe trotzdem seinen Militärdienst absolviert. Während dieser Zeit sei er wiederholt beleidigt und als Gülenist bezeichnet worden. Solche Vorwürfe habe er fast täglich gehört. Sein Gruppenkommandant sei gleich eingesperrt und zu einer zwanzigjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Ein Kollege habe ihm mitgeteilt, sein Gruppenkommandant hätte ihm gesagt, dass auch er bald eingesperrt werden würde. Er hätte gar nichts gemacht und habe zu denen auch überhaupt keinen Kontakt gehabt. Er verfüge in der Türkei über fast keinen Freundeskreis mehr. Jeder beschuldige ihn, ein Gülenist zu sein. Er habe bis jetzt vier oder fünf Arbeitsplätze gewechselt. Jeder behaupte, er wäre Gülenist oder Terrorist. Zum Schluss habe es seine Psyche getroffen. Sehr viele Freunde oder Bekannte von ihm seien zu mindestens zwanzigjährigen Haftstrafen verurteilt worden, obwohl sie nichts gemacht hätten. Jeden Tag habe er Angst gehabt, dass er irgendwann eingesperrt werden würde. Zudem heiße es sofort, er wäre ein Terrorist, weil er der kurdischen Volksgruppe angehöre.
Weitere Angaben zum behaupteten Ausreisegrund tätigte der Beschwerdeführer nach entsprechenden Fragen durch den Leiter der Amtshandlung.
Im Übrigen wurden dem Beschwerdeführer Fragen bezüglich seiner Integration in Österreich gestellt.
Zudem wurde dem Beschwerdeführer angeboten, ihm die aktuellen landeskundlichen Feststellungen zur Türkei zur Abgabe einer Stellungnahme auszuhändigen. Der Beschwerdeführer verzichtete auf diese Möglichkeit.
3. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.12.2019, Zl. 1245220207-190921116, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wider den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 wurde ausgesprochen, dass die Frist für eine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.). Des Weiteren wurde wider den Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 und Abs. 2 FPG 2005 ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot verhängt (Spruchpunkt VII.).
Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – soweit für das Beschwerdeverfahren von Relevanz – nach der Wiedergabe der Einvernahmen des Beschwerdeführers und den Feststellungen zu dessen Person insbesondere aus, es werde festgestellt, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat nicht aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit, seiner politischen Überzeugungen, seines Glaubens oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe seitens des Staates oder Dritter verfolgt worden sei. Er habe die Türkei ausschließlich zum Zwecke der Optimierung seiner persönlichen und wirtschaftlichen Möglichkeiten verlassen. Zur Situation im Falle der Rückkehr wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer ein junger, gesunder Mann und in der Lage sei, durch Arbeit selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Er habe mehrere Jahre schulische Bildung genossen, verfüge über eine Berufsausbildung sowie Arbeitserfahrung und beherrsche die türkische sowie die kurdische Sprache. Der Beschwerdeführer sei in die türkische Gesellschaft integriert. Seine Eltern und Geschwister sowie zahlreiche Angehörige zweiten und entfernteren Grades seien in der Türkei aufhältig. Diese seien wirtschaftlich abgesichert und verfügen über Wohnraum. Der Beschwerdeführer drohe im Falle seiner Rückkehr nicht, in eine aussichtslose Lage zu geraten, oder hinsichtlich seines Rechtes auf Leben oder körperliche Unversehrtheit verletzt zu werden. Auch drohe ihm keine Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bzw. Bestrafung. Er sei keinen Verfolgungshandlungen seitens der türkischen Behörden oder Dritter ausgesetzt. Die Wiedereinreise in die Türkei könne gefahrlos erfolgen.
Was das Privat- und Familienleben betrifft, so wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer im September 2019 ins Bundesgebiet eingereist sei und einen Asylantrag gestellt habe. Er verfüge über rudimentäre Kenntnisse der deutschen Sprache. Abgesehen von einem Onkel würden sich keine Angehörigen seiner Person im österreichischen Bundesgebiet aufhalten. Ob der Beschwerdeführer eine Beziehung mit der türkischen Staatsbürgerin XXXX , geb. XXXX , führe, habe nicht festgestellt werden können. Er verfüge über keinen österreichischen Freundeskreis und sei nicht Mitglied eines Vereines. Auch betätige er sich nicht ehrenamtlich. Eine Integration in die österreichische Gesellschaft liege nicht vor. Zu den Gründen für die Erlassung eines Einreiseverbotes wurde abschließend festgestellt, dass der Beschwerdeführer seinen Asylantrag aus rechtsmissbräuchlichen Motiven, nämlich ausschließlich zwecks Umgehung der Bestimmungen des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes, gestellt habe. Darüber hinaus verfüge er nicht über die finanziellen Mittel für die Bestreitung seines Unterhaltes im Bundesgebiet. Sein angeführtes Fehlverhalten stelle eine erhebliche, tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung dar und sei die Erlassung eines Einreiseverbotes in der angeführten Höhe unbedingt notwendig.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte seiner Entscheidung zum damaligen Zeitpunkt aktuelle Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers zugrunde (vgl. die Seiten 25 bis 54 des angefochtenen Bescheides).
In der rechtlichen Beurteilung wurde begründend dargelegt, warum der seitens des Beschwerdeführers vorgebrachte Sachverhalt keine Grundlage für eine Subsumierung unter den Tatbestand des § 3 AsylG 2005 biete und warum auch nicht vom Vorliegen einer Gefahr im Sinne des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ausgegangen werden könne. Zudem wurde ausgeführt, warum ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt wurde, weshalb gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen, weshalb festgestellt wurde, dass die Abschiebung in die Türkei zulässig sei, weshalb die Frist für eine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage und weshalb wider den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot verhängt wurde.
4. Mit Verfahrensanordnungen vom 13.12.2019 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben und der Beschwerdeführer ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.
5. Gegen den rechtswirksam zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.12.2019 richtet sich die im Wege der dem Beschwerdeführer beigegebenen und von ihm bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation mit Schreiben vom 13.01.2020 fristgerecht eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides sowie Mangelhaftigkeit des Verfahrens moniert und beantragt, eine mündliche Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht anzuberaumen, falls nicht alle zu Lasten des Beschwerdeführers gehenden Rechtswidrigkeiten im angefochtenen Bescheid geltend gemacht wurden, diese amtswegig aufzugreifen und den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Beschwerdeführer den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen. Eventualiter wird beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Beschwerdeführer den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, den angefochtenen Bescheid bezüglich der Spruchpunkte III. und IV. aufzuheben bzw. dahingehend abzuändern, dass die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig erklärt und dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus Gründen des Artikel 8 EMRK erteilt werde, den angefochtenen Bescheid bezüglich des Spruchpunktes V. aufzuheben bzw. dahingehend abzuändern, dass eine Abschiebung für unzulässig erklärt werde, den Bescheid bezüglich des Spruchpunktes VII. ersatzlos zu beheben und das auf zwei Jahre befristete (in der Beschwerde unrichtig: unbefristete) Einreiseverbot auf eine angemessene Dauer herabzusetzen. Abschließend wird zudem eventualiter ein Aufhebungsantrag gestellt.
