TE Bvwg Erkenntnis 2020/12/1 W191 2212499-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.12.2020
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Entscheidungsdatum

01.12.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W191 2212499-1/22E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.12.2018, Zahl 1101395804-160038881, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.08.2019 zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.

II.      Gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 wird XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III.    Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer von einem Jahr erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

1. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 17.11.2015 gemeinsam mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

1.2. In seiner Erstbefragung am 10.01.2016 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu im Wesentlichen Folgendes an:

Er komme aus XXXX , Kabul, sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, schiitischer Moslem und ledig. Er spreche Paschtu, Dari und Urdu und habe in Peshawar (Pakistan) vier Jahre die Grundschule besucht. Zuletzt habe er als Hotelangestellter gearbeitet. Sein Vater und zwei weitere Brüder würden in Kabul leben. Er sei in Pakistan geboren worden und habe bis vor ca. fünf Jahren in Peshawar (Pakistan) gelebt.

Als Fluchtgrund gab der BF an, dass sie von ihren Angehörigen in Afghanistan schlecht behandelt worden seien, weil seine Mutter Sunnitin sei. Die Sicherheitslage in Afghanistan sei schlecht, Menschen würden entführt, beraubt und verletzt. Bei einer Rückkehr habe er Angst vor der unsicheren Lage. Kein Menschenleben habe in Afghanistan eine Wertschätzung.

1.3. Am 17.11.2017 wurde die Mutter des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA), im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen.

Sie gab an, Angehörige der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitische Muslima zu sein, ihre Kinder seien aber Schiiten. Die BF berichtete von ihren innerfamiliären Problemen aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit (ihr Mann sei Hazara) und der Religion. Sie sei von ihrem Stiefsohn vergewaltigt worden und hier in psychologischer Behandlung.

Der Mutter des BF und seinem jüngeren Bruder wurden mit Erkenntnissen des BVwG vom 25.07.2019 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

1.4. Bei seiner Einvernahme am 01.02.2018 vor dem BFA, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben.

Er sei schiitischer Hazara und hätte zwölf Jahre lang in Pakistan, dann 13 Monate im Iran und zuletzt ca. sieben Jahre in Kabul (Afghanistan) gelebt. Er hätte dort in einer Konditorei gearbeitet. Sein Vater hätte außerhalb von Kabul ein Hotel geführt, wo er mit seinem Bruder mitgearbeitet hätte.

Der BF erzählte ausführlich über die Lebensumstände seiner Familie, insbesondere über die Probleme, dass die paschtunische sunnitische Mutter in eine hazarische schiitische Familie eingeheiratet hätte. Schließlich gab er an, dass ihn sein ältester Bruder intim belästigt hätte, woraufhin die Einvernahme von der Referentin abgebrochen und am 15.03.2019 mit einem gleichgeschlechtlichen Referenten fortgesetzt wurde.

1.5. Bei seiner fortgesetzten Einvernahme vor dem BFA am 15.03.2018 gab der BF an, sein älterer Bruder hätte ihn vergewaltigt. Nähere Angaben dazu wollte oder konnte der BF nicht machen. Er hätte es aus Scham niemandem anvertrauen können.

1.6. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 10.12.2018 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 17.11.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt IV. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge FPG). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, das Vorbringen des BF sei unglaubhaft. Es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit – im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen – aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Zum Fluchtvorbringen des BF führte das BFA aus, dass ihm aufgrund diverser Ungereimtheiten und der Steigerung seines Vorbringens die Glaubwürdigkeit hinsichtlich der behaupteten Probleme mit dem Vater abgesprochen werden müsse. Auch den Aussagen seiner Mutter hätte kein glaubhafter Kern entnommen werden können. Es könne ihm „eine innerstaatliche Fluchtalternative unterstellt werden“.

Subsidiärer Schutz wurde dem BF nicht zuerkannt, da im Falle seiner Rückkehr nach Kabul oder Bamyan eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes nicht vorliege, da er über familiäre Anknüpfungspunkte (Vater und Brüder) verfüge, mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Heimatlandes vertraut sei, Dari spreche, arbeitsfähig sei und Berufserfahrung besitze.

1.7. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaters vom 03.01.2019 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein.

In der Beschwerdebegründung wurde das Vorbringen des BF betreffend seine Fluchtgründe zusammengefasst wiederholt und moniert, dass der BF sein Vorbringen glaubhaft geschildert habe. Weiters folgten Auszüge aus diversen Berichten zu Afghanistan.

