TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/26 W203 2197102-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 26.11.2020
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Entscheidungsdatum

26.11.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch


W203 2197102-1/10E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gottfried SCHLÖGLHOFER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den Migrantinnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.05.2018, Zl. 1114126503 – 160651923/BMI-BFA_STM_RD, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, stellte am 10.05.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am selben Tag wurde der Beschwerdeführer durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einer Erstbefragung unterzogen. Dabei gab er an, dass er am XXXX geboren worden sei. Er habe 12 Jahre lang die Grundschule und vier Jahre lang eine Universität besucht und verfüge über keine Berufsausbildung und keine Berufserfahrung. Sein familiäres Netzwerk in Afghanistan bestehe aus seinen Eltern, vier Brüdern und fünf Schwestern.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab er an, dass er als Hazara und Schiite in seinem Heimatland einer Minderheit angehöre, die „jedes Mal von den Taliban angegriffen und verfolgt werde“. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst um seine Sicherheit und seine Zukunft.

3. Am 22.03.2018 wurde der Beschwerdeführer vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde) niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er an, dass seine Familie und ganz allgemein die Hazara und Schiiten aufgrund ihrer Volksgruppen- bzw. Religionszugehörigkeit verfolgt würden. Er selber sei noch nie deswegen verfolgt worden, was aber vor allem daran liege, dass er in Kabul gelebt habe.

In Österreich besuche er täglich einen Deutschkurs und spiele mit Freunden Fußball oder Volleyball. Mitglied in einem Verein sei er nicht. Er lebe von der Grundversorgung, sei gesund und benötige keine ärztliche Behandlung.

Er sei im Bezirk Maidan Wardak im Dorf XXXX geboren, habe dort die Schule besucht und in der elterlichen Landwirtschaft ausgeholfen, bevor er im Alter von 17 Jahren nach Kabul gezogen sei, weil ihn sein Vater regelrecht von zu Hause „hinausgeschmissen“ habe. In Kabul habe er zunächst die Schule und anschließend die Universität besucht, daneben habe er Teppiche hergestellt und bei einem Fernseh-Sender gearbeitet.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er während seiner Zeit in Kabul eines Tages einen Anruf von seiner Mutter bzw. einem Onkel mütterlicherseits bekommen habe, mit dem ihm mitgeteilt worden sei, er müsse seinen Wohnort sofort verlassen. Dies habe er zunächst nicht ernst genommen, bis er von einem ihm unbekannten Menschen angerufen worden sei, der ihm gesagt habe, dass noch am selben Abend zwei „Besucher“ zu ihm kommen würden. Er sei dann aus Angst nicht mehr heim in seine Wohnung, sondern zu einem Freund gegangen. Am selben Abend sei er um ca. 22.00 Uhr von einem Nachbarn angerufen worden, der ihm mitgeteilt habe, dass in die Wohnung eingebrochen worden sei. Am nächsten Tag sei er zu seiner Familie in sein Heimatdorf zurückgekehrt. Sein Vater – zu dem er keine gute Beziehung gehabt habe – habe zu seinen Soldaten gesagt, sie sollten den Beschwerdeführer von zu Hause abholen und ihn zu dessen Stützpunkt bringen. Sein Vater habe den Beschwerdeführer für den Krieg vorbereiten wollen, was dieser aber stets abgelehnt habe. Er habe auch einen Tag lang mit den Truppen seines Vaters mitgekämpft, dann habe aber ein Soldat seines Vaters diesem berichtet, dass der Beschwerdeführer nicht zum Kämpfen tauge, unter anderem auch deshalb, weil er wegen einer im Jahr 2010 bei einer Entführung durch die Taliban erlittenen Fußverletzung nicht richtig laufen könne. Sein Vater habe den Beschwerdeführer daraufhin nach Hause gebracht, gemeint, dass dieser eine „Schande für die Familie“ sei und den Beschwerdeführer und dessen Mutter geschlagen. Seine Mutter habe dem Beschwerdeführer bei der darauffolgenden Flucht geholfen.

Nachgefragt gab der Beschwerdeführer an, der Angriff auf seine Wohnung in Kabul sei von den Taliban verübt worden, die den Beschwerdeführer hätten töten wollen. Er sei wegen der Tätigkeit seines Vaters von den Taliban verfolgt worden. Sein Vater sei der Anführer einer Truppe, die das Heimatdorf gegen die Taliban und die Kutschi verteidige, weil es dort in der Nähe keinen amerikanischen Stützpunkt gebe. Nach dem Überfall sei er nicht mehr in seiner Wohnung in Kabul gewesen.

Zu seiner Beinverletzung gab der Beschwerdeführer an, dass er – als er die Kühe hinausbringen habe wollen – von den Taliban gefasst worden sei, die ihm diese Verletzung zugefügt hätten. Er sei von den Taliban festgehalten worden, als aber Hilfskräfte gekommen wären, hätten die Taliban Angst bekommen und seinen weggelaufen. So habe er sich befreien können.

4. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 09.05.2018 (im Folgenden: angefochtener Bescheid) wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen, da er eine Verfolgung nicht glaubhaft machen habe können. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und es wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV). Weiters wurde festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und es wurde dem Beschwerdeführer eine Frist zur freiwilligen Ausreise in der Dauer von zwei Wochen gewährt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer das Bestehen einer „asylrelevanten Gefahr“ für ihn in Afghanistan nicht glaubhaft vorgebracht habe.

5. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht am 29.05.2018 Beschwerde und begründete diese im Wesentlichen damit, dass es die Behörde gänzliche unterlassen habe, die Angaben des Beschwerdeführers betreffend die Tätigkeit seines Vaters zu überprüfen und diesbezügliche Feststellungen zu treffen. Dem Beschwerdeführer stehe auch keine „innerstaatliche Fluchtalternative“ zur Verfügung.

6. Einlangend am 01.06.2018 wurde die Beschwerde von der belangten Behörde - ohne von der Möglichkeit einer Beschwerdevorentscheidung Gebrauch zu machen - samt zugehörigem Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

7. Am 02.09.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, zu der Beschwerdeführer und die belangte Behörde geladen waren. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil.

Im Zuge der Verhandlung gab der Beschwerdeführer an, dass er früher in Afghanistan schiitischer Moslem gewesen sei, „derzeit aber zum Christentum konvertiert“ sei.

In Afghanistan habe er ein Bachelorstudium im Bereich „Businessmanagement“ absolviert und die englische Sprache gelernt. Als Berufstätigkeiten habe er in Afghanistan Filme synchronisiert und auch als Fahrschullehrer gearbeitet.

Er sei nicht verheiratet und habe in Österreich keine nahen Familienangehörigen, aber „weitschichtige Verwandte“, zu denen er telefonischen Kontakt habe. Seine Kernfamilie – Eltern und vier Brüder und fünf Schwestern – lebe nach wie vor in Afghanistan im Heimatdorf. Der Beschwerdeführer habe manchmal Kontakt zu seiner Mutter, weswegen er wisse, dass die Lage dort immer noch kritisch sei und es dort auch keine Sicherheit gebe. Die Familie hätte in den letzten vier Jahren immer wieder versucht, zu fliehen, was aber nicht möglich gewesen wäre.

Zu seinen Tätigkeiten in Österreich befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er nach dem Frühstück trainieren gehe. Vor der Corona-Krise habe er auch regelmäßig einen Deutschkurs besucht, derzeit arbeite er wöchentlich zwei Stunden in einer Bäckerei. Samstags sei er für das Rote Kreuz tätig, donnerstags besuche er einen Taufvorbereitungskurs und sonntags den Gottesdienst. Seinen Lebensunterhalt bestreite er von den 110 Euro monatlich, die er für seine Tätigkeit als Bäcker bekomme und von Geld, das er „von der Caritas“ erhalte. Er habe sowohl österreichische als auch afghanische und italienische Freunde. Er lebe hier nicht in einer Partnerschaft und es gebe auch keine spezielle Bezugsperson für den Beschwerdeführer.

Einige auf Deutsch gestellte Fragen konnte der Beschwerdeführer auch ohne die Zuhilfenahme des Dolmetschers gut auf Deutsch beantworten. An berühmten Österreichern konnte er „Arnold“ und „Alaba, der bei Bayern München spielt“ nennen, gefragt nach ihm bekannten österreichischen Politikern nannte er „Norbert Hofer“, „Christian Kurz“ und „Christian Kern“.

Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, dass sein Leben in Afghanistan in Gefahr gewesen sei. Wenn im Protokoll seiner letzten Befragung stehe, dass er „von einer bestimmten religiösen oder politischen Gruppe verfolgt“ worden sei, so stimme das nicht. Vielmehr sei er deswegen geflohen, weil sein Vater in Afghanistan Kommandant gewesen sei und als solcher gegen die Kutschi gekämpft habe. Von den Gegnern seines Vaters sei der Beschwerdeführer in Afghanistan bedroht worden. Nachgefragt gab der Beschwerdeführer an, dass er auch bei der letzten Befragung vor der belangten Behörde die Wahrheit gesagt habe, dass es aber „vielleicht ein Missverständnis“ zwischen ihm und dem Dolmetscher gegeben habe oder nicht korrekt gedolmetscht worden sei. Bevor er das Protokoll unterschrieben habe, sei ihm dieses – aber nicht zur Gänze – rückübersetzt worden.

Die Probleme zwischen den Kutschi und dem Vater des Beschwerdeführers hätten ca. im Jahr 2001 begonnen. Der Beschwerdeführer selbst habe bis ca. 2015 ein glückliches Leben geführt, weil er gearbeitet und studiert habe. Im Jahr 2015 sei er von den Feinden seines Vaters „indirekt bedroht“ worden. Nachdem er vorgewarnt Kabul Richtung Heimatdorf verlassen habe, sei – wie er von einem Nachbarn erfahren habe - am selben Tag in die Wohnung des Beschwerdeführers in Kabul eingebrochen worden. Sein Vater habe den Beschwerdeführer in der Folge „zu Kämpfen“ mitgenommen, was dieser aber nicht gekonnt habe. Insbesondere von den Söhnen eines Kommandanten werde erwartet, dass diese tapfer seien und an forderst er Front kämpfen sollten, dies sei dem Beschwerdeführer aber nicht möglich gewesen, weil er Angst gehabt und sich gefürchtet habe.