In der Sache wiederholt der Beschwerdeführer im Wesentlichen sein bisheriges Vorbringen. Neu vorgebracht wird, dass er die Halklar?n Demokratik Partisi unterstützt habe. Er sei in der Türkei bei der Jugendgruppe dieser Partei und bei politischen Veranstaltungen und Demonstrationen dabei gewesen. Es habe mehrfach Probleme mit der Polizei bei Demonstrationen oder wegen des Verbotes, Flyer zu verteilen, gegeben. Im Übrigen hätte die belangte Behörde bei näherer Befragung des Beschwerdeführers erfahren, dass sich auch die Familie gegen den Beschwerdeführer gerichtet habe. Diese habe ihn aufgrund der Vorwürfe der Gülen-Bewegung anzugehören ausgeschlossen. Demnach würden sie ihn weder praktisch noch finanziell bei einer Rückkehr in die Türkei unterstützen.
In diesem Zusammenhang wird ferner moniert, dass die belangte Behörde in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken habe, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Diesen Anforderungen habe die belangte Behörde nicht entsprochen, zumal der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr befürchte, verhaftet und in der Folge zu Unrecht verurteilt zu werden und eine Haftstrafe ableisten zu müssen. Dem Beschwerdeführer würden somit Verletzungen seiner Menschenrechte aufgrund der vorherrschenden Haftbedingungen drohen. Die belangte Behörde habe jedoch keinerlei Feststellungen oder Ermittlungen zu den Haftbedingungen angestellt. Hätte sie dies getan, so hätte sie davon ausgehen müssen, dass dem Beschwerdeführer jedenfalls bereits durch die drohende Haftstrafe eine Verletzung seiner durch Artikel 2 und 3 EMRK garantierten Rechte drohe.
Die im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen seien unvollständig und teilweise unrichtig. In diesem Zusammenhang werden über mehrere Seiten hinweg Auszüge aus mehreren Länderdokumentationsquellen wiedergegeben, welche insbesondere Ausführungen zur Situation der angeblichen Gülen-Anhänger und zu Kurden sowie über die Menschenrechtslage für Personen, die der Opposition angehören, und zu Haftbedingungen in der Türkei zum Gegenstand haben.
Hätte das belangte Bundesamt diese Länderfeststellungen berücksichtigt und die persönliche Situation des Beschwerdeführers ausreichend erhoben, hätte es zu dem Schluss kommen müssen, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr asylrelevante Verfolgung drohe und keine innerstaatliche Fluchtalternative vorliege. Des Weiteren hätte es zur Feststellung gelangen müssen, dass dem Beschwerdeführer aufgrund seiner individuellen Situation und der allgemeinen Sicherheitslage jedenfalls eine Verletzung in seinen Rechten nach Artikel 2 und 3 EMRK drohe.
Darüber hinaus wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Beweiswürdigung des belangten Bundesamtes. Diesbezüglich wird ausgeführt, dass die Feststellung bezüglich einer fehlenden individuellen Verfolgungssituation auf einer unschlüssigen Beweiswürdigung und einer mangelhaften Sachverhaltsermittlung basiere und § 60 AVG verletze.
Insoweit die belangte Behörde zum Schluss komme, dass die Angaben zu der drohenden Verhaftung aus zweiter Hand, unkonkret und vage gewesen seien, so sei die belangte Behörde nicht ausreichend darauf eingegangen, dass der Beschwerdeführer bereits dreimal von Offizieren einvernommen und mehrfach sowohl von Polizisten als auch in seinem Bekanntenkreis beschimpft und bedroht worden sei. Der Beschwerdeführer berichte von anderen Bekannten, die ebenfalls zu einem späteren Zeitpunkt verhaftet und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden seien.
Des Weiteren habe die belangte Behörde die eigentliche politische Einstellung des Beschwerdeführers nicht gewürdigt. Der Beschwerdeführer habe die Halklar?n Demokratik Partisi aktiv unterstützt.
Der Beschwerdeführer habe bereits in der Einvernahme angegeben, dass er versucht habe, in anderen Städten zu leben. Aber auch in diesen Städten habe es längstens 15 bis 20 Tage gedauert bis die Vorwürfe wieder erhoben worden seien. Entgegen diesen Angaben gehe die belangte Behörde trotzdem davon aus, dass der Beschwerdeführer in einer anderen Stadt sicher leben könnte.
Wie bereits dargelegt, habe es die belangte Behörde versäumt, nähere Ermittlungen zu den Familienverhältnissen anzustellen. So gehe sie irrigerweise davon aus, dass der Beschwerdeführer in der Türkei von seiner Familie finanziell und praktisch unterstützt werden könnte. Dies sei nicht der Fall.
Im Rahmen rechtlicher Ausführungen, insbesondere unter auszugsweiser Zitierung höchstgerichtlicher Entscheidungen, wird dargelegt, dass der Beschwerdeführer in der Türkei wegen seiner politischen Opposition zur derzeitigen Regierung, der unterstellten Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung und wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden verfolgt werde. Des Weiteren stünde dem Beschwerdeführer keine innerstaatliche Fluchtalternative offen.
Zur allfälligen Gewährung subsidiären Schutzes wird angemerkt, dass dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt werden hätte müssen, wenn die belangte Behörde ihre Ermittlungspflicht in angemessener Weise wahrgenommen und den vorliegenden Sachverhalt rechtlich richtig beurteilt hätte.
Was die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides betrifft, wird dargelegt, dass sich der Beschwerdeführer bemühe, sich in die österreichische Gesellschaft zu integrieren. Bis er an einem offiziellen Deutschkurs teilnehmen könne, bemühe er sich im Eigenstudium Deutsch zu lernen. In Zukunft wolle er seine Integration positiv fortführen und eine Arbeit aufnehmen. Hinsichtlich einer Arbeitsstelle habe er bereits eine mündliche Jobzusage als Saisonarbeiter in einem Skigebiet. Weiters helfe er von Zeit zu Zeit freiwillig in der Kirche aus. In Österreich habe der Beschwerdeführer familiären Anschluss. Im Gegensatz zu seiner Familie in der Türkei, habe ihn sein Onkel in Österreich nicht als Anhänger der Gülen-Bewegung verurteilt. Er glaube ihm und unterstütze ihn. Bei einer Abschiebung in die Türkei drohe dem Beschwerdeführer eine Haftstrafe. Aufgrund der Haftbedingungen in der Türkei würden dem Beschwerdeführer allerdings mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verletzungen seiner durch Artikel 2 und 3 EMRK garantierten Rechte drohen, wobei diesbezüglich zwei Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtes zitiert wurden.