Beantragt wurde unter anderem, eine mündliche Verhandlung durchzuführen.

1.8. Das BFA legte die Beschwerde samt Verwaltungsakt dem BVwG vor und beantragte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

1.9. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 29.03.2019, 161 Hv 28, wurde der BF wegen des Vergehens des – teilweise versuchten – unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2a Suchtmittelgesetz (SMG) zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, bedingt nachgesehen auf eine Probezeit von drei Jahren, verurteilt.

1.10. Mit Bescheid des BFA vom 23.04.2019 wurde festgestellt, dass der BF sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab 07.03.2019 gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 AsylG verloren hatte.

1.11. Das BVwG führte am 19.08.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF persönlich in Begleitung seiner Vertreterin erschien. Die belangte Behörde entschuldigte ihre Nichtteilnahme an der Verhandlung.

Dabei bestätigte bzw. wiederholte der BF auf richterliche Befragung im Wesentlichen seine bisher im Verfahren gemachten Angaben.

Auf die Frage, ob er aufgrund des behaupteten Eingriffes in seine sexuelle Selbstbestimmung den Ausschluss der Öffentlichkeit gemäß § 20 Abs. 4 AsylG wünsche, antwortete der BF: „Nein, das wäre mir egal. Nur, wenn meine Mutter oder mein Bruder da wären, sie wissen davon nichts, wollte ich nicht, dass sie das hören. Meine Mutter und mein Bruder sind nicht gekommen, da sie derzeit einen Integrations- und Wertekurs besuchen. Meine Mutter hat auch psychische Probleme.“

Der BF machte Angaben zu seinen Lebensumständen in Österreich, etwa zu seinem E-Gitarrenspiel. Er wohne in Wien gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder in einer Wohnung. Seine Mutter sei in ärztlicher Behandlung, hätte viel Stress, hätte Anfälle gehabt, sei umgefallen und es sei ihr Schaum aus dem Mund getreten. Sie sei zu einer Einrichtung für psychisch traumatisierte Flüchtlinge gegangen, außerdem sei sie beim Psychologen und beim Arzt gewesen. Die Familie hätte aus finanziellen Gründen nicht gemeinsam weggehen können.

Zu seinen Fluchtgründen gab der BF an, dass sein Vater, wenn er von der Vergewaltigung erführe, vielleicht ihm und seinem Bruder etwas antun würde. Auf die Frage, ob er erzählen könne, wie das passiert sei, sagte der BF: „Ich kann es nicht sagen.“

Der BF war dabei offensichtlich bewegt und innerlich aufgewühlt. Bei einer psychotherapeutischen Betreuung oder bei einem Arzt sei er bisher noch nicht gewesen.

Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).

Dem BF wurde die Möglichkeit eingeräumt, innerhalb einer gewährten Nachfrist Belege über seinen Gesundheitszustand (psychologischer, psychotherapeutischer oder ärztlicher Natur) nachzubringen.

Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.

1.12. Mit E-Mail vom 09.03.2020 übermittelte der Rechtsberater des BF dem BVwG eine „Klinisch-Psychologische Untersuchung und Befund“ einer Klinischen und Gesundheits-Psychologin vom 20.11.2019, demzufolge der BF am 17.10.2019 untersucht worden war. Diagnostiziert wurde Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) sowie psychische und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide mit Abhängigkeitssyndrom (F12.2).

Noch während des Termins sei mit der Institution PASS sowie einem Gesundheitsförderungszentrum für Männer bzw. der Diakonie telefoniert und Informationen und Termine für den Patienten eingeholt worden. Es wurde empfohlen, zuerst das Suchtthema mit entsprechenden Fachleuten zu behandeln und im Anschluss weitere Therapiemaßnahmen in Angriff zu nehmen.

Beigelegt war eine Teilnahmebestätigung des BF an einem Alphabetisierungskurs.

1.13. Mit Verfahrensanordnung vom 20.03.2020 wurde der BF im Wege seines Vertreters aufgefordert, binnen Frist darzulegen, welche konkreten Maßnahmen er gesetzt habe, und dies zu belegen.

Übermittelt wurde auch ein ergänzender Auszug aus dem aktuellen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan.

1.14. Nach Ablauf der gewährten Frist erging von Seiten des Vertreters des BF mit Schreiben vom 13.05.2020 ein Ersuchen auf Fristerstreckung zur Einbringung weiterer Belege. Beigelegt wurde eine Bestätigung eines Betreuungszentrums für Folter- und Kriegsüberlebende. Demnach befand sich der BF auf der Warteliste des Zentrums für ein Erstgespräch zur Abklärung eines allfälligen Therapiebedarfs.