Auf den Vorhalt, dass der Beschwerdeführer als Fluchtgrund zunächst seine Eigenschaft als Schiite und Hazara angegeben habe, später Probleme mit den Taliban und den Kutschi und schließlich die Probleme mit seinem Vater, gab der Beschwerdeführer an, dass die allgemeine Lage in seinem Heimatdorf so sei, dass die Kutschi und die Taliban gegen die Dorfbewohner kämpfen und versuchen würden, deren Häuser zu zerstören und sie aus dem Dorf zu vertreiben. Es gebe dort keine Amerikaner oder Regierungssoldaten, sondern man müsse sich selbst schützen. Die Taliban und die Kutschi seien eine „allgemeine Gefahr“ für die Leute im Dorf. Der Vater des Beschwerdeführers habe als Kommandant eine herausragende Stellung im Dorf und daher viele Feinde, die auch versucht hätten, den Beschwerdeführer selbst zu bedrohen und zu töten. Den Schutz seines Vaters könne er aber auch nicht in Anspruch nehmen, da dieser ihn selbst mehrmals mit dem Tod bedroht habe, weil er sich weigere, mit ihm und seinen Leuten zu kämpfen. Der Vater des Beschwerdeführers würde auch jetzt noch im Kampf gegen die Taliban und die Kutschi stehen, viele seiner Soldaten seien inzwischen getötet worden. Der Beschwerdeführer selbst sei nur einmal direkt bedroht worden, und zwar im Jahr 2010, als er zu Hause von den Kutschi gefasst und an der Achillessehne verletzt worden wäre. Von seinen Familienangehörigen sei der Sohn des Onkels der Mutter des Beschwerdeführers von den Taliban getötet worden. Nachgefragt gab der Beschwerdeführer an, dass das Hauptziel der Taliban bzw. der Kutschi gewesen sei, die ganze Dorfbevölkerung zu vertreiben. Gegen diese Bedrohung habe der Vater des Beschwerdeführers „hart kämpfen“ müssen, weswegen eines der Hauptziele der Taliban auch darin bestanden habe, diesen zu töten. Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit seinem Vater, der eine frauenfeindliche Einstellung gezeigt habe, habe der Beschwerdeführer im Alter von 17 Jahren sein Heimatdorf verlassen und nach Kabul gehen müssen, wo er ein „gutes Leben“ gehabt, studiert, gearbeitet und auch Teppiche geknüpft habe. Negative Erfahrungen mit den Taliban habe der Beschwerdeführer in Kabul nicht gemacht.

Nachgefragt gab der Beschwerdeführer an, dass er nicht genau wisse, wer in seine Wohnung in Kabul wenige Tage vor seiner Ausreise eingebrochen habe. Das Ziel der Einbrecher sei aber nicht etwa der Raub von Wertgegenständen, sondern eindeutig der Beschwerdeführer selbst gewesen, da er ansonsten nicht vorher die Anrufe bekommen hätte. Dass es sich bei den Einbrechern um Leute seines Vaters gehandelt haben könnte schließe der Beschwerdeführer aus, weil diese nur im Heimatdorf tätig gewesen wären.

Nachgefragt zu dem Vorfall, bei dem er am Bein verletzt worden sei, gab der Beschwerdeführer an, dass er 2010 von den Taliban bzw. Kutschis gefasst, in ein Zimmer gesperrt und an der Achillessehne verletzt worden sei, damit er nicht fliehen habe können. Der Grund für die Entführung sei gewesen, dass die Täter damit den Vater des Beschwerdeführers erpressen hätten wollen. Der Beschwerdeführer habe sich aber unter einem großen Mehlbehälter, der sich in dem Raum, in dem er festgehalten worden sei, befunden habe, eine Nacht lang versteckt, am nächsten Tag seien Soldaten gekommen, die die Taliban zurückgeworfen hätten, sodass der Beschwerdeführer habe fliehen können.

Im Falle einer Rückkehr habe der Beschwerdeführer sowohl vor den Taliban bzw. Kutschis als auch vor seinem Vater Angst.