Hinsichtlich Spruchpunkt VII. des bekämpften Bescheides wird festgehalten, dass der Beschwerdeführer keinen unbegründeten bzw. missbräuchlichen Asylantrag gestellt habe. Zusätzlich habe sich der Beschwerdeführer in Österreich nichts zu Schulden kommen lassen. Die belangte Behörde gehe davon aus, dass für den Beschwerdeführer keine günstige Zukunftsprognose getroffen werden könne und dass er aufgrund fehlender Barmittel auf die Grundversorgung angewiesen sei. Dem stünden klar die Angaben des Beschwerdeführers entgegen. Dieser sei bereits gut integriert, versuche sich selbst Deutsch beizubringen und hätte sogar bereits ein Arbeitsangebot als Saisonarbeiter in einem Skigebiet. Durch seinen Onkel, welcher sich regelmäßig mit ihm treffe und ihn unterstütze, habe er auch familiären Anschluss. Die belangte Behörde habe nicht schlüssig und nachvollziehbar zu begründen vermocht, inwiefern der Beschwerdeführer ein derart gravierendes Fehlverhalten gesetzt hätte, dass dies das Ausmaß einer Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit erreichen würde. Weiters sei es nicht nachvollziehbar, wie die belangte Behörde zum Resultat einer negativen Zukunftsprognose komme.
6. Die Beschwerdevorlage langte am 23.01.2020 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssache wurden in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zugewiesen.
7. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 20.02.2020 wurden der dem Beschwerdeführer beigegebenen und von ihm bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation zur Vorbereitung der für den 23.03.2020 anberaumten mündlichen Verhandlung aktuelle länderkundliche Dokumente zur allgemeinen Lage in der Türkei, insbesondere der Asylländerbericht bezüglich der Türkei der Österreichischen Botschaft Ankara vom Oktober 2019, die Country Background Note - Turkey des britischen Home Office vom Jänner 2019, die Country Policy and Information Note - Turkey: Kurds des britischen Home Office vom September 2018 und die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation der belangten Behörde zur Thematik „Türkei - Sanktionen und fairer Prozess gegenüber vermeintlichen Gülen-Anhängern aus Diplomatie und Militär“ vom 11.12.2017, zur Wahrung des Parteiengehöres übermittelt und die Möglichkeit eingeräumt, dazu schriftlich oder mündlich in der Verhandlung Stellung zu nehmen.
8. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26.02.2020 wurde der Beschwerdeführer bzw. dessen ihm beigegebene und von ihm bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation ersucht, die zur mündlichen Verhandlung am 23.03.2020 geladene Zeugin XXXX , geb. XXXX , zur Verhandlung stellig zu machen, da die betreffende Ladung von der Zeugin nicht behoben wurde.
9. Aufgrund der Verbreitung von SARS-CoV-2 und den damit verbundenen Ausgangsbeschränkungen musste die für den 23.03.2020 anberaumte mündliche Verhandlung abberaumt und zunächst auf den 13.07.2020 verlegt werden.
10. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 04.06.2020 wurde dem Beschwerdeführer im Wege seiner Vertretung mitgeteilt, dass mehrfach versucht worden sei, XXXX , geb. XXXX , als Zeugin zu laden. Diese habe bislang keine der insgesamt drei an sie gerichteten Ladungen/Verständigungen entgegen genommen. Sollte sie als Zeugin notwendig erachtet werden, ergehe in Anbetracht der Zustellprobleme die Aufforderung, sie zur Verhandlung am 13.07.2020 stellig zu machen oder alternativ eine Anschrift mitzuteilen, an welcher Zustellungen an XXXX bewerkstelligt werden können.
11. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16.06.2020 wurden dem Beschwerdeführer im Wege seiner Vertretung außerdem aufgrund der dynamischen Lageentwicklung im Herkunftsstaat aktuelle länderkundliche Dokumente zur allgemeinen Lage in der Türkei zur Wahrung des Parteiengehöres übermittelt und ihm die Möglichkeit eingeräumt, dazu schriftlich oder mündlich in der Verhandlung Stellung zu nehmen.
12. Am 13.07.2020 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers sowie einer Dolmetscherin für die türkische Sprache durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde die aktuelle Lageentwicklung in der Türkei anhand der dem Beschwerdeführer im Vorfeld übermittelten Länderdokumentationsunterlagen erörtert. Seitens des Beschwerdeführers wurde zudem mitgeteilt, dass er die Beziehung zu XXXX beendetet habe. Seine nunmehrige - 30jährige - Freundin heiße XXXX und lebe in Innsbruck. Weder das Geburtsdatum noch die Adresse dieser Person wären ihm bekannt.
Ein Vertreter der belangten Behörde blieb der mündlichen Verhandlung entschuldigt fern. Ebenso blieb der Vertreter der dem Beschwerdeführer beigegebenen und von ihm bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation der mündlichen Verhandlung kurzfristig entschuldigt fern, weshalb die Verhandlung auf unbestimmte Zeit vertagt wurde.
13. Am 30.07.2020 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht die öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, eines Vertreters der dem Beschwerdeführer beigegebenen und von ihm bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation und einer Dolmetscherin für die türkische Sprache fortgesetzt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen. Ferner wurde der Beschwerdeführer aufgefordert, die von ihm in der mündlichen Verhandlung angesprochene Bestätigung hinsichtlich einer Beschäftigungsmöglichkeit ehestmöglich nachzureichen.
Ein Vertreter der belangten Behörde blieb der mündlichen Verhandlung entschuldigt fern.
Die Vorlage der Bestätigung hinsichtlich einer Beschäftigungsmöglichkeit unterblieb.
14. Mit E-Mail des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30.07.2020 wurde die belangte Behörde ersucht, die laut Aktenlage sichergestellten Identitätsdokumente des Beschwerdeführers einzuscannen und dem Bundesverwaltungsgericht per E-Mail zu übermitteln. Diesem Ersuchen wurde mit E-Mail vom 30.07.2020 seitens der belangten Behörde entsprochen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Verfahrensbestimmungen
Gemäß § 27 des Bundesgesetzes über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl. I Nr. 57/2018, hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4 VwGVG) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3 VwGVG) zu überprüfen.
Gemäß § 28 Absatz 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß § 28 Absatz 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
2. Feststellungen:
2.1. Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angegebenen Namen und ist Staatsangehöriger der Türkei. Er wurde am XXXX im Landkreis XXXX in der türkischen Provinz Ad?yaman geboren und wuchs dort auf. Abgesehen von Abwesenheiten aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit in der Baubranche lebte er dort mit seiner Familie auf dem Bauernhof seiner Eltern. Er ist Angehöriger der kurdischen Volksgruppe, bekennt sich zum Islam der sunnitischen Glaubensrichtung, formal mit einer österreichischen Staatsangehörigen verlobt und kinderlos. Der Beschwerdeführer beherrscht die Sprachen Kurdisch und Türkisch in Wort und Schrift. Die Identität des Beschwerdeführers steht fest.