1.15. Mit E-Mail vom 02.06.2020 teilte die zuständige Mitarbeiterin der den BF vertretenden Rechtsberatungsorganisation mit, dass dieser keine neuen Unterlagen vorlegen könne. Der letzte Stand sei, dass er – insbesondere wegen Terminproblemen aufgrund der COVID 19 Pandemie – nach wie vor auf ein Erstgespräch warte, um das er sich sehr lange bemüht habe.


1.16. Dem BFA wurden auch diese Eingaben übermittelt. Es nahm dazu keine Stellung und beteiligte sich auch sonst nicht am Verfahren vor dem BVwG.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

?        Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 10.01.2016 und der Einvernahmen vor dem BFA am 17.11.2017, 01.02.2018 und 15.03.2018 sowie die gegenständliche Beschwerde vom 03.01.2019

?        Einsicht in die Gerichtsakten des BVwG betreffend den BF, seine Mutter und seinen jüngeren Bruder

?        Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Aktenseiten 166 bis 261)

?        Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 19.08.2019 sowie Einsicht in die im Beschwerdeverfahren vorgelegten Belege zur Integration und die strafgerichtliche Verurteilung des BF

?        Einsicht in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:

o        Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie die Lage Homosexueller (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, zuletzt aktualisiert am 04.06.2019) sowie

o        Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Informationen zu Vergewaltigungen von Männern/Jungen durch Männer (Umgang der Gesellschaft mit diesem Thema; Konsequenzen für den vergewaltigten Mann/Jungen; Schutzwilligkeit/-fähigkeit der Polizei in solchen Fällen) [a-9353-1]

?        Einsicht in folgende vom BF vorgelegte Belege zu seiner Gesundheit:

o        „Klinisch-Psychologische Untersuchung und Befund“ einer Klinischen und Gesundheits-Psychologin vom 20.11.2019

o        Bestätigung eines Betreuungszentrums für Folter- und Kriegsüberlebende vom 13.05.2020

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

3.1. Zur Person des BF:

3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, nach seinem Vater – seine Mutter ist sunnitische Paschtunin – Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Paschtu, er spricht auch Dari und Urdu. Der BF hat drei leibliche Brüder, einer lebt noch in Kabul bei seinem Vater. Die beiden Stiefbrüder leben schon länger getrennt vom Vater.

3.1.2. Lebensumstände:

Der BF ist in Peshawar (Pakistan) geboren, wo er bis zu seinem zwölften Lebensjahr lebte. Anschließend lebte er mit seiner Familie 13 Monate im Iran und zuletzt sieben Jahre in Kabul (Afghanistan). Der BF besuchte vier Jahre lang die Grundschule und arbeitete als Konditor sowie im Hotelbetrieb seines Vaters.

3.1.3. Der BF verließ aus angegebenen Gründen seinen Herkunftsstaat und reiste nach Europa, wo er am 17.11.2015 in Österreich – gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder, denen der Status von anerkannten Flüchtlingen gewährt wurde – den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

3.1.4. Gesundheitliche Situation des BF:

Laut Befund einer Klinischen und Gesundheits-Psychologin vom 20.11.2019 leidet der BF an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (F34.1) sowie an psychischen und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide mit Abhängigkeitssyndrom (F12.2). Er steht derzeit nicht in ärztlicher Behandlung, wartet jedoch auf einen Termin für ein Erstgespräch bei einem Betreuungszentrums für Folter- und Kriegsüberlebende, um einen allfälligen Therapie- bzw. Medikamentenbedarf abzuklären.

Laut psychotherapeutischer Empfehlung bedarf es einer Behandlung der Suchtproblematik mit entsprechenden Fachleuten sowie weiterer Therapiemaßnahmen im Anschluss.


3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF hat sein Vorbringen, dass ihn sein Stiefbruder XXXX (genannt XXXX ) vergewaltigt hätte und er deshalb asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt wäre, nicht hinreichend glaubhaft gemacht.

3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

3.3.1. Es konnte vom BF nicht glaubhaft vermittelt werden, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aus den genannten Gründen ausgesetzt wäre.

3.3.2. Dem BF würde derzeit bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Kabul ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Der BF lebte zwar sieben Jahre mit seiner Familie in Kabul, wurde jedoch aufgrund der familiären Streitigkeiten zwischen seiner Mutter und der Familie des Vaters von seinem Vater weggeschickt. Eine Rückkehr zu seinem Vater und dessen Familie nach Kabul ist daher im Hinblick auf das glaubhaft gemachte Vorbringen des BF und dessen Mutter bezüglich ihrer Bedrohung durch die Familie des Vaters nicht möglich.