Nachgefragt, wann und wo sein Interesse für das Christentum geweckt worden sei, gab der Beschwerdeführer an, dass dies während der Flucht in Griechenland gewesen sei, wo er ein Buch mit dem Titel „Bekanntschaft mit der Bibel“ bekommen habe. Dieses Beuch habe er „sehr interessant“ gefunden. Der große Unterschied zwischen dem Christentum und dem Islam bestehe für den Beschwerdeführer darin, dass im Christentum von Barmherzigkeit und Liebe gesprochen werde, im Islam dagegen von Dschihad und heiligem Krieg. Außerdem lehre das Christentum, dass man vergeben und auch Frauen achten solle. Er sei noch nicht getauft, am Donnerstag werde aber entschieden, ob und wann er mit der Taufvorbereitung beginnen könne. Er informiere sich schon jetzt mittels Büchern über das Christentum. Seit 15.07.2020 besuche er sonntags die Gottesdienste. Als zentrale Personen des Christentums bezeichnete der Beschwerdeführer Jesus Christus und Papst Franziskus. Er würde sich auch in seinem Freundeskreis über das Thema Religion und seine Konversion zum Christentum unterhalten, seine afghanischen Freunde würden ihn deswegen auch „schlecht behandeln“. Derzeit wisse niemand in Afghanistan über seinen Wechsel zum Christentum Bescheid, es gebe aber eine „Empfehlung“ von Jesus Christus, dass man überall missionieren müsse. Er sei auch einmal mit einem Mitbewohner im Asylheim in Streit geraten, als dieser die vom Beschwerdeführer versteckte Bibel entdeckt habe. Nachgefragt, warum er sowohl bei der polizeilichen Ersteinvernahme als auch bei der belangten Behörde angegeben habe, dass er Schiite sei, obwohl bereits davor in Griechenland sein Interesse für das Christentum geweckt worden wäre, gab der Beschwerdeführer an, dass er noch „ein bisschen mehr darüber recherchieren“ habe müssen und dass er damals in einem mehrheitlich von Afghanen bewohnten Asylheim gelebt habe. Er habe Angst gehabt, dass – wenn er sich als Christ zu erkennen gebe – sein Leben in Gefahr gewesen sei und er „kein Sicherheitsgefühl“ mehr gehabt hätte.

Nachgefragt durch seinen Rechtsvertreter gab der Beschwerdeführer an, dass sein Vater kein offizieller Staatsangestellter sei, dass dieser sich im Dschihad gegen die Kutschis und Taliban befinde und dass er seine Tätigkeit aus Verlassenschaften anderer Leute und gewaltsam erbeutetem Geld finanziere. Einer der Brüder des Beschwerdeführers würde zusammen mit dessen Vater kämpfen, ein anderer sei noch zu jung dafür.

Über die „Formalität“, dass man offiziell aus der Islamischen Glaubensgemeinschaft austreten könne, wisse er nicht Bescheid, wenn das möglich wäre, würde er es aber machen. In Afghanistan könne er als Christ kein normales Leben führen, weil es ein „schlimmes Problem“ darstelle, wenn jemand vom Islam zum Christentum konvertiere.

Die befragte Zeugin gab an, dass sie Hauptschullehrerin für Religion und Musik sei und auch über eine Ausbildung als Religionslehrerin verfüge. Seit 2003 sei sie krankheitsbedingt in Pension. Sie kenne den Beschwerdeführer seit „etwas über zwei Monaten“, als ein von ihr betreuter, bereits getaufter Konvertit zwei Freunde – einer davon der Beschwerdeführer – mitgebracht habe. Die beiden Freunde hätten ebenfalls den Wunsch geäußert, Christen zu werden. Sie habe dann – was sie in so einem Fall immer tue – die beiden „ziemlich intensiv“ befragt, um sicherzugehen, dass sie es mit ihrem Wunsch, Christen zu werden, ernst meinten. Sie sei Lehrerin und habe immer schon Kontakt mit „Leuten aus dem Orient“ gehabt, deswegen vermeine sie, diese Personengruppe „gut einschätzen“ zu können. Beim Beschwerdeführer sei sie sich „ziemlich sicher“, dass er „von ganzem Herzen Christ“ werden wolle. Dies deshalb, da er großen Eifer zeige, ansonsten würde er nicht jeden Sonntag in die Kirche gehen, noch dazu, wo er eine so lange Anfahrt dafür in Kauf nehmen müsse. Wenn es jemand mit seinem Wunsch zur Konversion nicht ernst nehme, würde er auch nicht solche Fragen wie der Beschwerdeführer stellen. Bevor sie ihn kennengelernt habe, habe der Beschwerdeführer bereits Kontakt zu einer anderen Pfarre gehabt. Er habe auch bereits in Griechenland begonnen, sich für die Bibel zu interessieren und diese auch schon durchgelesen. Nachgefragt gab die Zeugin an, dass sie derzeit drei Religionsschüler betreue, einer davon sei bereits getauft, die beiden anderen seien Taufanwärter. Dies wären die ersten drei Asylwerber, die sie auf diese Art betreue. Beim Beschwerdeführer würde sich am Tag nach der Verhandlung entscheiden, wann er in das Katechumenat aufgenommen werde.

8. Am 24.09.2020 legte der Beschwerdeführer eine Bestätigung darüber vor, dass er am 09.09.2020 in einer römisch-katholischen Pfarre in das Katechumenat der katholischen Kirche aufgenommen worden sei.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seiner Familie:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX in der Provinz Maidan Wardak im Dorf XXXX geboren und dort auch aufgewachsen. Im Alter von 17 Jahren ist er alleine nach Kabul gezogen. Er ist afghanischer Staatsbürger und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Seine Muttersprache ist Dari.

Der Beschwerdeführer hat Afghanistan letztmals im Dezember 2015 verlassen und ist spätestens am 10.05.2016 illegal in Österreich eingereist.

