TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/26 W203 2202985-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 26.11.2020
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Entscheidungsdatum

26.11.2020

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
AVG §13 Abs7
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §31 Abs1

Spruch


W203 2202985-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Gottfried SCHLÖGLHOFER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Mag. Robert BITSCHE, Nikolsdorfergasse 7-11/15, 1050 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.06.2018, Zl. 1103404608 – 160131911 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16.10.2020

A)

1. beschlossen:

Das Verfahren wird – soweit sich die Beschwerde gegen Spruchpunkt I.) des angefochtenen Bescheides richtet – als gegenstandslos geworden eingestellt

und

2. zu Recht erkannt:

Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II.) bis VI.) des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Ziffer 13 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.

Gemäß 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 26.11.2021 erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz, BGBl. Nr. 1/1930 (B-VG), idgF, nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, stellte am 26.01.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am nächsten Tag wurde der Beschwerdeführer durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einer Erstbefragung unterzogen. Dabei gab er an, dass er am XXXX in Daikundi geboren worden und ledig sei. Er habe zuletzt als Gelegenheitsarbeiter gearbeitet. Sein familiäres Netzwerk bestehe aus seinen Eltern, einem Bruder und einer Schwester, die allesamt im Iran leben würden.

Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab er an, dass seine Aufenthaltskarte im Iran abgelaufen sei und er daher kein Aufenthaltsrecht mehr im Iran gehabt habe. Die Behörden hätten seine Aufenthaltskarte nicht mehr verlängern wollen. Er hätte wieder nach Afghanistan zurückkehren müssen, wo jedoch Krieg herrsche. Er habe aber nicht mehr dorthin zurückgewollt und sei aus diesem Grund nach Europa geflüchtet.

3. Wegen Zweifel an dem vom Beschwerdeführer angegebenen Geburtsjahr veranlasste das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde) eine sachverständige Volljährigkeitsbegutachtung.

4. In dem sachverständigen Gutachten des Zentrums für Anatomie und Zellbiologie der Medizinischen Universität Wien vom 21.06.2016 wurden die Methoden der forensischen Altersschätzung dargelegt. In einem zusammenfassenden Gesamtgutachten unter Berücksichtigung aller Untersuchungsergebnisse ergab sich zum Untersuchungszeitpunkt ein wahrscheinliches Alter von XXXX Jahren. Dem Gutachten zu Folge sei das vom Beschwerdeführer angegebene Geburtsdatum mit dem im Gutachten festgestellten Mindestalter vereinbar. Mit Verfahrensordnung des BFA vom 22.06.2016 stellte die belangte Behörde fest, dass der Beschwerdeführer spätestens am XXXX geboren worden sei.

5. Am 24.04.2018 wurde der Beschwerdeführer von der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen. Im Zuge der Einvernahme legte er ein Konvolut an Unterlagen, unter anderem zwei Prüfungszeugnisse des ÖIF (A1 und A2 bestanden), mehrere Teilnahme- und Kursbestätigungen sowie eine Schulbesuchsbestätigung vor und gab an, dass er in Afghanistan geboren worden sei, er jedoch nicht genau wisse, wo. Er wisse nur, dass seine Familie früher in Daikundi gewohnt habe. Er sei schiitischer Moslem und gehöre der Volksgruppe der Hazara an.

Im Alter von einem Jahr habe er gemeinsam mit seiner Familie Afghanistan in Richtung Iran verlassen. Dort habe er bis zum Jahr 2015 legal gelebt. Im Iran habe er vier Jahre lang eine staatliche Schule besucht. Nach seiner Schulzeit habe er auf einer Baustelle sowie in der Landwirtschaft gearbeitet. In Afghanistan habe er keine Verwandten mehr.

Zu seinen Fluchtgründen befragt führte der Beschwerdeführer aus, dass er nach dem Verlust seines Aufenthaltstitels im Iran viele Probleme bekommen habe. Er sei in dieser Zeit zweimal von der Polizei verhaftet und in ein Lager geschickt worden. Die Situation im Iran sei für ihn sehr schwierig gewesen. Man begegne dort vielen Polizisten und werde überall kontrolliert.

Im Iran habe er keine militärische Ausbildung absolviert. Einige seiner Freunde seien im Syrien-Krieg gestorben

Bei einer etwaigen Rückkehr nach Afghanistan habe er Angst um sein Leben. Er sei aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit nie verfolgt worden. Er habe auch sonst nie Probleme mit afghanischen oder iranischen Behörden, Polizei, privaten Personen oder kriminellen Organisationen gehabt.

Zu seinem Leben in Österreich befragt, führte er aus, dass er hier seine Schule beenden und eine Lehre bzw. Arbeit beginnen wolle. In Österreich habe er bereits viele Freunde kennengelernt. Er sei gesund.