Der Beschwerdeführer besuchte in der Türkei die Grund- und Hauptschule im Ausmaß von neun Jahren. Das Gymnasium verließ er nach einigen Monaten, ohne einen Abschluss zu erlangen. Im Anschluss absolvierte er eine Ausbildung in der Bauwirtschaft und trat der Beschwerdeführer in das Berufsleben ein. Er arbeitete in der Vergangenheit in verschiedenen Städten der Türkei als Bauarbeiter und wohnte in dieser Zeit vorübergehend bei Freunden. Es kann nicht festgestellt werden, dass Arbeitsverhältnisse des Beschwerdeführers wegen einer angeblichen Nähe zur Gülen-Bewegung beendet wurden (siehe unten). Wenn der Beschwerdeführer nicht gearbeitet hat, hat ihn seine Familie zur Bestreitung des Lebensunterhaltes unterstützt. Die wirtschaftliche Lage und die finanzielle Situation seiner Familie sind gut.
Seinen Wehrdienst in der türkischen Armee hat der Beschwerdeführer in den Jahren 2016 und 2017 vollständig abgeleistet.
Seine Eltern und ein Teil seiner Geschwister bewohnt weiterhin den Bauernhof seiner Familie im Landkreis XXXX in der türkischen Provinz Ad?yaman. Außer seinen Eltern und Geschwistern wohnen Onkel, Cousinen und Cousins des Beschwerdeführers in der Türkei. Seine Eltern und ein Teil seiner Geschwister betreiben die familieneigene Landwirtschaft. Ein Bruder arbeitet als Immobilienmakler und ein Bruder in einer Fabrik. Ein weiterer Bruder besitzt ein Möbelhaus. Der Beschwerdeführer steht mit seinen Eltern und Geschwistern monatlich über WhatsApp in Kontakt. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Kontakt zur Familie wegen der ihm angeblich unterstellten Nähe zur Gülen-Bewegung nicht mehr bestehen sollte (siehe unten).
Der Beschwerdeführer verließ die Türkei von Istanbul ausgehend am 05.09.2019 schlepperunterstützt auf dem Landweg in Richtung Österreich. Am 08.09.2019 reiste er in Österreich ein, wo er am 09.09.2019 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
2.2. Der Beschwerdeführer gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte in seinem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund seines Religionsbekenntnisses oder aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu gewärtigen. Der Beschwerdeführer gehört nicht der Gülen-Bewegung an und war nicht in den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verstrickt.
Der Beschwerdeführer wurde vor seiner Ausreise während der Ableistung des Militärdienstes nicht von türkischen Sicherheitskräften wegen seiner angeblichen Nähe zur Gülen-Bewegung befragt. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise von einem ehemaligen Kollegen von einer drohenden Inhaftierung wegen seiner angeblichen Nähe zur Gülen-Bewegung informiert und im Februar 2019 von türkischen Polizisten und mehrfach von Bekannten/ Freunden aus diesem Grunde beschimpft wurde.
Der Beschwerdeführer unterlag vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat keiner individuellen Gefährdung und war keiner psychischen und/oder physisches Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt und wird im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat einer solchen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sein.
Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat als vermeintlicher Unterstützer der Partiya Karkerên Kurdistanê, der Gülen-Bewegung oder aus sonstigen Gründen gerichtlich oder polizeilich gesucht wird oder er aus diesem Grund oder aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit im Fall einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit willkürlicher Gewaltausübung, willkürlichem Freiheitsentzug oder exzessiver Bestrafung durch staatliche Organe ausgesetzt wäre.
Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder terroristische Anschläge im der Türkei.
2.3. Der Beschwerdeführer ist ein arbeitsfähiger Mensch mit bestehenden Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherten Existenzgrundlage. Er verfügt über Berufserfahrung als Bauarbeiter. Dem Beschwerdeführer ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar.
Der Beschwerdeführer leidet weder an einer schweren körperlichen noch an einer schweren psychischen Erkrankung. Er ist gesund und bedarf keiner medikamentösen oder ärztlichen Behandlung.
Der Beschwerdeführer verfügt für den Fall der Rückkehr – abgesehen von seinem türkischen Führerschein und seinem türkischen Militärausweis – über ein türkisches Identitätsdokument (Nüfus) im Original und über eine Wohnmöglichkeit bei Verwandten in der Türkei, insbesondere auch im Landkreis XXXX in der türkischen Provinz Ad?yamanin. Dem in XXXX wohnhaften Onkel des Beschwerdeführers ist es möglich, diesen auch in der Türkei finanziell (durch Geldsendungen) weiterhin zu unterstützen (siehe unten).
2.4. Der Beschwerdeführer reiste am 08.09.2019 rechtswidrig in das Bundesgebiet ein. Seit dem 09.09.2019 hält er sich durchgehend im Bundesgebiet als Asylwerber auf und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel.
Der Beschwerdeführer bezieht seit der Antragstellung Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber. Er war zunächst in einer Unterkunft für Asylwerber in XXXX untergebracht. Abgesehen von zwei weiteren Unterkunftnahmen in Niederösterreich vom 23.09.2019 bis 30.09.2019 und in Tirol vom 27.05.2020 bis 15.06.2020 lebte bzw. lebt der Beschwerdeführer vom 30.09.2019 bis 27.05.2020 und erneut seit dem 15.06.2020 bei einem Onkel in XXXX .
Der Beschwerdeführer ist für keine Person sorgepflichtig und pflegt normale soziale Kontakte, Er verfügt hier über einen Freundes- und Bekanntenkreis, dem auch in Österreich dauerhaft aufenthaltsberechtigte Personen angehören. Im Bundesgebiet halten sich mit Ausnahme eines Onkels mütterlicherseits keine Verwandten des Beschwerdeführers auf, wobei ihm sein Onkel gegenwärtig unentgeltlich Unterkunft gewährt und ihn freiwillig mit etwa EUR 100,00 im Monat finanziell unterstützt. Der Beschwerdeführer verfügt über kein Vermögen in Österreich, er ist im Wege der Grundversorgung für Asylwerber krankenversichert und bezieht derzeit monatlich EUR 215,00 Verpflegungsgeld.