Die Kernfamilie des Beschwerdeführers – dessen Eltern, vier Brüder und fünf Schwestern - lebt nach wie vor im Heimatort in Afghanistan. Der Beschwerdeführer hat nur gelegentlich zu seiner Mutter Kontakt.

Der Beschwerdeführer hat 12 Jahre lang die Grundschule besucht und verfügt über eine vierjährige universitäre Ausbildung im Bereich „Businessmanagement“. Er beherrscht die Sprache Englisch sehr gut. Der Beschwerdeführer verfügt über Berufserfahrung als landwirtschaftlicher Helfer, Teppichknüpfer, Fahrschullehrer und Synchronisator.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer hat Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemein schlechten Lage verlassen.

Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr keine konkrete, gegen ihn als Einzelperson gerichtete Verfolgung aufgrund seiner Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit oder durch die Taliban oder eine sonstige politische Gruppierung.

Dem Beschwerdeführer droht in Afghanistan nicht Verfolgung wegen Konversion zum Christentum.

Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr auch keine Verfolgung aus einem sonstigen in der GFK genannten asylrelevanten Grund.

1.3. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer hält sich seit viereinhalb Jahren in Österreich auf. Er hat diesen Zeitraum auf folgende Weise genutzt, um sich in Österreich sozial zu integrieren: Er arbeitet geringfügig und gegen Entgelt in einer Bäckerei und ehrenamtlich beim Roten Kreuz. Er verfügt über einen – zum Teil auch aus Österreichern bestehenden – Freundeskreis. Er beherrscht die Deutsche Sprache soweit, dass eine Konversation in deutscher Sprache auch ohne Unterstützung durch einen Dolmetscher problemlos möglich ist. Er interessiert sich für das politische und gesellschaftliche Geschehen im Land soweit, dass er einige heimische Persönlichkeiten und Politiker auch namentlich nennen kann.

Seit Juli 2020 besucht der Beschwerdeführer regelmäßig die Sonntagsgottesdienste, seit September 2020 befindet er sich in einem Taufvorbereitungskurs.

Er bestreitet seinen Lebensunterhalt überwiegend mit Geld aus der Grundversorgung, zum Teil auch aus seinen Einkünften als Bäcker.

Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über keine familiären Anknüpfungspunkte, lebt nicht in einer Partnerschaft und hat in Österreich keine spezielle Bezugsperson. Er ist nicht Mitglied in einem Verein.

Der Beschwerdeführer befindet sich in einem guten gesundheitlichen Zustand.

Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.

1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Dem Beschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr in seine Heimatprovinz Maidan Wardak aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Der Beschwerdeführer ist im Falle einer Zurückweisung, Zurückschiebung bzw. Abschiebung nach Afghanistan nicht in seinem Recht auf Leben gefährdet, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht.

Der Beschwerdeführer leidet an keinen schwerwiegenden oder chronischen Krankheiten, welche einer Rückkehr nach Afghanistan entgegenstehen.

Es ist nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan mit hoher Wahrscheinlichkeit mit für ihn schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen an Covid-19 erkranken wird.

Der Beschwerdeführer ist anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.

Bezugnehmend auf die sonstigen Verfahrensergebnisse sind vor dem Hintergrund der aktuellen Lage in Afghanistan keine Hinweise auf eine allfällige Gefährdung des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr in seinen Heimatstaat hervorgekommen.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif ist der Beschwerdeführer in der Lage, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft zu befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Herat oder Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich mit den daraus zu erzielenden Einkünften selbst erhalten.

Es ist dem Beschwerdeführer möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.5. Zur aktuellen Lage in Afghanistan:

Aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, zuletzt gesamtaktualisiert am 13.11.2019 und mit der zuletzt eingefügten Kurzinformation vom 18.05.2020, wird auszugsweise und beschränkt auf die relevanten Abschnitte wie folgt angeführt:

1.5.1. Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern leben ca. 32 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 2).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 3). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Für die Sicherheit in Afghanistan sind verschiedene Organisationseinheiten der afghanischen Regierungsbehörden verantwortlich. Die Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die Afghan National Police (ANP) und die Afghan Local Police (ALP). Die Afghan National Army (ANA) ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen. Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit in der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Die ALP wird durch die USA finanziert und schützt die Bevölkerung in Dörfern und ländlichen Gebieten vor Angriffen durch Aufständische (LIB, Kapitel 5).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 3).

1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 21).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 21).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses Systemfunktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 21).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bietet die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).

1.5.3. Zur aktuellen Lage hinsichtlich Covid-19:

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblemen bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen, Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommission gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

1.5.4. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 11).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

1.5.5. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel 2).

Taliban:

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt. In einigen nördlichen Gebieten bestehen die Taliban bereits überwiegend aus Nicht-Paschtunen, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 2).

Die Gesamtstärke der Taliban betrug im Jahr 2017 über 200.000 Personen, darunter ca. 150.000 Kämpfer, davon rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten und der Rest ist Teil der lokalen Milizen. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan (LIB, Kapitel 2).

Zwischen 01.12.2018 und 31.05.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zum Ziel – die Taliban beschränken ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte (LIB, Kapitel 2).

