TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/14 W107 2201000-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.10.2020
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Entscheidungsdatum

14.10.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch


W107 2201000-1/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Sibyll BÖCK über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.06.2018 Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.09.2020 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsbürger Afghanistans, reiste schlepperunterstützt und unter Umgehung der Einreisebestimmungen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 09.01.2016 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 10.01.2016 wurde der Beschwerdeführer von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu seiner Identität, seiner Reiseroute, seinem Fluchtgrund und einer allfälligen Rückkehrgefährdung befragt. Als Beweggrund für seine Ausreise aus Afghanistan gab er im Wesentlichen an, von den Taliban mit dem Tod bedroht worden zu sein, weil er mit den Amerikanern beruflich zusammengearbeitet habe und er dort nicht mehr sicher sei.

Im Zuge der Einvernahme legte der Beschwerdeführer einen Reisepass (Pass-Nr.: XXXX ), ausgestellt am 04.10.2015 vom Passamt in XXXX , Afghanistan, vor.

3. Mit Eingabe vom 08.05.2017 legte der Beschwerdeführer zwei ÖSD-Sprachzertifikate (Niveau: A1 und A2), mehrere Teilnahmebestätigungen an Deutsch - Sprachkursen, die Besuchsbestätigung eines Wertekurses, mehrere Bestätigungen über die Verrichtung gemeinnütziger und ehrenamtlicher Tätigkeiten sowie über seine Teilnahme an verschiedenen Gemeinde-und Sportveranstaltungen vor.

4. Am 05.04.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA, belangte Behörde) in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Hier wiederholte er seinen Fluchtgrund aus der Erstbefragung und gab zusammengefasst weiter an, aus der Provinz Ghazni, XXXX , Dorf XXXX zu stammen, wo seine finanziell gut gestellten Eltern – zu denen er auch Kontakt habe - ein Haus und landwirtschaftliche Grundstücke (Weizenanbau) im Ausmaß von 15 Jirib besäßen; er habe 12 Jahre Schule und 4 Jahre Universität absolviert und von 2006 bis 2015 für die Amerikaner gearbeitet. Zunächst als Projektmanager und Site Engineer bei der Firma „ XXXX “, die einen Vertrag mit den Amerikanern hatte, und 2010 für 3 Monate als Assistant Site Manager für das Unternehmen „ XXXX wo er in einem Camp, in welchem auch amerikanische und polnische Soldaten stationiert gewesen seien, gelebt habe. Dort habe er öfter das Camp verlassen müssen, um Besorgungen durchzuführen. Insgesamt sei er zweimal verfolgt worden, aber es sei ihm nichts passiert. Die erste Bedrohung habe am 20.12.2010 stattgefunden, als er für die Firma XXXX tätig gewesen sei. Er sei an diesem Tag in der Nähe von XXXX alleine im Auto unterwegs gewesen, als drei vor ihm fahrende Taxis von bewaffneten Männern aufgehalten worden seien. Er habe daher sofort umgedreht. Die Männer hätten von hinten auf ihn geschossen, ihn jedoch verfehlt; seiner Meinung nach müssten es Taliban oder Diebe gewesen sein. Drei Stunden später habe ihn aber ein Unbekannter angerufen und gesagt, dass er das nächste Mal nicht mehr entkommen werde; nun sei er sicher gewesen, dass es sich um Taliban gehandelt habe. Da er in Folge aus Angst für einen Auftrag entgegen der Anordnung seiner Firma nicht den Landweg benützt habe, sei er entlassen worden. Der zweite Vorfall habe sich am 01.04.2015 ereignet, als er für etwa 9 Monate bei der Firma XXXX - Besitzer sei sein Cousin mütterlicherseits gewesen - angestellt gewesen sei. Der Beschwerdeführer sei abermals in der Nähe von XXXX auf einer abgelegenen Straße unterwegs gewesen und habe am Straßenrand ein Auto stehen gesehen. Zwei Männer seien plötzlich aus dem Straßengraben gesprungen, zu diesem Auto gelaufen und hätten ihn verfolgt. Er habe seine Geschwindigkeit erhöht, die Verfolger jedoch zunächst nicht abhängen können. Die Männer hätten wieder auf ihn geschossen und das Rücklicht seines Autos getroffen. Er habe jedoch auch diesmal entkommen können. In Folge sei er aus Angst nicht mehr zur Arbeit gegangen, sei etwa 5 Monate zu Hause geblieben und habe sich dann entschlossen, Afghanistan zu verlassen.