Der Beschwerdeführer ist nicht legal erwerbstätig. Dem Beschwerdeführer wurde zwar eine Einstellung in einem Restaurant als Kellner bei Erhalt einer Arbeitserlaubnis zugesagt bzw. in Aussicht gestellt. Er brachte jedoch bis zum Entscheidungszeitpunkt keine Einstellungszusage bei. Der Beschwerdeführer verrichtet(e) im Frühjahr 2020 im Rathaus bzw. der Gemeinde und im Krankenhaus seiner Wohnortes gemeinnützige Arbeit. Des Weiteren hilft er gelegentlich freiwillig in einer Kirche aus. Der Beschwerdeführer ist weder in einem Verein, noch in einer sonstigen Organisation Mitglied.
Der Beschwerdeführer unterhält seit frühestens Ende Mai 2020 eine Beziehung mit der in der Stadt Innsbruck wohnhaften österreichischen Staatsangehörigen XXXX , die er im Wege eines Onlinedienstes zum Teilen von Fotos und Videos kennenlernte. Die exakte Adresse seiner formal Verlobten ist dem Beschwerdeführer nicht geläufig. Ein gemeinsamer Haushalt mit dem Beschwerdeführer besteht nicht. Ein persönlicher Kontakt des Beschwerdeführers zu seiner Freundin findet am Wochenende statt. Sie unternehmen Spaziergänge und essen gemeinsam. Der Beschwerdeführer verkehrt mit seiner Freundin in türkischer und deutscher Sprache.
Der Beschwerdeführer machte seine formal Verlobte – trotz Anwesenheit im Gerichtsgebäude am 30.07.2020 – nicht zur Verhandlung als Zeugin stellig und nahm auch davon Abstand, sie als Zuhörerin oder Vertrauensperson in den Verhandlungssaal mitzunehmen. Er brachte auch kein Unterstützungsschreiben der Genannten in Vorlage.
Eine Hochzeit steht nicht unmittelbar bevor und es gibt auch keine konkreten Pläne für eine Hochzeit. Zwischen dem Beschwerdeführer und XXXX besteht kein finanzielles oder anderweitiges Abhängigkeitsverhältnis. Eine ausgeprägte emotionale Nähe trat im Verfahren ebenfalls nicht zutage. Eine intensive Bindung des Beschwerdeführers zur Familie der Freundin besteht nicht. Der Beschwerdeführer und seine Freundin waren sich beim Eingehen der Beziehung und allen nachfolgenden Schritten des unsicheren Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers bewusst.
Der Beschwerdeführer besuchte keine sprachlichen Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache und legte auch keine Prüfungen ab. Er beherrscht die deutsche Sprache erst in geringem Ausmaß bzw. verfügt über (einfache) grundlegende Kenntnisse der deutschen Sprache. Anderweitige Integrationsschritte hat der Beschwerdeführer nicht ergriffen.
2.5. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
Sein Aufenthalt war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Z. 3 FPG 2005 geduldet. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Der Beschwerdeführer wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
2.6. Zur gegenwärtigen Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:
1. Aktuelles
20.04.2020: Wegen der Corona-Krise hat die Türkei am 15.04.20 mit der Entlassung von Häftlingen begonnen. Das Gesetz war am Vortag vom Parlament in Ankara verabschiedet worden und ermöglicht die Entlassung von bis zu 90.000 Gefangenen. Ausgenommen davon sind wegen Terrorvorwürfen Inhaftierte, darunter Regierungskritiker und Journalisten, sowie Gefangene, die wegen vorsätzlichen Mordes, Gewalt gegen Frauen, Sexualstraftaten und Drogendelikten in Haft sind (vgl. BN v. 06.04.20). Die Oppositionspartei CHP will den Straferlass vom Verfassungsgericht überprüfen lassen, weil keine politischen Häftlinge freikommen.
Seit zwei Wochen sind die türkischen Städte, darunter Ankara und Istanbul, wegen der COVID-19-Pandemie nach außen weitgehend abgeschottet. Die Bewohner brauchen für Reisen in andere Städte eine Genehmigung. Am 18.04.20 verlängerte die Regierung die Reisebeschränkungen für 31 Städte und Provinzen um zwei Wochen. Ausgenommen ist der Transport unverzichtbarer Güter. In den 31 Städten und Provinzen galt am Wochenende zudem erneut eine zweitägige Ausgangssperre. Bis Anfang März 2020 hatte die Türkei nur wenige hundert Coronafälle verzeichnet, seitdem stieg die Zahl der Infizierten sprunghaft auf über 82.000 Fälle an. Die Zahl der Toten liegt inzwischen bei über 2.000 Personen. Trotz der COVID-19-Krise sollen Gläubige nach Ansicht der türkischen Religionsbehörde im Ramadan fasten. Präsident Erdo?an lehnte am 12.04.20 das Rücktrittsgesuch von Innenminister Süleyman Soylu ab. Dessen Ministerium hatte am 10.04.20 kurzfristig eine 48-stündige Ausgangssperre angekündigt und war dafür scharf kritisiert worden. Da die Ausgangssperre erst zwei Stunden vor Beginn verkündet worden war, war es in Geschäften zu Panikkäufen, Gedränge und teilweise chaotischen Zuständen gekommen.
04.05.2020: Ausgangsperre Der türkische Präsident Erdogan hat wegen der Corona-Krise eine weitere dreitägige weitgehende Ausgangssperre für 31 Städte und Provinzen vom 01. bis 03.05.20 verhängt. Am 1. Mai war es Supermärkten aber erlaubt, zwischen 9 und 14 Uhr zu öffnen. Weitere Ausgangssperren an Wochenenden sind noch mindestens bis zum Ende des Fastenmonats Ramadan Ende Mai geplant.
Ali Erba?, der Chef der türkischen Religionsbehörde Diyanet, sagte am 24.04.20 in seiner Predigt zu Beginn des Fastenmonats Ramadan, dass Homosexualität Krankheiten mit sich bringe. Er bezeichnete Homosexuelle als islamfeindliche Ketzer und kritisierte zudem den Ehebruch und das Zusammenleben unverheirateter Paare. Die Anwaltskammer Ankara sowie eine türkische Menschenrechtsorganisation reichten deshalb bei der Generalstaatsanwaltschaft von Ankara eine Beschwerde gegen Erba? wegen Homophobie und Volksverhetzung ein. Daraufhin schaltete sich Staatspräsident Erdogan in die Auseinandersetzung ein und erklärte, Ali Erba?‘ Äußerungen seien völlig korrekt, da für den Islam Homosexualität eine schwere Sünde sei. Da Erba? der Vorsitzende der Religionsbehörde ist, sei ein Angriff auf ihn auch ein Angriff auf den Staat. Religiöse Fragen lägen in der Hand des Diyanet und nicht in der von Rechtsanwaltsverbänden. In dem Zusammenhang leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen die Anwaltskammer ein, weil die Juristenvertretung die religiösen Gefühle des Volkes verletzt hätte. Homosexualität ist in der Türkei nicht verboten. Aktivisten beklagen jedoch immer wieder Diskriminierungen.