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen. (Landinfo 1, Kapitel 4)

1.5.6. Rekrutierung durch die Taliban

Menschen schließen sich den Taliban zum einen aus materiellen und wirtschaftlichen Gründen zum anderen aus kulturellen und religiösen Gründen an. Die Rekruten sind durch Armut, fehlende Chancen und die Tatsache, dass die Taliban relativ gute Löhne bieten, motiviert. Es spielt auch die Vorstellung, dass die Behörden und die internationale Gemeinschaft den Islam und die traditionellen Standards nicht respektieren würden, eine zentrale Rolle, wobei sich die Motive überschneiden. Bei Elitetruppen sind beide Parameter stark ausgeprägt. Sympathisanten der Taliban sind Einzelpersonen und Gruppen, vielfach junger Männer, deren Motiv der Wunsch nach Rache, Heldentum gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen sind (Landinfo 2, Kapitel 4.1). Die Billigung der Taliban in der Bevölkerung ist nicht durch religiöse Radikalisierung bedingt, sondern Ausdruck der Unzufriedenheit über Korruption und Misswirtschaft (Landinfo 2, Kapitel 4.1.1).

Die Taliban sind aktiver als bisher bemüht, Personen mit militärischem Hintergrund sowie mit militärischen Fertigkeiten zu rekrutieren. Die Taliban versuchen daher das Personal der afghanischen Sicherheitskräfte auf ihre Seite zu ziehen. Da ein Schwerpunkt auf militärisches Wissen und Erfahrungen gelegt wird, ist mit einem Anstieg des Durchschnittsalters zu rechnen Landinfo 2, Kapitel 3). Durch das Anwerben von Personen mit militärischem Hintergrund bzw. von Mitgliedern der Sicherheitskräfte erhalten Taliban Waffen, Uniformen und Wissen über die Sicherheitskräfte. Auch Personen die über Knowhow und Qualifikationen verfügen (z.B. Reparatur von Waffen), können von Interesse für die Taliban sein (Landinfo 2, Kapitel 5.1).

Die Mehrheit der Taliban sind Paschtunen. Die Rekrutierung aus anderen ethnischen Gruppen ist weniger üblich. Um eine breitere Außenwirkung zu bekommen, möchte die Talibanführung eine stärkere multiethnische Bewegung entwickeln. Die Zahl der mobilisierten Hazara ist unerheblich, nur wenige Kommandanten der Hazara sind mit Taliban verbündet. Es ist für die Taliban wichtig sich auf die Rekruten verlassen zu können (Landinfo 2, Kapitel 3.3).

Die Taliban waren mit ihrer Expansion noch nicht genötigt Zwangsmaßnahmen zur Rekrutierung anzuwenden. Zwangsrekrutierung ist noch kein herausragendes Merkmal für den Konflikt. Die Taliban bedienen sich nur sehr vereinzelt der Zwangsrekrutierung, indem sie männliche Dorfbewohner in von ihnen kontrollierten Gebieten, die mit der Sache nicht sympathisieren, zwingen, als Lastenträger zu dienen (Landinfo 2, Kapitel 5.1). Die Taliban betreiben eine Zwangsrekrutierung nicht automatisch. Personen die sich gegen die Rekrutierung wehren, werden keine rechtsverletzenden Sanktionen angedroht. Eine auf Zwang beruhende Mobilisierungspraxis steht auch den im Pashtunwali (Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen) enthaltenen fundamentalen Werten von Familie, Freiheit und Gleichheit entgegen. Es kommt nur in Ausnahmefällen und nur in sehr beschränktem Ausmaß zu unmittelbaren Zwangsrekrutierungen durch die Taliban. Die Taliban haben ausreichend Zugriff zu freiwilligen Rekruten. Zudem ist es schwierig einen Afghanen zu zwingen, gegen seinen Willen gegen jemanden oder etwas zu kämpfen (Landinfo 2, Kapitel 5.1).

Im Kontext Afghanistans verläuft die Grenze zwischen Jungen und Mann fließend. Ausschlaggebend für diese Beurteilung sind Faktoren wie Pubertät, Bartwuchs, Mut, Unabhängigkeit, Stärke und die Fähigkeit die erweiterte Familie zu repräsentieren. Der Familienälteste ist das Oberhaupt, absolute Loyalität gegenüber getroffenen Entscheidungen wird vorausgesetzt. Kinder unterstehen der Obrigkeit der erweiterten Familie. Es stünde im Widerspruch mit der afghanischen Kultur, würde man Kinder gegen den Wunsch der Familie und ohne entsprechende Entscheidung des Familienverbandes aus dem Familienverband „herauslösen“ (Landinfo 2, Kapitel 6).

1.5.7. Kutschi, Nomaden

Ethnisch gesehen ist der Großteil der Kutschi paschtunisch (TD 19.4.2019; vgl. MRG o.D.e, AA 2.9.2019) und stammen vorwiegend aus dem Süden und Osten Afghanistans (MRG o.D.e). Sie sind eher eine soziale Gruppe, obwohl sie einige Charakteristiken einer eigenen ethnischen Gruppe aufweisen. Während des Taliban-Regimes wurden viele Kutschi in den usbekisch und tadschikisch dominierten Gebieten im Nordwesten des Landes sesshaft. Die größte Kutschi-Population findet sich in der Wüste im Süden des Landes (Registan) (MRG o.D.e).