Ergänzend führte er aus, dass die Bedrohungen aber ab 2012 immer „schlimmer“ geworden seien, auch sein Cousin sei bedroht worden, dieser habe letztlich die Firma „ XXXX “ geschlossen und sei nach Kanada geflohen. Der Beschwerdeführer selbst sei nur deshalb noch länger in Afghanistan geblieben, weil er Hoffnung gehabt habe, dass „es sich bessert“. Bei ihm zu Hause seien die Taliban nie gewesen, hätten aber einmal seine Frau angerufen und gedroht, weil er noch immer arbeite. In sein Heimatdorf könnten die Taliban ohnedies nicht kommen, weil die Taliban von einem bestimmten Stamm seien; er selbst lebe unter den Hazara und das würde man diesen Menschen auch ansehen, daher würden die Taliban nicht in sein Dorf kommen können.

Befragt, ob jemals Übergriffe gegen seine Person stattgefunden hätten, wurde dies vom Beschwerdeführer verneint.

Zudem legte der Beschwerdeführer ein Dokument als Beweis für den Schulabschluss („Baccalaureate Certificate“), ein Dokument der Universität XXXX („Student’s Educational Career Transcript“), ein Schulzeugnis der zwölften Klasse, mehrere Arbeitsbescheinigungen betreffend Tätigkeiten bei den Firmen XXXX , XXXX und XXXX sowie Arbeitsnachweise betreffend seine Tätigkeiten in Afghanistan vor, weiter eine Meeting-List, eine Bestätigung zur ÖSD-Sprachprüfung auf dem Niveau „B1“ als nicht bestanden, eine ID-Card sowie sämtliche bereits mit Eingabe vom 08.05.2017 eingebrachten Unterlagen.

Zu seinen Plänen in Österreich befragt gab der Beschwerdeführer an, an der Universität in Wien studieren zu wollen und er gehe davon aus, dass ihm der Staat dabei helfen werde.

5. Mit nunmehr angefochtenem Bescheid des BFA vom 05.06.2018 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer nicht erteilt (Spruchpunkt III.); gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

6. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seinen amtswegig beigegebenen Rechtsvertreter fristgerecht vollumfänglich Beschwerde.

7. Mit E-Mail Eingabe vom 27.02.2019 übermittelte das BFA einen Bericht der LPD Oberösterreich, Zweigstelle XXXX , zum Vorbringen des Beschwerdeführers betreffend Probleme mit seinem Mitbewohner. Aus diesem Bericht geht hervor, dass der Beschwerdeführer bekannt dafür sei, mit allen Mitbewohnern Probleme zu haben, voraussichtlich, um dadurch eine eigene Wohnung zu bekommen.

8. Das BFA legte die Beschwerde und den Akt des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.

9. Mit Schriftsatz vom 15. 07.2020 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine Anfrage der Volksanwaltschaft zur die Verfahrensdauer betreffend das gegenständliche Verfahren ein.

10. Mit Eingabe vom 29.07.2020 wurde erneut ein Konvolut an (grundsätzlich mit den im BFA-Akt befindlichen identen) Unterlagen betreffend den Beschwerdeführer vorgelegt (OZ 12).

11. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 15.09.2020 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari, eines länderkundigen Sachverständigen (im Folgenden: SV), dreier Vertrauenspersonen des Beschwerdeführers sowie des ausgewiesenen Rechtsvertreters des Beschwerdeführers eine öffentliche, mündliche Beschwerdeverhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen wurde. Vertreter der belangten Behörde sind nicht erschienen.

In die Verhandlung wurden zudem die aktuellste, am Tag der Verhandlung verfügbare Version des Länderinformationsblatts zu Afghanistan (Stand: 13.11.2019, in der Fassung der Kurzinformationen vom 21.07.2020) und die Berichte von EASO und UNHCR (in den aktuellen Fassungen) sowie jene, die in der gegenständlichen Beschwerde angeführt wurden, in das Verfahren eingeführt.

Der länderkundige Sachverständige (in der Folge: SV) erstattete ein mündliches Gutachten zur politischen und menschenrechtlichen Situation bzw. zur Sicherheitslage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers im Lichte seines Vorbringens. Den Parteien wurde in der Verhandlung die Gelegenheit gegeben zum Gutachten des SV Stellung zu nehmen und Fragen an den SV zu stellen. Darüber hinaus wurde dem Beschwerdeführer eine Frist von fünfzehn Tagen zur Erstattung einer Stellungnahme betreffend das Gutachten und die eingeführten Länderberichte eingeräumt.

12. Mit Schreiben vom 30.09.2020 übermittelte der Beschwerdeführer, vertreten durch den ausgewiesenen Rechtsvertreter, eine Stellungnahme zum mündlich erstatteten Gutachten des länderkundigen Sachverständigen und den in dieses Verfahren eingeführten Länderberichten. Dem Schreiben sind eine ärztliche Überweisung und ein Empfehlungsschreiben beigelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den zugrundeliegenden Verwaltungsakt, insbesondere durch Einsicht in die im Verfahren vorgelegten Dokumente, Unterlagen und Befragungsprotokolle, Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und Einholung gutachterlicher Ausführungen eines länderkundigen Sachverständigen im Rahmen der mündlichen Verhandlung, Einsicht in die ins Verfahren eingebrachten Länderberichte sowie Einsicht in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Fluchtvorbringen:

Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen, wobei er den Familiennamen „ XXXX “ selbst gewählt hat (VP. S. 7) und ist volljähriger Staatsangehöriger von Afghanistan. Seine Muttersprache ist Dari. Der Familienname des Vaters lautet XXXX (VP S. 7). Er kann in Dari lesen und schreiben. Zudem spricht er Englisch. Er gehört der Volksgruppe der Hazara, Stamm der Sadat, an und bekennt sich zum Islam schiitischer Ausrichtung.

Der Beschwerdeführer legte bereits im Zuge seiner Erstbefragung am 10.01.2016 einen Reisepass (Pass-Nr.: XXXX , BFA-Akt, AS 31,33), datiert 04.10.2015, ausgestellt vom Passamt in XXXX vor. Laut Reisepass ist der Beschwerdeführer in XXXX , Afghanistan geboren (VP, Beilagen ./2). Ebenso eine Tazkira (BFA-Akt, AS 27), einen Führerschein, ein Flugticket Afghanistan – Iran, ein Schiffsticket von Mitilini nach Piräus, Griechenland, und ein Zugticket von Schärding nach Linz (Beilagen zu Niederschrift vom 10.01.2016).

Mit Eingabe der LPD Oberösterreich vom 09.01.2017 wurde zum Untersuchungsauftrag des BFA vom 21.12.2016 betreffend die Echtheitsprüfung des vom Beschwerdeführer vorgelegten Reisepasses ausgeführt, dass es sich um ein Originaldokument handle und keine Abänderungen in den Ausfüllschriften bzw. keine Auswechslung des Lichtbildes habe festgestellt werden können (BFA-Akt, AS 71 u 73).

Mit den gutachterlichen Ausführungen des länderkundigen Sachverständigen wird festgestellt, dass die vorgelegte Tazkira auf Seite 4 insofern einen Mangel aufweist, als weder die Unterschrift des Passinhabers noch ein Fingerabdruck des Inhabers, wie in der oberen rechten Spalte der Tazkira in gedruckter Form gefordert, vorkommen. Der bei Fehlen der Unterschrift oder des Fingerabdrucks erforderliche Originalstempel des afghanischen Innenministeriums als öffentliche Behörde auf dem bzw. über dem Foto ist nicht vorhanden (VP S. 18). Die über telefonische Aufforderung aus dem Verhandlungssaal am 15.09.2020 (S. 13) neuerlich übermittelte Kopie der Tazkira durch das BFA in sehr guter Auflösung lässt eindeutig erkennen, dass Fingerabdruck sowie Unterschrift des Inhabers fehlen und sich weder ganz noch teilweise ein Stempel auf bzw. über dem Foto befindet. Die Identität des Beschwerdeführers steht somit mangels Vorlage unbedenklicher Identitätsnachweise nicht fest.

Der Beschwerdeführer ist in der Provinz Ghazni XXXX geboren und aufgewachsen und dort im Verband der Familie (seinen Eltern, vier Schwestern und einem Bruder) im elterlichen Haus aufgewachsen. Neben diesem Haus standen und stehen aktuell auch mehrere Grundstücke im Heimatdorf im Eigentum der Familie. Diese sind insgesamt etwa 15 Jirib groß, was einer Fläche von etwa 30 km2 entspricht. Auf diesen Grundstücken werden Weizen und Kartoffeln angebaut, das Heu wird zur Fütterung der eigenen Tiere verwendet. Die Familie besitzt mehrere Nutztiere, vier Kühe, einige Kälber und fünfzehn Schafe. Die Familie- zu der seit 2008 auch die Ehefrau des Beschwerdeführers und deren drei minderjährige Kinder gehören - bestreitet ihren Lebensunterhalt wie bisher durch die Ernte und den teilweisen Verkauf, die Nutzung der Tiere und die finanzielle Hilfe einer Schwester des Beschwerdeführers. Die finanzielle Situation der Familie des Beschwerdeführers in Afghanistan ist insgesamt gut.

Der Beschwerdeführer hat fünf Geschwister: Der Bruder, XXXX , arbeitet als Bauarbeiter und lebt in XXXX , Iran. Eine Schwester ist bereits verstorben, die ältere Schwester, XXXX , lebt in Australien. Eine weitere Schwester, XXXX , lebt mit ihrem Mann in der Nähe des Heimatdorfes in Afghanistan. Deren Ehemann besitzt ein Auto und „transportiert Leute von einem Ort zu einem anderen“. Seine Schwester XXXX lebt mit ihrem Ehemann in XXXX ; dieser ist Bauer und besitzt Grundstücke in XXXX , Ghazni. Darüber hinaus lebt ein Onkel mütterlicherseits namens XXXX in XXXX . Eine Tante mütterlicherseits lebt in XXXX . Einem Cousin des Beschwerdeführers, XXXX , gehörte früher die Firma „ XXXX “, bei der auch der Beschwerdeführer 2015 gearbeitet hat. Die Firma existiert nicht mehr, der Cousin lebt aktuell in Kanada.

Der Beschwerdeführer besuchte insgesamt zwölf Jahre die Schule in Ghazni.

Das vom Beschwerdeführer vorgelegte „Baccalaureate Certificate“ aus dem Jahr 2009 als Bestätigung für den Schulabschluss wurde von einer privaten Organisation („Partners for Social Development, PSD Promoting Civic Awareness Program, PCA Education Section“) ausgestellt und nicht von einer öffentlichen afghanischen Behörde, zB dem afghanischen Unterrichtsministerium (VP Beilagen ./2). Es finden sich darauf keine Noten (VP S. 20).

Anschließend studierte er von 2001 bis 2005 Mathematik an der Universität in XXXX , Fakultät Science und Hochmathematik. Das vorgelegte Dokument der Universität XXXX lautet auf den Namen des Beschwerdeführers. Während des Studiums wohnte er in Kabul am Universitätscampus in einem Zimmer mit acht Personen.

Den Namen des Wissenschaftsministers zur Zeit seines Studiums konnte der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht nennen (VP S.6).

Der Beschwerdeführer hat 2008 traditionell im Distrikt XXXX geheiratet. Seine Frau XXXX stammt aus dem XXXX , in der Nähe von XXXX . Dieser Ehe entstammen die zwei minderjährigen Töchter XXXX und XXXX sowie der mj. Sohn XXXX . Die Ehefrau und die drei minderjährigen Kinder des Beschwerdeführers leben und wohnen aktuell bei seinen Eltern im Heimatdorf. Der Beschwerdeführer steht in telefonischen Kontakt zu seiner Ehefrau und seinen Eltern. Der Familie geht es gut.

Der Beschwerdeführer ging in Afghanistan mehreren beruflichen Tätigkeiten nach: Von 2006 bis 2010 arbeitete er für die Firma „ XXXX “ als Projektmanager und Site Engineer. Dabei handelte es sich um ein „Civil Engineering“ Unternehmen ( XXXX mit Sitz in XXXX und ein Joint Venture zwischen einem afghanischen und einem amerikanischen Unternehmen. Von Oktober 2010 bis Jänner 2011 war er für das türkische Unternehmen „ XXXX “ in Afghanistan als Assistant Site Manager tätig. Im Rahmen dieser Tätigkeit arbeitete der Beschwerdeführer in Ghazni an Bauprojekten in militärischen Camps in verschiedenen Teilen Afghanistans; dort waren amerikanische und polnische Soldaten stationiert. In den Jahren 2010 und 2011 war er für insgesamt neun Monate bei der afghanischen Firma „ XXXX die seinem Cousin mütterlicherseits namens XXXX gehörte, als Projektmanager angestellt. Diese Firma war „Hauptvertragsträger“ der amerikanischen Armee (VP S. 16). Bei der Firma „ XXXX “ war er sechs Monate als Projektmanager tätig. Ab dem Jahr 2012 arbeitete der Beschwerdeführer als selbständiger Architekt mit seiner eigenen Firma „ XXXX “ tätig und besaß dafür einen Gewerbeschein (VP, Beilagen ./2). Sein Teilhaber war sein Schulfreund namens XXXX (VP S. 10). Diese Firma existiert aktuell nicht mehr (VP S. 12).

Der Beschwerdeführer selbst veröffentlichte 2012 Fotos in Afghanistan via Internet, auf denen er mit Amerikanern, unter anderem mit XXXX , einer Generalmajorin der US Armee, zu sehen war (VP S. 12; Beilagen ./2).

Der Beschwerdeführer reiste im Jahr 2015 nach XXXX um den beantragten Reisepass abzuholen. Von dort fuhr er mit dem Reisepass nach Mazar-e Sharif und beantragte schriftlich am 07.11.2015 beim iranischen Konsulat ein Visum für den Iran. Anschließend fuhr er zurück in das Heimatdorf. Einige Tage später holte er das Visum aus Mazar-e Sharif ab (BFA-Akt. AS 135) und reiste am 10.11.2015 per Flugzeug legal nach XXXX Iran. Der Beschwerdeführer war ca. einen Monat in XXXX und XXXX aufhältig, um einen Schlepper zu finden. In dieser Zeit lebte er bei seinem Bruder in XXXX . Ende 2015 reiste er vom Iran aus Richtung Europa.

Im Januar 2016 reiste der Beschwerdeführer illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 09.01.2016 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Festgestellt wird, dass dem Beschwerdeführer die Niederschrift im Verfahren vor dem BFA am 05.04.2018 wortwörtlich rückübersetzt, von ihm, ohne Einwände zu erheben, unterschrieben wurde und er die explizit gestellte Frage, ob alles richtig protokolliert worden und vollständig sei, bejahte (BFA-Akt, 141, 142).

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat jemals einer konkret gegen seine Person gerichteten Bedrohung oder Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Gesinnung ausgesetzt gewesen wäre oder ihm im Falle seiner Rückkehr eine solche droht.

1.2. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer hält sich seit Anfang Januar 2016 durchgehend in Österreich auf. Er besuchte mehrere Deutsch-Sprachkurse und bestand die ÖSD-Sprachprüfungen bis (inklusive) Niveau A2. Der Beschwerdeführer spricht verständliches Deutsch (VP S.15).

Der Beschwerdeführer lebt aktuell mit drei Mitbewohnern in einem Wohn-Container in der Gemeinde XXXX in Oberösterreich. Laut Bericht der LPD Oberösterreich hat er oft Probleme mit seinen Mitbewohnern und dies auch bei der Polizei angezeigt (OZ 9). Er bezieht nach wie vor Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung.

Der Beschwerdeführer hat keine Verwandten oder Familienangehörigen in Österreich und führt hier auch keine Lebensgemeinschaft. Er ist nicht Mitglied in einem Verein. Er hat einen Freundeskreis bestehend aus Afghanen und Österreichern, besonders verfestigte Sozialkontakte zu anderen Personen sind nicht hervorgekommen.

Der Beschwerdeführer zeigte während seines Aufenthalts in Österreich soziales Engagement: Zwischen Oktober 2016 und März 2017 verrichtete er gemeinnützige Tätigkeiten in der Marktgemeinde XXXX . Dabei nahm er Reinigungs- und Säuberungsarbeiten vor, half beim Abbau der Gesundheitstage 2016 mit und war auch im Zuge des Winterdienstes der Gemeinde (zB Schneeschaufeln, Eisentfernung) tätig. Zudem arbeitete er am Projekt „Blühendes XXXX “ der Marktgemeinde XXXX mit. Auch für die Stadtgemeinde XXXX war der Beschwerdeführer zwischen Oktober 2017 und April 2018 regelmäßig gemeinnützig tätig. Seit 2019 ist der Beschwerdeführer freiwilliger Mitarbeiter bei dem Projekt „resp@ct“ des Landes Oberösterreich. Dort hilft er (fremdsprachigen) Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die über geringe Schulbildung verfügen, in seiner Muttersprache Dari in den Fächern Mathematik und Englisch (VP Beilage ./1). Zur behaupteten Arbeitszusage – unter der Bedingung eines positiven Ergebnisses - (VP. S. 14) wurde keine Bestätigung vorgelegt.

Der Beschwerdeführer nimmt Tabletten gegen Magenschmerzen, Kopf – und Bauchschmerzen, legte eine Überweisung an einen Facharzt für chirurgische Ambulanz betreffend einen Nabelbruch („Hernia umbil“) ohne Datum vor, eine Arbeitsunfähigkeit wurde darauf nicht angemerkt. Der Beschwerdeführer leidet jedoch an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung; er ist arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers – Afghanistan:

Bezogen auf die Situation des Beschwerdeführers sind folgende Länderfeststellungen als relevant zu werten (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 mit Kurzinformationen bis einschließlich 21.07.2020):

Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

Aktueller Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan

Berichten zufolge, haben sich in Afghanistan mehr als 35.000 Menschen mit COVID-19 angesteckt (WHO 20.7.2020; vgl. JHU 20.7.2020, OCHA 16.7.2020), mehr als 1.280 sind daran gestorben. Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazitäten sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet (OCHA 16.7.2020; vgl. DS 19.7.2020). 10 Prozent der insgesamt bestätigten COVID-19-Fälle entfallen auf das Gesundheitspersonal. Kabul ist hinsichtlich der bestätigten Fälle nach wie vor der am stärksten betroffene Teil des Landes, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar (OCHA 15.7.2020). Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht haben, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen hätte (TN 14.7.2020). Am 18.7.2020 wurde mit 60 neuen COVID-19 Fällen der niedrigste tägliche Anstieg seit drei Monaten verzeichnet – wobei an diesem Tag landesweit nur 194 Tests durchgeführt wurden (AnA 18.7.2020).

Krankenhäuser und Kliniken berichten weiterhin über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19. Diese Herausforderungen stehen im Zusammenhang mit der Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA), Testkits und medizinischem Material sowie mit der begrenzten Anzahl geschulter Mitarbeiter - noch verschärft durch die Zahl des erkrankten Gesundheitspersonals. Es besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an mehr Laborequipment sowie an der Stärkung der personellen Kapazitäten und der operativen Unterstützung (OCHA 16.7.2020, vgl. BBC-News 30.6.2020).

Maßnahmen der afghanischen Regierung und internationale Hilfe

Die landesweiten Sperrmaßnahmen der Regierung Afghanistans bleiben in Kraft. Universitäten und Schulen bleiben weiterhin geschlossen (OCHA 8.7.2020; vgl. RA KBL 16.7.2020). Die Regierung Afghanistans gab am 6.6.2020 bekannt, dass sie die landesweite Abriegelung um drei weitere Monate verlängern und neue Gesundheitsrichtlinien für die Bürger herausgeben werde. Darüber hinaus hat die Regierung die Schließung von Schulen um weitere drei Monate bis Ende August verlängert (OCHA 8.7.2020). Berichten zufolge werden die Vorgaben der Regierung nicht befolgt, und die Durchsetzung war nachsichtig (OCHA 16.7.2020, vgl. TN 12.7.2020). Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus unterscheiden sich weiterhin von Provinz zu Provinz, in denen die lokalen Behörden über die Umsetzung der Maßnahmen entscheiden. Zwar behindern die Sperrmaßnahmen der Provinzen weiterhin periodisch die Bewegung der humanitären Helfer, doch hat sich die Situation in den letzten Wochen deutlich verbessert, und es wurden weniger Behinderungen gemeldet (OCHA 15.7.2020).

Einwohner Kabuls und eine Reihe von Ärzten stellten am 18.7.2020 die Art und Weise in Frage, wie das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) mit der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie im Land umgegangen ist, und sagten, das Gesundheitsministerium habe es trotz massiver internationaler Gelder versäumt, richtig auf die Pandemie zu reagieren (TN 18.7.2020). Es gibt Berichte wonach die Bürger angeben, dass sie ihr Vertrauen in öffentliche Krankenhäuser verloren haben und niemand mehr in öffentliche Krankenhäuser geht, um Tests oder Behandlungen durchzuführen (TN 12.7.2020).

Beamte des afghanischen Gesundheitsministeriums erklärten, dass die Zahl der aktiven Fälle von COVID-19 in den Städten zurückgegangen ist, die Pandemie in den Dörfern und in den abgelegenen Regionen des Landes jedoch zunimmt. Der Gesundheitsminister gab an, dass 500 Beatmungsgeräte aus Deutschland angekauft wurden und 106 davon in den Provinzen verteilt werden würden (TN 18.7.2020).

Am Samstag den 18.7.2020 kündete die afghanische Regierung den Start des Dastarkhan-e-Milli-Programms als Teil ihrer Bemühungen an, Haushalten inmitten der COVID-19-Pandemie zu helfen, die sich in wirtschaftlicher Not befinden. Auf der Grundlage des Programms will die Regierung in der ersten Phase 86 Millionen Dollar und dann in der zweiten Phase 158 Millionen Dollar bereitstellen, um Menschen im ganzen Land mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die erste Phase soll über 1,7 Millionen Familien in 13.000 Dörfern in 34 Provinzen des Landes abdecken (TN 18.7.2020; vgl. Mangalorean 19.7.2020).

Die Weltbank genehmigte am 15.7.2020 einen Zuschuss in Höhe von 200 Millionen US-Dollar, um Afghanistan dabei zu unterstützen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten (WB 10.7.2020; vgl. AN 10.7.2020).

Auszugsweise Lage in den Provinzen Afghanistans

Dieselben Maßnahmen – nämlich Einschränkungen und Begrenzungen der täglichen Aktivitäten, des Geschäftslebens und des gesellschaftlichen Lebens – werden in allen folgend angeführten Provinzen durchgeführt. Die Regierung hat eine Reihe verbindlicher gesundheitlicher und sozialer Distanzierungsmaßnahmen eingeführt, wie z.B. das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken an öffentlichen Orten, das Einhalten eines Sicherheitsabstandes von zwei Metern in der Öffentlichkeit und ein Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen. Öffentliche und touristische Plätze, Parks, Sportanlagen, Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen sind geschlossen; die Dienstzeiten im privaten und öffentlichen Sektor sind auf 6 Stunden pro Tag beschränkt und die Beschäftigten werden in zwei ungerade und gerade Tagesschichten eingeteilt (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

Die meisten Hotels, Teehäuser und ähnliche Orte sind aufgrund der COVID-19 Maßnahmen geschlossen, es sei denn, sie wurden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (RA KBL 16.7.2020; vgl. OCHA 8.7.2020).

In der Provinz Kabul gibt es zwei öffentliche Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln mit 200 bzw. 100 Betten. Aufgrund der hohen Anzahl von COVID-19-Fällen im Land und der unzureichenden Kapazität der öffentlichen Krankenhäuser hat die Regierung kürzlich auch privaten Krankenhäusern die Behandlung von COVID-19-Patienten gestattet. Kabul sieht sich aufgrund von Regen- und Schneemangel, einer boomenden Bevölkerung und verschwenderischem Wasserverbrauch mit Wasserknappheit konfrontiert. Außerdem leben immer noch rund 12 Prozent der Menschen in Kabul unter der Armutsgrenze, was bedeutet, dass oftmals ein erschwerter Zugang zu Wasser besteht (RA KBL 16.7.2020; WHO o.D).

In der Provinz Balkh gibt es ein Krankenhaus, welches COVID-19 Patienten behandelt und über 200 Betten verfügt. Es gibt Berichte, dass die Bewohner einiger Distrikte der Provinz mit Wasserknappheit zu kämpfen hatten. Darüber hinaus hatten die Menschen in einigen Distrikten Schwierigkeiten mit dem Zugang zu ausreichender Nahrung, insbesondere im Zuge der COVID-19-Pandemie (RA KBL 16.7.2020).

In der Provinz Herat gibt es zwei Krankenhäuser die COVID-19 Patienten behandeln. Ein staatliches öffentliches Krankenhaus mit 100 Betten, das vor kurzem speziell für COVID-19-Patienten gebaut wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 19.3.2020) und ein Krankenhaus mit 300 Betten, das von einem örtlichen Geschäftsmann in einem umgebauten Hotel zur Behandlung von COVID-19-Patienten eingerichtet wurde (RA KBL 16.7.2020; vgl. TN 4.5.2020). Es gibt Berichte, dass 47,6 Prozent der Menschen in Herat unter der Armutsgrenze leben, was bedeutet, dass oft ein erschwerter Zugang zu sauberem Trinkwasser und Nahrung haben, insbesondere im Zuge der Quarantäne aufgrund von COVID-19, durch die die meisten Tagelöhner arbeitslos blieben (RA KBL 16.7.2020; vgl. UNICEF 19.4.2020).

Wirtschaftliche Lage in Afghanistan

Verschiedene COVID-19-Modelle zeigen, dass der Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs in Afghanistan zwischen Ende Juli und Anfang August erwartet wird, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung haben wird (OCHA 16.7.2020). Es herrscht weiterhin Besorgnis seitens humanitärer Helfer, über die Auswirkungen ausgedehnter Sperrmaßnahmen auf die am stärksten gefährdeten Menschen – insbesondere auf Menschen mit Behinderungen und Familien – die auf Gelegenheitsarbeit angewiesen sind und denen alternative Einkommensquellen fehlen (OCHA 15.7.2020). Der Marktbeobachtung des World Food Programme (WFP) zufolge ist der durchschnittliche Weizenmehlpreis zwischen dem 14. März und dem 15. Juli um 12 Prozent gestiegen, während die Kosten für Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis (minderwertige Qualität) im gleichen Zeitraum um 20 – 31 Prozent gestiegen sind (WFP 15.7.2020, OCHA 15.7.2020). Einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) und des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht (MAIL) zufolge sind über 20 Prozent der befragten Bauern nicht in der Lage, ihre nächste Ernte anzubauen, wobei der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die COVID-19-Beschränkungen als Schlüsselfaktoren genannt werden. Darüber hinaus sind die meisten Weizen-, Obst-, Gemüse- und Milchverarbeitungsbetriebe derzeit nur teilweise oder gar nicht ausgelastet, wobei die COVID-19-Beschränkungen als ein Hauptgrund für die Reduzierung der Betriebe genannt werden. Die große Mehrheit der Händler berichtete von gestiegenen Preisen für Weizen, frische Lebensmittel, Schafe/Ziegen, Rinder und Transport im Vergleich zur gleichen Zeit des Vorjahres. Frischwarenhändler auf Provinz- und nationaler Ebene sahen sich im Vergleich zu Händlern auf Distriktebene mit mehr Einschränkungen konfrontiert, während die große Mehrheit der Händler laut dem Bericht von teilweisen Marktschließungen aufgrund von COVID-19 berichtete (FAO 16.4.2020; vgl. OCHA 16.7.2020; vgl. WB 10.7.2020).

Am 19.7.2020 erfolgte die erste Lieferung afghanischer Waren in zwei Lastwagen nach Indien, nachdem Pakistan die Wiederaufnahme afghanischer Exporte nach Indien angekündigt hatte um den Transithandel zu erleichtern. Am 12.7.2020 öffnete Pakistan auch die Grenzübergänge Angor Ada und Dand-e-Patan in den Provinzen Paktia und Paktika für afghanische Waren, fast zwei Wochen nachdem es die Grenzübergänge Spin Boldak, Torkham und Ghulam Khan geöffnet hatte (TN 20.7.2020).

Einreise und Bewegungsfreiheit

Die Türkei hat, nachdem internationale Flüge ab 11.6.2020 wieder nach und nach aufgenommen wurden, am 19.7.2020 wegen der COVID-19-Pandemie Flüge in den Iran und nach Afghanistan bis auf weiteres ausgesetzt, wie das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur mitteilte (TN 20.7.2020; vgl. AnA 19.7.2020, DS 19.7.2020).

Bestimmte öffentliche Verkehrsmittel wie Busse, die mehr als vier Passagiere befördern, dürfen nicht verkehren. Obwohl sich die Regierung nicht dazu geäußert hat, die Reisebeschränkungen für die Bürger aufzuheben, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verhindern, hat sich der Verkehr in den Städten wieder normalisiert, und Restaurants und Parks sind wieder geöffnet (TN 12.7.2020).

Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).

In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (AF 24.6.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden (AF 24.6.2020). In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes (TN 15.6.2020). Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern (AF 24.6.2020; vgl. TN 15.6.2020). Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (TN 20.5.2020).

Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung

Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum Einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).

Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen(RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).

Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus Pakistan

Die Grenze zu Pakistan war fast drei Monate lang aufgrund der COVID-19-Pandemie gesperrt. Mit 22.6.2020 erhielt Pakistan an drei Grenzübergängen erste Exporte aus Afghanistan: frisches Obst und Gemüse wurde über die Grenzübergänge Torkham, Chaman und Ghulam Khan nach Pakistan exportiert. Im Hinblick auf COVID-19 wurden Standardarbeitsanweisungen (SOPs – standard operating procedures) für den grenzüberschreitenden Handel angewandt (XI 23.6.2020). Der bilaterale Handel soll an sechs Tagen der Woche betrieben werden, während an Samstagen diese Grenzübergänge für Fußgänger reserviert sind (XI 23.6.2020; vgl. UNHCR 20.6.2020); in der Praxis wurde der Fußgängerverkehr jedoch häufiger zugelassen (UNHCR 20.6.2020).

Pakistanischen Behörden zufolge waren die zwei Grenzübergänge Torkham und Chaman auf Ansuchen Afghanistans und aus humanitären Gründen bereits früher für den Transithandel sowie Exporte nach Afghanistan geöffnet worden (XI 23.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus dem Iran

Die Anzahl aus dem Iran abgeschobener Afghanen ist im Vergleich zum Monat Mai stark gestiegen. Berichten zufolge haben die Lockerungen der Mobilitätsmaßnahmen dazu geführt, dass viele Afghanen mithilfe von Schmugglern in den Iran ausreisen. UNHCR zufolge, gaben Interviewpartner/innen an, kürzlich in den Iran eingereist zu sein, aber von der Polizei verhaftet und sofort nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein (UNHCR 20.6.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020). Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

• Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

• Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (8.11.2019-6.2.2020) fort: 8 Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (9.8.-7.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres 12 Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens 6 Personen getötet und mehr als 10 verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019). Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020). Jahrelange konzertierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2020; vgl. SIGAR 30.1.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.3.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2020).

49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.3.2020).

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Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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