11.05.2020: Da langsam ein Abflachen der Neuinfektionen mit dem Coronavirus in der Türkei zu beobachten sei, plant die Regierung eine schrittweise Lockerung der zahlreichen bestehenden Einschränkungen. Am vergangenen Wochenende galt eine weitgehende Ausgangssperre nur noch in 24 Städten und Provinzen statt zuvor in 31. Zudem durften Senioren ab 65 Jahren zum ersten Mal seit dem 21.03.20 wieder für vier Stunden das Haus verlassen. Ab 11.05.20 sollen unter anderem Läden, Einkaufszentren und Friseure unter Auflagen wieder öffnen können. Beabsichtigt sei, dass nach der Sitzung des Corona-Wissenschaftsrats am 11.05.20 Reisebeschränkungen für weitere Provinzen aufgehoben werden könnten. In einer zweiten Phase vom Juni bis in den August 2020 sollen Ausgangssperren schrittweise verringert werden und die Zahl der Tage, an denen Bürger über 65 Jahren nach draußen dürfen, erhöht werden. Dann sollen auch wieder die Moscheen unter Einhaltung der Mindestabstände öffnen. Die Schutzmaskenpflicht bestehe weiterhin. Im Juni 2020 sollen dann auch Restaurants und Cafés mit Einschränkungen wieder öffnen dürfen, ebenso Bibliotheken. Sportveranstaltungen könnten wieder durchgeführt werden, allerdings ohne Zuschauer und nur unter bestimmten Sicherheits- und Hygienestandards. Kinos, Theater und Open-Air-Bühnen sollen eventuell im Juli 2020 wieder in Betrieb genommen werden dürfen. Überlegt werde auch, dann größere Veranstaltungen, wie beispielsweise Hochzeiten, unter bestimmten Auflagen wieder zu erlauben. Eine dritte Phase laufe von September 2020 bis zum Jahresende. Dafür würden detaillierte Pläne ausgearbeitet, um Schulen und Universitäten unter Einhaltung der Sicherheits- und Hygienemaßnahmen wiederzueröffnen. Danach sollen in einer vierten Phase alle Reise- und Flugbeschränkungen sowie die Maskenpflichten wieder aufgehoben werden. Es werde zudem bereits über Einreisemöglichkeiten für Touristen unter Durchführung von Coronatests an Flughäfen ab Juni 2020 nachgedacht.
Bericht zu möglichen Fluchtbewegungen Nach einem Bericht vom 08.05.20 der Tageszeitung Die Welt erwarte die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) erneut eine hohe Zahl von Flüchtlingen an der griechisch-türkischen Grenze. Nach einem der Zeitung vorliegenden internen und vertraulichen Situationsbericht vom 05.05.20 aus dem Frontex Situation Centre, könnte es massive Bewegungen von Migranten aus der Türkei in Richtung Griechenland geben, sobald weitere türkische Provinzen ihre Coronavirus-Einschränkungen lockerten
18.05.2020: Es gab vergangene Woche mehr als 148.000 bestätigte COVID-19-Fälle, nach offiziellen Angaben starben bisher ca. 4.090 Infizierte, über 100.000 Menschen haben sich erholt. Die Türkei hat neben zahlreichen Lockerungen aktuell nochmals eine viertägige Ausgangssperre in 15 Städten und Provinzen verhängt, die am 16.05.20 begann und nach dem 19.05.20, einem nationalen Feiertag, enden soll. Kliniken, Apotheken, Bäckereien und andere als wichtig eingestufte Dienstleister bleiben geöffnet. Die Regierung erwägt zudem mögliche Maßnahmen, einschließlich einer viertägigen landesweiten Ausgangssperre, während des Bayram-Festes vom 24.05. bis 26.05.20, mit dem das Ende des Fastenmonats Ramadan begangen wird.
Tod nach Hungerstreik Der Musiker Ibrahim Gökçek ist am 14.05.20 nach über 300 Tagen Hungerstreik gestorben. Er hatte gefastet, um die Aufhebung des Auftrittsverbots seiner Band und die Freilassung inhaftierter Bandmitglieder zu erreichen. Seine Bandkollegin Helin Bölek war bereits vor ca. zwei Wochen nach 288 Tagen Hungerstreik gestorben. Ihren Hungerstreik hatten beide im vergangenen Jahr im Gefängnis begonnen, im November 2019 kamen sie zwar frei, setzten ihren Hungerstreik jedoch fort. Die Grup Yorum wurde 1985 in Istanbul gegründet. Die populäre Band ist für ihre regierungskritischen Protestsongs in türkischer und kurdischer Sprache bekannt und setzt sich aus wechselnden Mitgliedern zusammen. Die Regierung wirft der Band Verbindungen zur verbotenen militanten linksradikalen Untergrundorganisation Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) vor, die vor allem in den Achtzigerjahren zahlreiche Anschläge in der Türkei verübte und von der Türkei, den USA und der EU als Terrorgruppe eingestuft wird. Zwei Mitglieder von Grup Yorum, darunter Gökçeks Frau, befinden sich noch im Gefängnis.
25.05.2020: Die Regierung hat erstmals für das ganze Land eine viertägige Ausgangssperre über die Feiertage am Ende des Fastenmonats Ramadan verhängt. Sie begann am Vorabend des sogenannten Zuckerfests in der Nacht zum 23.05.20 und endet am 26.05.20. Die Reisebeschränkungen für 15 Städte, darunter Ankara und Istanbul, wurden zudem um 15 Tage bis zum 03.06.20 verlängert. Im Kampf gegen COVID-19 erlässt die Türkei seit Wochen weitgehende Ausgehverbote, bislang allerdings nur in ausgewählten Städten oder Provinzen. Staatspräsident Erdogan appellierte an die Bevölkerung, ihre Gewohnheiten den Regelungen anzupassen, und drohte mit neuen härteren Maßnahmen, falls sich die Situation wieder verschlechtern sollte. Zudem erklärte er das Schuljahr für beendet. Die Schulen, die seit dem 16.03.20 geschlossen sind, öffnen erst wieder im September 2020. In ausgewählten Moscheen sind ab dem 29.05.20 wieder Gebete zugelassen.
Am 15.05.20 wurden nach Medienberichten fünf weitere Bürgermeister der prokurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP) aus dem Amt entlassen und durch staatliche Verwalter ersetzt. Ihnen wird vorgeworfen, die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) unterstützt zu haben. Bei den Kommunalwahlen im März 2019 hatte die HDP im Südosten des Landes in 65 Städten und Gemeinden gesiegt. Inzwischen sind nur noch 12 ihrer Bürgermeister im Amt.