Eine Rückkehr und Ansiedelung außerhalb seiner Herkunftsprovinz, etwa in den Städten Herat oder Mazar-e-Sharif, ist dem BF aufgrund seiner individuellen Umstände – seine gesundheitliche Situation und ein damit zusammenhängender allfälliger Therapiebedarf in Zusammenschau mit der derzeit gegebenen COVID 19 Pandemie-Lage in Afghanistan – nicht zumutbar, zumal er dort nicht gelebt hat, über keine hinreichenden sozialen Anknüpfungspunkte verfügt und einer vulnerablen Personengruppe angehört.

Ausgehend von aktuellen Länderberichten zu Afghanistan und unter Berücksichtigung der UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 und den Berichten des EASO aus Juni 2019 sowie der aktuellen Berichterstattung zur COVID 19 Pandemie in Afghanistan, ist dem BF eine Rückkehr bzw. die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative derzeit nicht zumutbar.

Insbesondere sind durch die weltweite COVID 19-Pandemie exzeptionelle Umstände gegeben, die annehmen lassen, dass der BF derzeit aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse – allen voran der gesundheitlichen Probleme und eines allfälligen Therapiebedarfs – in Afghanistan keine Lebensgrundlage vorfindet und von ihm die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz nicht gedeckt werden können. Es ist dem BF aufgrund der derzeitigen Umstände nicht möglich, in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und sich dort eine Existenz aufzubauen.

Die aktuellen COVID 19 Fallzahlen sind nach wie vor sehr hoch, wobei diesen aufgrund der geringen Testkapazitäten nur sehr eingeschränkte Aussagekraft beigemessen wird. Vielmehr ist von einer sehr hohen Dunkelziffer an sowohl mit dem COVID 19 Virus infizierten Personen als auch bereits daran Verstorbenen auszugehen. Alle verfügbaren Länderinformationen stimmen dahingehend überein, dass die durch die COVID 19 Pandemie verursachte Situation sich noch weiter verschärfen wird und eine Verbesserung innerhalb der nächsten Monate nicht zu erwarten ist.

Zudem bestehen in ganz Afghanistan derzeit auch pandemiebedingte Einschränkungen und damit zusammenhängend kaum Möglichkeiten für eine Person, die in Mazar-e Sharif oder Herat weder über ein familiäres noch sonstiges Netzwerk verfügt, eine Arbeit und/oder eine Unterkunft zu finden. Beides ist jedoch von fundamentaler Bedeutung, um in Afghanistan ein menschenwürdiges Leben führen zu können. In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt.

Dazu kommt insbesondere, dass es sich beim BF zwar um einen jungen und erwerbsfähigen, aber nicht gesunden Mann handelt, der aufgrund seines Gesundheitszustandes einer vulnerablen Personengruppe im Sinne des UNHCR angehört.

Die beim BF vorgenommene Einzelfallprüfung ergibt, dass aufgrund der oben dargelegten individuellen Umstände – den psychischen Problemen und einem damit einhergehenden allfälligen Therapiebedarf in Zusammenschau mit der derzeit herrschenden COVID 19 Pandemie – derzeit nicht davon ausgegangen werden kann, dass es ihm möglich ist, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten in Afghanistan Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedelung liefe der BF vielmehr Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

3.4. Zur Integration und zu den Lebensumständen des BF in Österreich:

3.4.1. Der BF lebt mit seiner Mutter, die ebenfalls psychische Probleme hat und in Behandlung steht, und seinem jüngeren Bruder, die beide asylberechtigt sind, in einer gemeinsamen Wohnung in Wien.

Der BF bemüht sich um seine Integration in Österreich und lernt Deutsch.

3.4.2. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 29.03.2019, 161 Hv 28, wurde der BF wegen des Vergehens des – teilweise versuchten – unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2a SMG und zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, bedingt nachgesehen auf eine Probezeit von drei Jahren, verurteilt.

3.5. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan, „Gesamtaktualisierung am 13.11.2019“, zuletzt aktualisiert 21.07.2020, Schreibfehler teilweise korrigiert):

„[…] 1. Politische Lage

Letzte Änderung: 18.05.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.02.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020; UNGASC 17.03.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.02.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28.09.2019 stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.02.2020).

Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum, wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.04.2020). Am 09.03.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.04.2020; vgl. TN 16.04.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.05.2020; vgl. TN 11.05.2020) einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten, und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.05.2020; vgl. BBC 17.05.2020; DW 17.05.2020).

Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.05.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.05.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.05.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.04.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 07.05.2020; vgl. NPR 06.05.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs die Gespräche (AJ 07.05.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 06.05.2020)], andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innenpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 07.05.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.04.2020).

Das Abkommen mit den US-Amerikanern

Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen (Stand Ende 2019: rund 6.700 Mann) sollen abgezogen werden. In den ersten 135 Tagen nach der Unterzeichnung werden die US-Amerikaner ihre Truppen in Afghanistan auf 8.600 Mann reduzieren. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020).

2. Sicherheitslage

Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.03.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.01.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 01.04.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 02.04.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 01.04.2020).

Für den Berichtszeitraum 08.11.2019 - 06.02.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.03.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.01.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.03.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.01.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

[…]

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.01.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion, weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 6.2019). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 01.06.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich im Berichtszeitraum (08.11.2019 - 06.02.2020) fort: acht Selbstmordanschläge wurden verzeichnet; im Berichtszeitraum davor (09.08. - 07.11.2019) wurden 31 und im Vergleichszeitraum des Vorjahres zwölf Selbstmordanschläge verzeichnet. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF (afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte) und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.02.2020; vgl. UNGASC 17.03.2020).

Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.03.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 06.03.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020).

Am 25.03.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, acht weitere wurden verletzt (NYT 26.03.2020; vgl. TN 26.03.2020; BBC 25.03.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.03.2020; vgl. TTI 26.03.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.03.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.03.2020; vgl. NYT 26.03.2020).


Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.08.2019; vgl. FA 03.01.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.05.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.01.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.04.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 05.03.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.06.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sei ein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.08.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.01.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.08.2017; vgl. AAN 03.01.2017; AAN 17.03.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen betreiben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.08.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.08.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.08.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.02.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 01.07.2010; vgl. USDOS 19.09.2018; vgl. CRS 12.02.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015 als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.08.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.02.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 05.03.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 01.08.2017; vgl. LWJ 04.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.09.2018) bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.06.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 03.06.2019; vgl. VOA 21.05.2019).

Der ISKP geriet in dessen Hochburg in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.03.2020). Jahrelange konzentrierten sich Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese Hochburgen. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in diesen Regionen (NYT 02.12.2020; vgl. SIGAR 30.01.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.02.2020; vgl. MT 27.02.2020). Schlussendlich ist im November 2019 die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 02.12.2020; vgl. SIGAR 30.01.2020). Über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten. Zwar wurde der ISKP im November 2019 weitgehend aus der Provinz Nangarhar vertrieben, jedoch soll er weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.03.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP wurde seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf 300 Kämpfer reduziert (NYT 02.12.2020).

49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 08.11.2019 - 06.02.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.03.2020).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.03.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 02.12.2020).

Der ISKP verurteilt die Taliban als „Abtrünnige“, die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.02.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.08.2019; vgl. AP 19.08.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.08.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.08.2019).

Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.01.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.06.2019).

Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht, die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.06.2019).

Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.01.2019).

2.2. Kabul

Letzte Änderung: 22.04.2020

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (CSO 2019; vgl. IEC 2018).

Laut dem UNODC Opium Survey 2018 verzeichnete die Provinz Kabul 2018 eine Zunahme der Schlafmohnanbaufläche um 11% gegenüber 2017. Der Schlafmohnanbau beschränkte sich auf das Uzbin-Tal im Distrikt Surubi (UNODC/MCN 11.2018).


Kabul-Stadt – Geographie und Demographie

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 Personen für den Zeitraum 2019-20 (CSO 2019). Die Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten. Einige Quellen behaupten, dass sie fast 6 Millionen beträgt (AAN 19.3.2019). Laut einem Bericht expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile – auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.03.2019) – zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die afghanische zentrale Statistikorganisation (Central Statistics Organization, CSO) schätzt die Bevölkerung der Provinz Kabul für den Zeitraum 2019-20 auf 5.029.850 Personen (CSO 2019). Sie besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).

[...]

Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014). In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit internationalen und nationalen Passagierflügen bedient wird (BFA Staatendokumentation 25.03.2019).

Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.03.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).

Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen: Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher, und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine disruptive Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.03.2019).

Nichtsdestotrotz ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalen oder ethnischen Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt, und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansäßig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdes

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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