Viele Kutschi leben in informellen Siedlungen am Stadtrand von Kabul (MDG o.D.e; vgl. AAN 19.3.2019). Ein Großteil der Nomaden zieht während des Sommers in Richtung der Weideflächen des Hazarajat (zentrales Hochland) (AREU 1.2018; vgl. GIZ 4.2019). Nur mehr wenige tausend Personen führen ein Leben als nomadische Viehhirten (MRG o.D.e; vgl. AREU 1.2018).

Kutschi leiden in besonderem Maße unter den ungeklärten Boden- und Wasserrechten. Dies schließt die illegale Landnahme durch mächtige Personen ein – ein mangels funktionierenden Katasterwesens in Afghanistan häufiges und alle Volksgruppen betreffendes Problem (AA 2.9.2019; vgl. AREU 1.2018). Traditionell waren die Kutschi eine nomadische Gemeinschaft; jahrzehntelange Konflikte und Dürre, haben verstärkt dazu geführt, dass die afghanischen Kutschi ihren traditionellen Lebensstil aufgaben und sich in festen Siedlungsgebieten niedergelassen haben. Manche Kutschi haben ihr Vieh verloren und haben versucht sich dauerhaft und auch temporär in nicht-regulierten Gebieten niederzulassen (TD 19.4.2019; vgl. AREU 1.2018; vgl. GIZ 4.2019), was zu Konflikten mit Anwohnern und Kommandanten aufgrund von Landbesitz und Wasserzugang führte (TD 19.4.2019; vgl. AREU 1.2018, RFE/RL 18.9.2015).

Konflikte basieren u.a. auf der Blockade der Zugangswege zu den Weiden durch die sesshafte Bevölkerung, da das durchziehende Vieh landwirtschaftliche Flächen beschädigt; oder auch auf der Übernahme von Weideland der Nomaden durch die sesshafte Dorfbevölkerung zur eigenen Beweidung, Kultivierung oder Bebauung. Ebenso entstehen Konflikte durch das Bevölkerungswachstum, wodurch frühere Weidegebiete der Nomaden vermehrt verbaut werden, insbesondere im Nahbereich größerer Städte (AREU 1.2018).

Staatliche Institutionen haben nur geringen Einfluss in ländlichen Gebieten – selbst in Gebieten unter Regierungskontrolle – um bei einer Konfliktlösung zu vermitteln (AREU 12.2018). Die Regierung verfügt mit dem unabhängigen Direktorium für die Angelegenheiten der Kutschi über eine eigene Organisationseinheit, welche die Angelegenheiten der Kutschi behandelt (MRG o.D.e; vgl. AREU 12.2018). Dieses Direktorium möchte jedoch bei Konflikten zwischen Nomaden und sesshafter Bevölkerung nicht direkt vermitteln, da es als parteiisch wahrgenommen werden würde. Bei Konfliktlösungen werden von der Regierung in der Regel lokale Akteure als Mediatoren eingesetzt, die ebenfalls von den Streitparteien als befangen angesehen werden (AREU 12.2018).

Kutschi sind benachteiligt beim Zugang zu Bildung, Gesundheit und Arbeit (ACFF 11.2.2018; vgl. MRG o.D.e). Angehörige der Nomadenstämme sind aufgrund bürokratischer Hindernisse dem Risiko der (faktischen) Staatenlosigkeit ausgesetzt (AA 2.9.2019; vgl. MRG o.D.e). Sie gelten aufgrund ihres nomadischen Lebensstils als Außenseiter (AA 2.9.2019). Kutschi berichten über erzwungene Sesshaftmachungen durch die Regierung. Da viele sesshafte Kutschis unter prekären Bedingungen in informellen Siedlungen am Rande der Großstädte leben, werden sie zunehmend negativ wahrgenommen, was deren sozialen Status im Land weiter unterminiert (MRG o.D.e). Nomaden werden öfter als andere Gruppen auf bloßen Verdacht hin einer Straftat bezichtigt und verhaftet, sind aber oft auch rasch wieder auf freiem Fuß (AA 2.9.2019).

Der afghanischen Verfassung zufolge ist die Regierung verpflichtet, den Kutschi Land für die permanente Nutzung zur Verfügung zu stellen und ihre Integration in besiedelten Gebieten zu fördern (RFE/RFL 18.9.2015). Die Verfassung sieht vor, dass der Staat Maßnahmen für die Verbesserung der Lebensgrundlagen von Nomaden ergreift. Einzelne Kutschi sind als Parlamentsabgeordnete oder durch politische und administrative Ämter Teil der Führungselite Afghanistans (AA 2.9.2019). Zehn Sitze im Unterhaus der Nationalversammlung sind für die Kutschi-Minderheit reserviert und vom Präsidenten müssen zwei Kutschi zu Mitgliedern für das Oberhaus ernannt werden (USDOS 13.3.2019). Diese Sitze werden jedoch in der Regel von sesshaften Kutschi eingenommen, wodurch die Interessen der erst kürzlich sesshaft gewordenen, in informellen Siedlungen lebenden oder semi-nomadischen Kutschi weitgehend vernachlässigt werden (MRG o.D.e).

1.5.8. Provinzen und Städte

1.5.8.1. Provinz Balkh

Balkh liegt im Norden Afghanistans. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Die Provinz hat 1.475.649 Einwohner (LIB, Kapitel 3.5).

Balkh zählt zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Afghanistans. Drei Schlüsseldistrikte, Zari, Sholagara und Chahar Kant, zählen zu jenen Distrikten, die in den letzten Monaten von Sicherheitsbedrohungen betroffen waren. Im Jahr 2018 gab es 227 zivile Opfer (85 Tote und 142 Verletzte) in Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 76% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Bomben (IEDS; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 3.5).

In der Provinz Balkh – mit Ausnahme der Stadt Mazar- e Sharif – kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an Einzelelementen erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Die Hauptstadt der Provinz Balkh ist Mazar-e Sharif. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden, da sie den Antragsteller in risikoreichere Situationen bringen könnten (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

1.5.8.2. Provinz Herat

Herat liegt im Westen Afghanistans. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Die Provinz hat 2.095.117 Einwohner. Die Provinz ist über einen Flughafen in der Nähe von Herat-Stadt zu erreichen (LIB, Kapitel 3.13).

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen. Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban. Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, in dem die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. In der Provinz Herat kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen. Unter anderem kam es dabei auch zu Luftangriffen durch die afghanischen Sicherheitskräfte. Im Jahr 2018 gab es 259 zivile Opfer (95 Tote und 164 Verletzte) in Herat. Dies entspricht einem Rückgang von 48% gegenüber 2017. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierten Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 3.13).

In der Provinz Herat - mit Ausnahme in der Stadt Herat - kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an Einzelelementen erforderlich ist, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

Die Hauptstadt der Provinz ist Herat-Stadt. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

1.5.8.3. Provinz Maidan Wardak:

Die Provinz Wardak, auch bekannt als Maidan Wardak, grenzt im Norden an Parwan und Bamyan, im Osten an Kabul und Logar und im Süden und Westen an Ghazni. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Chak-e-Wardak, Daimir Dad, Hissa-e-awali Behsud, Jaghatu, Jalrez, Markaz-e-Behsud, Maidan Shahr, Nerkh, Sayyid Abad (CSO 2019; vgl. IEC 2018w, UNOCHA 4.2014w, NPS o.D., OPr 1.2.2017). Die Provinzhauptstadt ist Maidan Shahr, die sich etwa 40 Kilometer südwestlich von Kabul befindet (WP 26.10.2016; vgl. OPr 1.2.2017).

Die afghanische zentrale Statistikorganisation (CSO) schätzte die Bevölkerung von Wardak für den Zeitraum 2019-20 auf 648.866 Personen (CSO 2019). Sie besteht aus Tadschiken, Paschtunen und Hazara (OPr 1.2.2017; vgl. NPS o.D.).

Wardak ist aufgrund seiner strategischen Position – unter anderem kreuzen hier die Autobahn Richtung Westen und Osten, sowie Norden und Süden – und der Nähe zu Kabul eine bedeutsame Provinz (ARN 23.6.2019). Die Autobahn Kabul-Kandahar durchquert die Distrikte Maidan Shahr, Narkh und Saydabad (UNOCHA 4.2014w). Im Juni 2019 kündigte der afghanische Transportminister an, dass ein Stück der Straße nun asphaltiert würde (AN 30.6.2019). Eine Provinzstraße führt von Maidan Shahr nach Bamyan durch die Distrikte Jalrez, Hesa-e Awal-e Behsud, Markaz-e Behsud und den Haji-gak-Pass (UNOCHA 4.2014w). Die Taliban sind entlang dieser Straße präsent, dort kam es in der Vergangenheit zu Fällen von Erschießungen oder Entführungen von Passagieren (DA 11.6.2019; vgl. RY 2.6.2019; NYT 18.8.2018; WZ 4.1.2018), das Sammeln von „ushr“ (eine prozentuelle Steuer – Anm.) (PAJ 5.11.2018). In gewissen Distrikten – wie z.B. Sayyid Abad und Daimir Dad – sollen die Taliban Posten auf der Autobahn aufgestellt haben (UNSG 7.12.2018; vgl. PAJ 27.10.2018; AP 7.10.2018; UNAMA 11.2018). Im Rahmen der Parlamentswahlen im Oktober 2018 sollen die Taliban in Maidan Wardak zudem Straßensperren errichtet haben, um die Bewohner vom Wählen abzuhalten (UNAMA 11.2018).

Laut dem UNODC Opium Survey 2018 hat die Provinz Wardak seit 2013 den Status „schlafmohnfrei“ (UNDOC/MCN 11.2018).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Die Sicherheitslage in der Provinz Maidan Wardak hat sich in den letzten Monaten verschlechtert. Aufständische der Taliban sind in gewissen Distrikten aktiv und führen terroristische Aktivitäten aus (KP 19.7.2019; vgl. KP 2.7.2019; DA 11.6.2019; KP 22.4.2019; KP 30.1

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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