15.06.2020: Medienberichten zufolge ordneten türkische Behörden am 09.06.2020 die Festnahme von 414 weiteren mutmaßlichen Regierungsgegnern an, denen eine Verbindung zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wird. Bei einem landesweiten Polizeieinsatz sei gegen 191 Verdächtige in 22 Provinzen vorgegangen worden, von denen sich 160 inzwischen in Haft befänden. Unabhängig davon habe die Staatsanwaltschaft Istanbul die Festnahme von 158 Personen angeordnet, darunter Militärs, Ärzte und Lehrer. Zudem gebe es Razzien gegen Mitglieder der Luftwaffe und andere Sicherheitskräfte. Bereits am 08.06.2010 war die Festnahme von 149 Personen angeordnet worden. Die meisten von ihnen seien ehemalige oder aktive Polizisten. Den Verdächtigen werde vorgeworden, am gescheiterten Militärputsch 2016 beteiligt gewesen zu sein und in Verbindung zu Gülen-Bewegung zu stehen. Schon in der vorangegangenen Woche waren 118 Haftbefehle gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger erlassen worden.
22.06.2020: COVID-19-Pandemie – Maßnahmen: Die Ausgangssperren im Land wurden aufgehoben. Ausnahmen gelten nur noch für Menschen ab 65 Jahren. Auch die inländischen Reisebeschränkungen gelten seit dem 01.06.20 nicht mehr. Die Türkei hat das Einreiseverbot für deutsche Staatsangehörige bereits am 11.06.20 aufgehoben. Auch die Land- und Seegrenzen der Türkei sind wieder offen, mit Ausnahme der Landgrenze zu Iran. Auf Marktplätzen, in Supermärkten und in öffentlichen Verkehrsmitteln gilt eine Schutzmasken-Pflicht, Abstandsregel (drei Schritte) sind einzuhalten. In einigen Städten und Gegenden muss im gesamten öffentlichen Raum eine Maske getragen werden, wie z.B. in den wieder offenen Friseurgeschäften und Einkaufszentren sowie den bis 24 Uhr geöffneten Restaurants und Cafés. Zwei Wochen nach der Lockerung nimmt die Zahl der erfassten Neuinfektionen wieder zu. Die Regierung prüft derzeit, inwiefern neue Schutzmaßnahmen ergriffen werden müssen, die auch regional begrenzt sein können.
Das Parlament hat am 11.06.20 trotz scharfer Kritik der Opposition die Befugnisse der Hilfspolizei ausgeweitet, die vor allem abends und nachts in Wohnvierteln patrouilliert. Die auch als „Wächter“ oder „Nachtadler“ bezeichneten Ordnungskräfte dürfen nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu nun Schusswaffen tragen und anwenden, Fahrzeuge anhalten, Ausweise kontrollieren und Leibesvisitationen vornehmen. Darüber hinaus dürfen sie z.B. bis zum Eintreffen der Polizei Maßnahmen ergreifen, um Proteste und Märsche zu verhindern, die die öffentliche Ordnung stören. Verhaftungen und Verhöre sind ihnen aber nicht gestattet. Sie unterstehen wie Polizei und Gendarmerie dem Innenministerium. Ihre Ausbildungszeit beträgt drei Monate. Nach Angaben des Innenministers sind derzeit landesweit mehr als 20.000 Hilfspolizisten im Einsatz, zukünftig sollen es bis zu 30.000 werden. Eine ähnliche Institution hatte es bereits bis 2008 gegeben. Präsident Erdo?an hatte nach dem Putschversuch von 2016 die Wiederbelebung verkündet, die ersten Einsätze gab es dann 2017. Die Opposition sieht die Entwicklung mit Sorge, kritisiert die umfangreichen Befugnisse und wirft der Regierungspartei AKP vor, eine eigene Miliz gründen zu wollen.
29.06.2020: Am 24.06.20 begann in Istanbul der Prozess gegen den Chefeditor von OdaTV, Muyesser Yildiz, und sieben weitere Angeklagte wegen Geheimnisverrates. Die Angeklagten hatten über die Tätigkeiten des türkischen Geheimdienstes in Libyen berichtet und dabei konkrete Personen benannt, denen sie illegale Aktivitäten vorwarfen. OdaTV mit Sitz in Ankara ist politisch kritisch gegenüber der derzeitigen Regierung eingestellt.
06.07.2020: Im Prozess gegen den ehemaligen Leiter der türkischen Sektion von Amnesty International (AI), Taner Kilic, und weitere Angeklagte sind am 03.07.20 die Urteile gefallen. Kilic wurde wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Ihm wird Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung und Beteiligung am Putsch 2016 vorgeworfen. Drei seiner Mitarbeiter wurden wegen Beihilfe zu einem Jahr und einem Monat Gefängnis verurteilt. Sieben weitere Mitarbeiter wurden für unschuldig befunden, unter ihnen der Deutsche Peter Steudtner und der Schwede Ali Gharavi. Der Prozess wie auch die Urteile wurden weitgehend als politisch motiviert wahrgenommen.
13.07.2020: Das Parlament verabschiedete am 11.07.20 eine umstrittene Gesetzesänderung zur Neuorganisation der Anwaltskammern. Seit Wochen protestierten Rechtsanwälte gegen Pläne der Regierung zur Zulassung alternativer Anwaltskammern. Mit einem symbolischen Marsch nach Ankara zum Parlament wollten Rechtsanwälte am 04.07.20 darauf aufmerksam machen. Polizisten stoppten die Kundgebung, mit der Begründung, die Teilnehmer verstießen gegen die Vorschriften des Social Distancing zur Bekämpfung des Coronavirus.
Das bisherige System der türkischen Anwaltskammern verschaffte den Rechtsanwälten relativ viel Unabhängigkeit und Einfluss. Das neue Gesetz sieht sogenannte Multi-Anwaltskammern vor. Künftig sollen die Mitglieder von Kammern, in der mehr als 5000 Anwälte organisiert sind, dazu befugt sein, alternative Kammern zu gründen, sofern Unterschriften von mindestens 2.000 Anwälten zusammenkommen, die das wollen. Durch die Neuregelung wird auch die proportionale Vertretung in der nationalen Dachorganisation abgeschafft. In den drei größten Städten der Türkei - Istanbul, Ankara und Izmir - sind derzeit zwischen 10.000 und 50.000 Anwälte in einer Kammer organisiert. Allein in Istanbul residiert ein Drittel aller türkischen Advokaten. Theoretisch könnten in jeder dieser Städte mindestens fünf neue Kammern gegründet werden. Auch die Kammer in Antalya mit rund 5.000 Mitglieder könnte von der neuen Regelung betroffen sein. Bisher gibt es in jeder Provinz nur eine Anwaltskammer, in der jeder Anwalt Mitglied sein muss. Die Regierung, wolle nach Befürchtungen von Kritikern nun neue Kammern schaffen, deren Mitglieder auf der Linie der Regierungspartei AKP seien.