6. Mit Stellungnahme vom 01.06.2018 führte der Beschwerdeführer aus, dass er zwar in Afghanistan geboren worden sei, er jedoch Zeit seines Lebens im Iran gelebt habe und dort aufgewachsen sei. In Afghanistan würde er als Iraner wahrgenommen werden und daher diskriminiert werden. Zudem habe er detailliert und lebensnahe seine Fluchtgründe geschildert. In Afghanistan habe er keinerlei Anknüpfungspunkte. Seine Familie lebe im Iran.

Er habe zudem bereits westliche Werte verinnerlicht und wäre in Afghanistan daher der Gefahr der Verfolgung durch die Taliban aufgrund einer unterstellten politischen Gesinnung wegen des Vorwurfes der Apostasie ausgesetzt. Zudem gehöre er als schiitischer Moslem und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara einer gefährdeten sozialen Gruppe in Afghanistan an. Des Weiteren stehe fest, dass die Sicherheitslage in ganz Afghanistan nach wie vor schlecht sei. Die afghanischen Sicherheitsbehörden seien nicht in der Lage, Privatpersonen vor Übergriffen durch die Taliban oder privaten Feinden zu schützen. Nach den allgemeinen Länderfeststellungen sei jedenfalls vom Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiären Schutz auszugehen. Im Falle einer Rückkehr würde er in eine aussichtslose Situation geraten. Er verfüge in den Großstädten Afghanistans über keinerlei Ortskenntnisse.

Zudem sei der Beschwerdeführer bereits seit zweieinhalb Jahren in Österreich und habe sich von Beginn an um eine umfassende Integration bemüht. Er habe bereits die A2-Prüfung absolviert und bemühe sich ständig, seine Deutschkenntnisse zu verbessern. Er habe sich auch bereits ein soziales Netzwerk in Österreich aufgebaut und besuche derzeit eine Hauptschule, die er im Sommer abschließen werde. Er sei daher in Österreich umfassend sozial und sprachlich integriert.

7. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 29.06.2018 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen, da er eine Verfolgung nicht glaubhaft machen habe können. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und es wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV). Im Bescheid wurde weiters festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und es wurde dem Beschwerdeführer eine Frist zur freiwilligen Ausreise in der Dauer von zwei Wochen gewährt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde ausgeführt, dass nicht festgestellt habe werden können, dass der Beschwerdeführer zu befürchten habe, in Afghanistan von staatlicher Seite oder Privatpersonen oder aufgrund der Rasse, ethnischen Zugehörigkeit, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe verfolgt zu werden oder ihn eine sonstige Bedrohungssituation im Falle einer Rückkehr erwarten würde.

Er habe nicht glaubhaft vorgebracht, dass er wegen der unmittelbaren Bedrohung seines Lebens den Iran oder Afghanistan verlassen habe. Eine Verfolgung von Seiten des afghanischen Staates habe er nicht vorgebracht. Er habe zudem auch aufgrund von Widersprüchen nicht glaubhaft darlegen können, dass er seinen Aufenthalt im Iran verloren habe oder einer Verfolgung iSd GFK ausgesetzt wäre.

Hinsichtlich einer Rückkehr des Beschwerdeführers stellte die belangte Behörde fest, dass eine solche in dessen Herkunftsprovinz Daikundi aufgrund der eingeschränkten Erreichbarkeit nicht möglich sei. Es stehe ihm jedoch eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul offen.

Es gebe keine Hinweise darauf, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland in eine existenzbedrohende Notlage geraten könnte. Der Beschwerdeführer sei ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann, der über eine zwölfjährige Schulausbildung und Berufserfahrung im Baugewerbe und in der Landwirtschaft verfüge. Er sei mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Heimatlandes vertraut und habe die Möglichkeit, mit Gelegenheitsarbeiten seine Existenz zu sichern. Er könne bei einer Rückkehr auch auf die Unterstützung diverser Hilfsorganisationen zurückgreifen. Er verfüge auch - entgegen seinen Aussagen - über familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan. Es sei daher anzunehmen, dass ihm finanzielle Mittel der Familie zur Verfügung stünden. Er könne demnach in Kabul eine Arbeit, Sicherheit und zumutbare Lebensbedingungen vorfinden. Eine nicht hinlängliche Kenntnis der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten reiche nicht aus, um eine Unzumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative anzunehmen.

Seine Integrationsbemühungen seien zwar ersichtlich, doch würden sich diese hauptsächlich auf die Befriedigung seiner persönlichen Bedürfnisse beziehen. Seinem gering ausgeprägten privaten Interesse an einem Verbleib in Österreich stünden die öffentlichen Interessen an einem geordneten Vollzug des Fremdenwesens gegenüber. Letzteres überwiege im vorliegenden Fall.

Der nunmehr angefochtene Bescheid wurde am 05.07.2018 zugestellt.

8. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht am 02.08.2018 Beschwerde, in der er die Verletzung von Verfahrensvorschriften, ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren, eine mangelhafte Beweiswürdigung und eine unrichtige rechtliche Beurteilung geltend machte.

Dabei führte er im Wesentlichen aus, dass er seine Fluchtgründe lebensnah, konkret, detailliert und widerspruchsfrei angegeben habe. Die belangte Behörde sei nicht ausreichend auf das konkrete Vorbringen des Beschwerdeführers eingegangen. Dabei habe es die asylrechtliche Verfolgung des Beschwerdeführers durch die Taliban sowie die Verfolgung aufgrund seiner westlichen Orientierung nicht ausreichend gewürdigt. Der Beschwerdeführer habe westliche Werte verinnerlicht und sei nicht gewillt, sich den sozialen Normen und Werten der Taliban zu unterwerfen. Der Beschwerdeführer könne aufgrund seiner Familienzugehörigkeit ausfindig gemacht werden. Zudem würde sich der Beschwerdeführer durch seine Sprache, seine sozialen Umgangsformen und seine Kleidung als Rückkehrer aus Europa kenntlich machen.

Zudem befinde sich Afghanistan in einem landesweiten innerstaatlichen Konflikt, wo jederzeit und in jedem Teil des Landes mögliche Kampfhandlungen und Handlungen willkürlicher Gewalt stattfinden könnten. Der Beschwerdeführer berufe sich nicht nur auf die allgemein schlechte Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan, sondern auch ausdrücklich darauf, dass bei einer Gesamtbetrachtung der vorliegenden Beweismittel und seiner individuellen Situation gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos vorlägen, die ihm im Falle einer Rückkehr eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen lassen würden.

Die Begründung der belangten Behörde sei vollkommen unzureichend und lasse eine gesetzeskonforme Auseinandersetzung mit dem konkreten Sachverhalt vermissen.

Zudem liege im vorliegenden Fall keine innerstaatliche Fluchtalternative für den Beschwerdeführer vor, da er in Afghanistan über kein soziales Netzwerk verfüge und auch nie dort gelebt habe. Der Beschwerdeführer spreche nicht die in Afghanistan vorherrschende Sprache Paschtu und habe keinerlei Ortskenntnisse. Als alleinstehender Mann habe er ohne jegliches soziale Netzwerk keine Chance, eine Wohnung oder Arbeit zu finden und könne auch keinerlei Unterstützung erwarten.

Außerdem sei eine Rückkehrentscheidung ein unzulässiger Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, da der Beschwerdeführer unbescholten und sehr gut integriert sei und bereits sehr gut Deutsch spreche. Er mache gerade seinen Hauptschulabschluss und habe bereits sehr viel Kontakt zu Österreichern. Er habe sich in den letzten Jahren seines inländischen Aufenthaltes nachhaltig integriert und sich eine Existenz in Österreich aufgebaut. Der Beschwerdeführer habe ein berechtigtes Interesse an einem weiteren Verbleib in Österreich, welches das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung jedenfalls überwiege.

9. Einlangend am 08.08.2018 wurde die Beschwerde - ohne von der Möglichkeit einer Beschwerdevorentscheidung Gebrauch zu machen - samt zugehörigem Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt.

10. Am 16.10.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, zu der der Beschwerdeführer und die belangte Behörde als Parteien geladen waren. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil.

Im Rahmen der Verhandlung legte der Beschwerdeführer eine Reihe von Unterlagen betreffend seine Integrationsbemühungen vor, u.a. eine Teilnahmebestätigung betreffend einen Werte- und Orientierungskurs, eine Teilnahmebestätigung an einem Lehrgang zum Nachholen des Pflichtschulabschlusses, einen Dienstvertrag und ein Dienstzeugnis sowie sieben Empfehlungsschrieben von Privatpersonen.

Er gab an, dass er Afghanistan im Alter von einem Jahr mit seiner Familie Richtung Iran verlassen habe. Im Iran habe er zwei Jahre lang eine staatliche und zwei Jahre lang eine afghanische Schule besucht, den Hauptschulabschluss habe er dann in Österreich gemacht. Im Iran habe er als einfacher Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft und auf Baustellen gearbeitet.

Die Kernfamilie des Beschwerdeführers befinde sich nach wie vor im Iran, in Österreich verfüge der Beschwerdeführer über keine nahen Verwandten. In Afghanistan habe er zu niemandem Kontakt.

Früher habe er von 7.30 Uhr bis 17.30 Uhr gearbeitet, derzeit lerne er Deutsch und besuche seine österreichischen Freunde oder werde von diesen besucht, um spazieren zu gehen oder Rad zu fahren. Von April bis September 2020 habe er bei einem oberösterreichischen Landwirt gearbeitet und dafür knapp 1.300 Euro im Monat bekommen. Er gehöre derzeit dem Verein „ XXXX “, welcher Flüchtlinge in anderen Ländern unterstütze, an.

Der Beschwerdeführer gab zwar an, dass er sich gut auf Deutsch unterhalten könne, ein paar einfache, ohne Zuhilfenahme des Dolmetschers vom Richter an den Beschwerdeführer gestellte Fragen konnte dieser aber nicht oder nur teilweise auf Deutsch beantworten. Nachgefragt nach österreichischen Persönlichkeiten nannte der Beschwerdeführer Mozart, Alexander van der Bellen und Sebastian Kurz.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er nicht nach Afghanistan zurückkehren könne, weil er dort niemanden kenne. Er habe das Land bereits sehr jung verlassen und könne sich an die Zeit dort nicht erinnern. Er kenne die afghanische Kultur nicht und die Afghanen würden ihn immer wieder wegen seines iranischen Akzents auslachen. Auch zu Hause im Iran sei Afghanistan nie ein Thema gewesen, seine Eltern hätten ihm nichts über das Land erzählt. In der Gegend im Iran, in der er gelebt habe, hätten sowohl Iraner als auch aus Afghanistan stammende Personen gewohnt, er habe aber dort mehrheitlich Kontakt zu den einheimischen Iranern gehabt.

Der Beschwerdeführer gab an, dass er seit fünf Jahren hier in Österreich lebe und auch die „österreichische Kultur kennengelernt und angenommen“ habe. Er sei nicht religiös, feiere Weihnachten und Silvester „wie die Österreicher“ und trinke bei Feiern auch Alkohol.

Die rechtsfreundliche Vertreterin des Beschwerdeführers gab im Rahmen der Verhandlung eine Stellungnahme ab, in der sie ausführte, dass der Beschwerdeführer sein ganzes Leben im Iran verbracht habe und in der iranischen Kultur sozialisiert worden sei. In Afghanistan habe er keinerlei Anknüpfungspunkte mehr, im Falle einer Rückkehr würde er in eine aussichtslose Situation geraten. In Österreich habe sich der Beschwerdeführer bestens integriert und spreche Deutsch auf dem Niveau B1. Er habe hier den Pflichtschulabschluss nachgeholt, engagiere sich ehrenamtlich, sei sechs Monate lang einer geregelten Arbeit nachgegangen und könne auch in Zukunft wieder bei demselben Arbeitgeber berufstätig sein. Er verfüge hier auch über ein „dichtes Netz an österreichischen Freunden“.

Der Beschwerdeführer zog während der Verhandlung über seine rechtsfreundliche Vertretung die Beschwerde gegen Spruchpunkt I.) des angefochtenen Bescheides zurück.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführ führt den im Spruch angeführten Namen und ist zum dort angegebenen Datum geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara und islamischen (schiitischen) Glaubensgemeinschaft an. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari, er spricht aber Farsi und beherrscht keine der in Afghanistan gesprochenen Sprachen akzentfrei. Der Beschwerdeführer hat Afghanistan als Kleinkind zusammen mit seiner Familie Richtung Iran verlassen und dort bis zu seiner Weiterreise nach Europa gelebt. Im Iran hat der Beschwerdeführer zwei Jahre lang eine staatliche und zwei Jahre lang eine afghanische Schule besucht. In Österreich hat der Beschwerdeführer den Hauptschulabschluss nachgeholt. Er verfügt über keine Berufsausbildung und hat im Iran einfache Hilfstätigkeiten in der Landwirtschaft und auf Baustellen ausgeübt, in Österreich hat er sechs Monate lang in einem landwirtschaftlichen Betrieb gearbeitet.

Der Beschwerdeführer hat sein ganzes selbstbestimmtes Leben außerhalb Afghanistans verbracht, wurde im Iran sozialisiert und ist mit den kulturellen und gesellschaftlichen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates Afghanistan wenig bis gar nicht vertraut.

Die Kernfamilie des Beschwerdeführers befindet sich im Iran, weder in Afghanistan noch in Österreich leben nahe Angehörige des Beschwerdeführers.

Der Beschwerdeführer ist psychisch und physisch gesund und als arbeitsfähig anzusprechen.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan würde der Beschwerdeführer – auch in den größeren Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif - aufgrund seiner nur kurzen Schul- bzw. der gänzlich fehlenden Berufsausbildung und auch aufgrund der Tatsache, dass er bislang nur kurzfristige, untergeordnete berufliche Hilfstätigkeiten ausgeübt hat, mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage sein, die grundlegenden notwendigen Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft zu befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Es wäre dem Beschwerdeführer nicht möglich, nach einer Ansiedlung in Afghanistan – auch in einer der größeren Städte des Landes - Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härte zu führen. Dem Beschwerdeführer wäre eine Rückkehr nach Afghanistan somit nicht zumutbar.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer beantragte am 26.01.2016 in Österreich internationalen Schutz. Dieser Antrag wurde mit Bescheid der belangten Behörde vom 29.06.2018 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zog der Beschwerdeführer seine Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides zurück.

1.2. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:

1.2.1. Aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, zuletzt gesamtaktualisiert am 13.11.2019 und mit der zuletzt eingefügten Kurzinformation vom 18.05.2020, wird auszugsweise und beschränkt auf die relevanten Abschnitte wie folgt angeführt:

1.2.1.1. Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 3). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Für die Sicherheit in Afghanistan sind verschiedene Organisationseinheiten der afghanischen Regierungsbehörden verantwortlich. Die Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die Afghan National Police (ANP) und die Afghan Local Police (ALP). Die Afghan National Army (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Die ALP wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB, Kapitel 5).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 3).

1.2.1.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 21).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 21).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses Systemfunktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 21).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bietet die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.2.1.3. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 11).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

1.2.1.4. Provinzen und Städte

1.2.1.4.1. Provinz Balkh

Balkh liegt im Norden Afghanistans. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Die Provinz hat 1.475.649 Einwohner (LIB, Kapitel 3.5).

Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Afghanistans. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Im Jahr 2018 gab es 227 zivile Opfer (85 Tote und 142 Verletzte) in Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 76% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Bomben (IEDS; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 3.5).

In der Provinz Balkh – mit Ausnahme der Stadt Mazar- e Sharif – kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an Einzelelementen erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Die Hauptstadt der Provinz Balkh ist Mazar-e Sharif. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden, da sie den Antragsteller in risikoreichere Situationen bringen könnten (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

1.2.1.4.2. Provinz Herat

Herat liegt im Westen Afghanistans. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Die Provinz hat 2.095.117 Einwohner. Die Provinz ist über einen Flughafen in der Nähe von Herat-Stadt zu erreichen (LIB, Kapitel 3.13).

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, in dem die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. In der Provinz Herat kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen. Unter anderem kam es dabei auch zu Luftangriffen durch die afghanischen Sicherheitskräfte. Im Jahr 2018 gab es 259 zivile Opfer (95 Tote und 164 Verletzte) in Herat. Dies entspricht einem Rückgang von 48% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierten Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 3.13).

In der Provinz Herat - mit Ausnahme in der Stadt Herat - kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an Einzelelementen erforderlich ist, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Die Hauptstadt der Provinz ist Herat-Stadt. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

1.2.1.4.3. Provinz Daikundi

Daikundi liegt in der Zentralregion Hazarajat und grenzt an Ghor im Norden und Westen, Bamyan im Osten, Ghazni im Südosten, Uruzgan im Süden und Helmand im Südwesten (UNOCHA 4.2014). Daikundi gehörte früher zur Provinz Uruzgan und ist mittlerweile eine eigenständige Provinz (PAJ 1.2.2014; vgl. UNDP 5.2.2017). Neben der Provinzhauptstadt Nili besteht Daikundi aus den folgenden Distrikten: Ishterlai, Pato, Kejran, Khedir, Kiti, Miramor, Sang-e-Takht und Shahristan (CSO 2019; vgl. IEC 2018). Der Distrikt Gizab/Pato wechselte in der Vergangenheit zwischen Uruzgan und Daikundi (AAN 31.10.2011). Im Juni 2018 wurde Pato ein eigenständiger Distrikt (AAN 27.1.2019). Die afghanische zentrale Statistikorganisation (CSO) führte Pato 2019 als „temporären“ Distrikt von Daikundi (CSO 2019). „Temporäre“ Distrikte sind Distrikte, die nach Inkrafttreten der Verfassung im Jahr 2004 vom Präsidenten aus Sicherheits- oder anderen Gründen genehmigt, jedoch (noch) nicht vom Parlament bestätigt wurden (AAN 16.8.2018). Der von Hazara dominierte Distrikt Nawamish wurde auf Anordnung des Präsidenten im März 2016 vom mehrheitlich paschtunischen Distrikt Baghran in der Provinz Helmand abgespalten. Im Juni 2017 wurden die administrativen Angelegenheiten von Nawamish Daikundi zugeordnet (AAN 16.8.2018), bzw. beschloss die Regierung 2018, dass Nawamish Teil von Daikundi werden würde (Mobasher 2019). Zeitungsberichte vom Mai und Juli 2019 zählten Nawamish wieder zu Daikundi (RY 11.7.2019; vgl. PAJ 10.5.2019). Eine Quelle berichtet, dass es sich hierbei um einen Konflikt entlang ethnischer Grenzen handelt: Während Paschtunen fordern, dass Nawamish Teil von Daikundi sein soll, sprechen sich Hazara für eine Zugehörigkeit zu Helmand aus (Mobasher 2019).

Im November 2018 erkannte Präsident Ashraf Ghani die Beförderung von Daikundi zu einer Provinz zweiter Klasse an, was eine höhere Mittelvergabe an die Provinz ermöglicht (MENA FN 10.11.2018).

Nach Schätzungen der CSO für den Zeitraum 2019-20 leben 507.610 Menschen in Daikundi (CSO 2019). Als Teil des Hazarajats (UNOCHA 4.2014) wird Daikundi mehrheitlich von Hazara bewohnt, wobei es eine Minderheit an Paschtunen, Belutschen und Sayeds/Sadats gibt (NPS o.D.).

In Daikundi gibt es nur eine gepflasterte Straße, einen Flughafen, der jedoch nach Angaben des Provinzgouverneurs keine Standards erfüllt und nur von kleinen Flugzeugen angeflogen werden kann (TN 6.4.2018). Von und nach Daikundi gibt es keinen Linienflugbetrieb (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).

Laut dem Opium Survey 2018 des UNODC gehörte Daikundi 2018 nicht zu den zehn wichtigsten Anbauprovinzen von Schlafmohn. 2018 wurden weniger als 1.000 Hektar angebaut. Im Vergleich zu 2017 sank der Mohnanbau 2018 um die Hälfte. Damit gehört Daikundi gemäß UNODC zu den Provinzen mit einem „starken Rückgang“ an Anbauflächen (UNODC/MCN 11.2018).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Daikundi wird als eine relativ sichere Provinz erachtet (AAN 27.1.2019; vgl. KP 29.7.2018; TN 6.4.2018), wobei der Mangel an Infrastruktur ein großes Problem für die Bevölkerung darstellt (TN 6.4.2018; vgl. TN 15.11.2016). Im Juli 2018 wurde von einer Zunahme an Fällen von Gewalt gegen Frauen berichtet (KP 29.7.2018).

Die Taliban waren 2018 und im ersten Halbjahr 2019 in der Provinz aktiv, wobei ACLED in diesem Zeitraum insgesamt 21 bewaffnete Zusammenstöße zwischen den Aufständischen und regierungsfreundlichen Kräften zählte. Die Vorfälle fanden hauptsächlich in den Distrikten Kejran, Gizab bzw. Pato und Nili statt (ACLED 12.7.2019). Gemäß einem Bericht vom März 2019 werden manche Gegenden in Pato von den Taliban kontrolliert (PAJ 30.3.2019).

Bewohner von Daikundi machten im April 2019 politische Parteien, bzw. „ungesunden“ Wettbewerb zwischen diesen größtenteils für die Unsicherheit in der Provinz verantwortlich. Politische Gruppierungen, welche Teil von Jihadistengruppen seien, versuchten demnach, schwächere Rivalen zu unterdrücken (PAJ 14.4.2019).

Ghani ordnete im Herbst 2018 die Errichtung eines militärischen Bataillons in Daikundi an (MENA FN 10.11.2018). Daikundi liegt im Verantwortungsbereich des 205. ANA Atal Corps (USDOD 6.2019; KP 3.8.2019), das der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - South (TAAC-S) untersteht, welches von US-amerikanischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung:

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 70 zivile Opfer (44 Tote und 26 Verletzte) in der Provinz Daikundi. Dies entspricht einer Steigerung von 71% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate), gefolgt von Kämpfen am Boden und Luftoperationen (UNAMA 2.2020).

Die Regierungskräfte führten 2018 und 2019 Operationen in Daikundi durch (z.B. KP 3.8.2019; MOD 29.6.2019; PAJ 27.12.2018). Die Taliban griffen beispielsweise Kontrollposten der Regierung im Distrikt Kejran an (AAN 27.1.2019; XI 28.6.2019; vgl. PAJ 28.6.2019).

Im Oktober 2018 kam es zu sicherheitsrelevanten Vorfällen; unter anderem interpretierten Beamte Taliban-Angriffe auf Kontrollposten im Distrikt Kejran und den Bombenanschlag Mitte Oktober 2018 als Versuch, die Anwohner von einer Beteiligung an der Parlamentswahl abzuhalten. Größere Angriffe dürften nach diesen Vorfällen nicht zustande gekommen sein, da die Taliban in Kejran erhebliche Verluste erlitten hatten (AAN 27.1.2019). Bei den Parlamentswahlen im Oktober 2018 blieben Wahllokale in den Distrikten Kejran und Pato, die an Helmand und Uruzgan grenzen, angeblich aufgrund von Sicherheitsrisiken und einer möglichen Talibanpräsenz geschlossen (AAN 27.1.2019).

1.2.1.4.4. Stadt Kabul

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 Personen für den Zeitraum 2019-20 (CSO 2019). Die Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten. Einige Quellen behaupten, dass sie fast 6 Millionen beträgt (AAN 19.3.2019). Laut einem Bericht, expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile – auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.3.2019) – zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die afghanische zentrale Statistikorganisation (Central Statistics Organization, CSO) schätzt die Bevölkerung der Provinz Kabul für den Zeitraum 2019-20 auf 5.029.850 Personen (CSO 2019). Sie besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).

Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014). In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit internationalen und nationalen Passagierflügen bedient wird (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).

Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).

Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen: Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine disruptive Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.3.2019).

Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalen oder ethnischen Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018).

Aufgrund eben dieser öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.9.2017). So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem, Hilfsorganisationen und internationale Organisationen (RFERL 2.9.2019; vgl. FAZ 2.9.2019) sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind (FAZ 2.9.2019). Die Anlage wird stark von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern gesichert (AJ 3.9.2019). Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil, der nicht unweit des Green Villages liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden – so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und andere britische Einrichtungen (RFERL 2.9.2019).

In Bezug auf die Anwesenheit von staatlichen Sicherheitskräften liegt die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train, Advise and Assist Command – Capital (TAAC-C) untersteht. Der Distrikt Surubi fällt in die Zuständigkeit des 201. ANA Corps (USDOD 6.2019). Darüber hinaus wurde eine spezielle Krisenreaktionseinheit (Crisis Response Unit) innerhalb der afghanischen Polizei, um Angriffe zu verhindern und auf Anschläge zu reagieren (LI 5.9.2018).

Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet (TN 26.3.2019; vgl. SAS 26.3.2019). Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung (WOR 10.9.2018).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2020).

Die afghanischen Sicherheitskräfte führten insbesondere im Distrikt Surubi militärische Operationen aus der Luft und am Boden durch, bei denen Aufständische getötet wurden (KP 27.3.2019; vgl. TN 26.3.2019, SAS 26.3.2019, TN 23.10.2018,. KP 23.10.2018, KP 9.7.2018). Dabei kam es unter anderem zu zivilen Opfern (TN 26.3.2019; vgl. SAS 26.3.2019). Außerdem führten NDS-Einheiten Operationen in und um Kabul-Stadt durch (TN 7.8.2019; vgl. PAJ 7.7.2019, TN 9.6.2019, PAJ 28.5.2019). Dabei wurden unter anderem Aufständische getötet (TN 7.8.2019) und verhaftet (TN 7.8.2019; PAJ 7.7.2019; vgl TN 9.6.2019, PAJ 28.5.2019), sowie Waffen und Sprengsätze konfisziert (TN 9.6.2019; vgl. PAJ 28.5.2019).

1.2.1.4.5. Stadt Mazar-e Sharif

Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 469.247 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel 3.5).

Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel 21). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz, ein regionales Handelszentrum sowie ein Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (LIB, Kapitel 21). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76%), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92% der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Während Mazar-e Sharif im Zeitraum Juni 2019 bis September 2019 noch als IPC Stufe 1 „minimal“ (IPC - Integrated Phase Classification) klassifiziert wurde, ist Mazar-e Sharif im Zeitraum Oktober 2019 bis Januar 2020 in Phase 2 „stressed“ eingestuft. In Phase 1 sind die Haushalte in der Lage, den Bedarf an lebensnotwenigen Nahrungsmitteln und Nicht-Nahrungsmitteln zu decken, ohne atypische und unhaltbare Strategien für den Zugang zu Nahrung und Einkommen zu verfolgen. In Phase 2 weisen Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch auf und sind nicht in der Lage, sich wesentliche, nicht nahrungsbezogene Güter zu leisten, ohne dabei irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (ECOI, Kapitel 3.1).

In der Stadt Mazar-e Sharif gibt es 10 - 15 – teils öffentliche, teils private – Krankenhäuser. In Mazar-e Sharif existieren mehr private als öffentliche Krankenhäuser. Private Krankenhäuser sind sehr teuer, jede Nacht ist kostenpflichtig. Zusätzlich existieren etwa 30-50 medizinische Gesundheitskliniken die zu 80% öffentlich finanziert sind (LIB, Kapitel 22).

1.2.1.4.6. Stadt Herat

Herat-Stadt ist die Provinzhauptstadt der Provinz Herat. Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert, der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 durch Iran-Rückkehrer und Binnenvertriebene besonders gestiegen. Sie hat 556.205 Einwohner (LIB, Kapitel 3.13).

Herat ist durch die Ring-Road sowie durch einen Flughafen mit nationalen und internationalen Anbindungen sicher und legal erreichbar (LIB, Kapitel 3.13). Der Flughafen Herat (HEA) liegt 13 km südlich der Stadt im Distrikt Gozara. Die Straße, welche die Stadt mit dem Flughafen verbindet wird laufend von Sicherheitskräften kontrolliert. Unabhängig davon gab es in den letzten Jahren Berichte von Aktivitäten von kriminellen Netzwerken, welche oft auch mit Aufständischen in Verbindung stehen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten auszuüben. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Herat so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III).

Im Vergleich mit anderen Teilen des Landes weist Herat wirtschaftlich und sicherheitstechnisch relativ gute Bedingungen auf. Es gibt Arbeitsmöglichkeiten im Handel, darunter den Import und Export von Waren mit dem benachbarten Iran, wie auch im Bergbau und Produktion. Die Industrie der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMUs) ist insbesondere im Handwerksbereich und in der Seiden- und Teppichproduktion gut entwickelt und beschäftigt Tagelöhner sowie kleine Unternehmer (LIB, Kapitel 21).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Herat, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Herat besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Die meisten Menschen in Herat haben Zugang zu Elektrizität (80 %), zu erschlossener Wasserversorgung (70%) und zu Abwasseranlagen (30%). 92,1 % der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen und 81,22 % zu besseren Wasserversorgungsanlagen (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Herat ist im Zeitraum Oktober 2019 bis Januar 2020 als IPC Stufe 2 klassifiziert (IPC - Integrated Phase Classification). In Phase 2, auch „stressed“ genannt, weisen Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch auf und sind nicht in der Lage, sich wesentlich, nicht nahrungsbezogenen Güter zu leisten, ohne dabei irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (ECOI, Kapitel 3.1.).

1.2.1.5.  Situation für Rückkehrer/innen

In den ersten vier Monaten des Jahres 2019 kehrten insgesamt 63.449 Menschen nach Afghanistan zurück. Im Jahr 2018 kamen 775.000 aus dem Iran und 46.000 aus Pakistan zurück (LIB, Kapitel 23).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB, Kapitel 23).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Es gibt jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (LIB, Kapitel 23).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB, Kapitel 23).

Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch (LIB, Kapitel 23).

Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (LIB, Kapitel 23).

Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, können verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Rückkehrer erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer. Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Es befinden sich viele Rückkehrer in Gebieten, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (LIB, Kapitel 23).

Die „Reception Assistance“ umfasst sofortige Unterstützung oder Hilfe bei der Ankunft am Flughafen: IOM trifft die freiwilligen Rückkehrer vor der Einwanderungslinie bzw. im internationalen Bereich des Flughafens, begleitet sie zum Einwanderungsschalter und unterstützt bei den Formalitäten, der Gepäckabholung, der Zollabfertigung, usw. Darüber hinaus arrangiert IOM den Weitertransport zum Endziel der Rückkehrer innerhalb des Herkunftslandes und bietet auch grundlegende medizinische Unterstützung am Flughafen an. 1.279 Rückkehrer erhielten Unterstützung bei der Weiterreise in ihre Heimatprovinz. Für die Provinzen, die über einen Flughafen und Flugverbindungen verfügen, werden Flüge zur Verfügung gestellt. Der Rückkehrer erhält ein Flugticket und Unterstützung bezüglich des Flughafen-Transfers. Der Transport nach Herat findet in der Regel auf dem Luftweg statt (LIB, Kapitel 23).

Familien in Afghanistan halten in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (LIB, Kapitel 23).

1.2.2. EASO-Bericht „Country Guidance Afghanistan, Juni 2018 (auszugsweise):

Innerstaatliche Schutzalternative

Einleitende Vorbemerkungen: Die innerstaatliche Schutzalternative (‚Internal Protection Alternative‘, ‚IPA‘) sollte erst geprüft werden, nachdem festgestellt worden ist, dass der Antragsteller eine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. eine tatsächliche Gefahr, ernsthaften Schaden zu nehmen, zu gewärtigen hat und die Behörden oder andere relevante, Schutz bietende Akteure nicht willens bzw. in der Lage sind, ihn bzw. sie in seinem bzw. ihrem Heimatgebiet zu schützen. Sollte die innerstaatliche Schutzalternative Anwendung finden, so kann festgestellt werden, dass der/die Antragsteller/in nicht international schutzbedürftig ist. Allerdings sollte diesbezüglich betont werden, dass keinerlei Verpflichtung besteht, wonach der/die Antragsteller/in erst sämtliche Möglichkeiten zur Schutzgewährung in den verschiedenen Landesteilen seines/ihres Herkunftsstaates ausgeschöpft haben muss, ehe er/sie um internationalen Schutz ansuchen darf.

Im gegenständlichen Kapitel wird die Anwendbarkeit der innerstaatlichen Schutzalternative in Teilen von Afghanistan und insbesondere in den folgenden drei Städten bewertet und Leitlinien hierzu vorgegeben: Stadt Kabul, Stadt Herat sowie Mazar-e Sharif.

Betreffender Landesteil

Der erste Schritt bei der Bewertung der innerstaatlichen Schutzalternative ist die Bestimmung des betreffenden Landesteils, in Bezug auf welchen die Kriterien von Artikel 8 der Qualifizierungsrichtlinie im Einzelfall zu prüfen wären.

Eine solche Bewertung konzentriert sich – aus folgenden Hauptgründen – auf die drei Städte Kabul, Herat und Mazar-e Sharif:

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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