Durch die Entscheidung des Obersten Verwaltungsgerichts in Ankara vom 10.07.20 wurde der Status der einstigen Kirche Hagia Sophia als Museum annulliert und damit der Weg für eine erneute Umwandlung in eine Moschee freigemacht. Nach Medienberichten begründete das Gericht seine Entscheidung damit, dass die Hagia Sophia Eigentum einer von Sultan Mehmet II. gegründeten Stiftung sei. Der Sultan hatte die Hagia Sophia 1453 in eine Moschee umgewandelt. Damit sei sie als Moschee definiert und dürfe nur zu diesem Zweck genutzt werden. Staatspräsident Erdo?an erklärte, dass die Hagia Sophia nun bereits in zwei Wochen als Moschee genutzt werden könne. Die Hagia Sophia wurde im 6. Jahrhundert n. Chr. erbaut und war Hauptkirche des Byzantinischen Reiches. Nach der Eroberung des damaligen Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 wandelte sie Sultan Mehmet II. in eine Moschee um und ließ als äußeres Kennzeichen vier Minarette anfügen. Auf Betreiben des türkischen Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk ordnete der Ministerrat im Jahr 1935 die Umwandlung der Hagia Sophia in ein Museum an.
20.07.2020: Am 16.07.20 wurde der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel von einem Gericht in Istanbul in Abwesenheit wegen Propaganda für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu zwei Jahren, neun Monaten und 22 Tagen Haft verurteilt. Der Journalist saß fast ein Jahr in der Türkei in Untersuchungshaft, ehe er im Februar 2018 freikam und nach Deutschland ausreiste. Hintergrund der Anklage waren unter anderem Artikel, die er in seiner Zeit als TürkeiKorrespondent für die Zeitung Die Welt veröffentlicht hatte. Nach Medienberichten sprach ihn das Gericht vom Vorwurf der Volksverhetzung und der Propaganda für die Gülen-Bewegung frei. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Yücel erklärte, in Berufung gehen zu wollen. Das Gericht gab zudem bekannt, dass zwei weitere Ermittlungen gegen Yücel liefen, dabei werde ihm Beleidigung des Präsidenten und des türkischen Staates vorgeworfen.
27.07.2020: Nach einem am 21.07.20 veröffentlichten Gesetzentwurf beabsichtigt die Regierung, die Kontrolle über die sozialen Medien weiter auszubauen. Demnach sollen Twitter, Facebook und andere Plattformen unter anderem dazu verpflichtet werden, Niederlassungen in der Türkei mit einem türkischen Staatsbürger als Vertreter zu eröffnen. Sollten Anbieter diesen Regelungen nicht nachkommen, drohen Strafen und Einschränkungen der Dienste. Bei Verstößen von Inhalte im Netz gegen geltende Regeln, drohten den künftigen Vertretern im Land Strafanzeigen. Bei Diensten, die keine Niederlassungen in der Türkei eröffnen, soll die Bandbreite um bis zu 90 % reduziert werden. Das Parlament muss das von den Regierungsparteien Adalet ve Kalk?nma Partisi (AKP) und Milliyetçi Hareket Partisi (MHP) eingebrachte Gesetz noch beschließen.
Die größte Oppositionspartei der Türkei, die Republikanische Volkspartei (CHP), hielt am 25. und 26.07.20 ihren 37. Parteitag im Bilkent Odeon Kongresszentrum in Ankara ab. Am ersten Tag wählten die Delegierten den Parteivorsitzenden, am zweiten Tag die 60 Mitglieder der Fraktion. Dabei wurde der bisherige Parteivorsitzende Kemal Kilicdaroglu wiedergewählt. Er ist seit 2010 Parteivorsitzender und trat sein Amt auf dem 33. ordentlichen Parteitag an, der nach dem Rücktritt des ehemaligen Vorsitzenden Deniz Baykal stattfand. Aufgrund der COVID-19-Pandemie fand der Parteitag ohne Gäste statt. Die 1.356 stimmberechtigten Delegierten mussten sich am Einlass einer Temperaturkontrolle unterziehen, die Sitzordnung wurde so gestaltet, dass die Mindestabstände in dem 4.000 Sitze umfassenden Saal eingehalten werden konnten.
10.08.2020: In mehreren türkischen Städten demonstrierten vergangene Woche Frauen gegen frauenfeindliche Gewalt. Die Demonstrantinnen hielten Schilder mit den Namen getöteter Frauen hoch oder trugen Oberteile mit den Namen der Opfer. In Izmir wurden nach Medienberichten mehrere Demonstrantinnen festgenommen. Die Frauen protestierten insbesondere auch gegen die Erwägungen der Regierung aus der Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen auszutreten. Das Abkommen wurde 2011 vom Europarat ausgearbeitet und soll einen europaweiten Rechtsrahmen schaffen, um Frauen vor Gewalt zu schützen.
Da die Zahl der Neuinfektionen in der Türkei zuletzt wieder über die Marke von 1000 pro Tag gestiegen ist, beabsichtigt das Innenministerium die Maßnahmen gegen das Coronavirus wieder zu verschärfen. So sollen keine Verstöße gegen das obligatorische Tragen von Masken und Wahren von Abstand akzeptiert werden, beispielsweise bei Hochzeiten und Beschneidungszeremonien. Versammlungen nach Beerdigungen würden eingeschränkt und die Kontaktverfolgung von Beamten unterstützt. Die deutsche Bundesregierung hat zum 04.08.20 die Reisewarnung für die Türkei teilweise aufgehoben. Die Warnung gilt damit nicht mehr für die vier türkischen Küstenprovinzen Antalya, Izmir, Aydin und Mugla. Allerdings müssen sich alle Türkei-Reisenden innerhalb von 48 Stunden vor ihrer Rückkehr dort auf eigene Kosten auf eine mögliche Corona-Infektion hin testen lassen und weitere Sicherheitsauflagen einhalten. Begründet wurde die Entscheidung damit, dass in den genannten Provinzen mit etwa fünf Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in sieben Tagen die Ansteckungsgefahr relativ gering sei, zudem habe die Türkei ein spezielles Tourismus- und Hygienekonzept entwickelt.
2. Politische Lage
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 14.6.2019). Diese Entwicklung wurde mit der Parlamentsund Präsidentschaftswahl im Juni 2018 abgeschlossen, u.a. wurde das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft (bpb 9.7.2018).
Die Venedig Kommission des Europarates zeigte sich in einer Stellungnahme zu den Verfassungsänderungen besorgt, da mehrere Kompetenzverschiebungen zugunsten des Präsidentenamtes die Gewaltenteilung gefährden, und die Verfassungsänderungen die Kontrolle der Exekutive über Gerichtsbarkeit und Staatsanwaltschaft in problematischer Weise verstärken würden. Ohne Gewaltenkontrolle würde sich das Präsidialsystem zu einem autoritären System entwickeln (CoE-VC 13.7.2017).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die ZehnProzent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des EGMR nicht gesenkt. Die unter Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und es der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung