Entscheidungsdatum
27.01.2021Norm
B-VG Art89 Abs2Text
Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich fasst aus Anlass der Beschwerde der Frau A gegen das Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft St. Pölten vom 30. November 2020, Zl. ***, betreffend Bestrafung nach dem COVID-19-Maßnahmengesetz den
B E S C H L U S S:
Gemäß Art. 139 Abs. 1 Z 1 B-VG wird an den Verfassungsgerichtshof der
A N T R A G
gestellt, dieser möge erkennen, dass § 2 Abs. 1a Satz 1 der Verordnung des Bundesministers fu?r Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Beka?mpfung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen wurden (COVID-19-Lockerungsverordnung – COVID-19-LV), i.d.F. der 10. COVID-19-LV-Novelle, BGBl. II Nr. 398/2020, gesetzwidrig war.
Antragsgegner: Bundesminister fu?r Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz
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Mitbeteiligte Parteien: 1. A
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2. Bezirkshauptmannschaft St. Pölten
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Begründung
I. Sachverhalt:
Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft St. Pölten vom 30. November 2020, Zl. ***, zugestellt am 3. Dezember 2020, wurde der Erstmitbeteiligten zur Last gelegt, sie habe am 15. September 2021 um 09.15 Uhr den Kundenbereich der Betriebssta?tte des Unternehmens B in ***, ***, ***, welche eine Betriebssta?tte des Lebensmitteleinzelhandels dargestellt habe, betreten und dabei keine den Mund- und Nasenbereich abdeckende mechanische Schutzvorrichtung getragen, obwohl im Tatzeitpunkt für Kunden eine solche Verpflichtung bestanden habe. Sie habe dadurch gegen §§ 1, 2 Z.1 und 3 Abs.1 COVID-19-Maßnahmengesetz i.V.m. § 2 Abs. 1a Z. 2 COVID- 19-LV, BGBl. II Nr. 197/2020 i.d.F. BGBl. II Nr. 398/2020 verstoßen und wurde über sie aus diesem Grund gemäß § 3 Abs. 3 COVID-19-Maßnahmengesetz eine Geldstrafe in der Höhe von € 360,--(Ersatzfreiheitsstrafe: 33 Stunden) verhängt.
Am 29. Dezember 2020 erhob die Erstmitbeteiligte gegen dieses Straferkenntnis Beschwerde. Mit Schreiben der Bezirkshauptmannschaft St. Pölten vom 30. Dezember 2020 legte diese die Beschwerde samt dem Verwaltungsstrafakt dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich zur Entscheidung vor. Dieses ersuchte mit Schreiben vom 4. Jänner 2021 den Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, ihm vor dem Hintergrund des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofs vom 1. Oktober 2020, V 463/2020 u.a., die Dokumentation über die Beweggründe zu dieser Regelung zur Verfügung zu stellen. Seitens der ersuchten Behörde erfolgte keinerlei Reaktion.
II. Angefochtene Bestimmung:
§ 2 Abs. 1a Satz 1 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Beka?mpfung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen wurden (COVID-19-Lockerungsverordnung – COVID-19-LV) in der im Beschwerdefall im Hinblick auf den Tatzeitpunkt anzuwendenden Fassung der 10. COVID-19-LV-Novelle, BGBl. II Nr. 398/2020, lautete (im Zusammenhang des gesamten Absatzes):
„(1a) Beim Betreten des Kundenbereichs in geschlossenen Räumen von Betriebsstätten ist eine den Mund- und Nasenbereich abdeckende mechanische Schutzvorrichtung zu tragen. Die Betreiber sowie deren Mitarbeiter haben bei Kundenkontakt eine den Mund- und Nasenbereich abdeckende mechanische Schutzvorrichtung zu tragen, sofern zwischen den Personen keine sonstige geeignete Schutzvorrichtung zur räumlichen Trennung vorhanden ist, die das gleiche Schutzniveau gewährleistet.“
Die genannte Bestimmung trat zufolge § 19 Abs. 2 der COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung – COVID-19-SchuMaV, BGBl. II Nr. 463/2020, mit Ablauf des 2. November 2020 vorübergehend und zufolge § 19 Abs. 3 COVID-19-Notmaßnahmenverordnung – COVID-19-NotMV, BGBl. II 2020/479, endgültig außer Kraft. Die angefochtene Bestimmung gehört damit nicht mehr dem geltenden Rechtsbestand an.
III. Pra?judizialita?t der angefochtenen Bestimmung und Auswirkung der Entscheidung des VfGH auf die anhängige Rechtssache:
Aufgrund der rechtzeitigen Beschwerde hat das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich gemäß § 50 VwGVG in der Sache zu entscheiden. Nach dem im Straferkenntnis gemäß § 44a Z 1 VStG erhobenen Tatvorwurf ist im Beschwerdeverfahren zu prüfen, ob die Erstmitbeteiligte § 2 Abs. 1a Satz 1 COVID-19-LV i.d.F. BGBl. II Nr. 398/2020 übertreten hat.
Würde die Gesetzwidrigkeit der angefochtenen Bestimmung festgestellt, wäre das angefochtene Straferkenntnis aufzuheben und das zugrundeliegende Verwaltungsstrafverfahren einzustellen, da das angelastete Verhalten der Erstmitbeteiligten nicht rechtswidrig gewesen wäre.
IV. Bedenken des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich:
Mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 1. Oktober 2020,
G 271/2020-16, V 463-467/2020-16, wurde zu Recht erkannt, dass die Wortfolge „und eine den Mund- und Nasenbereich abdeckende mechanische Schutzvorrichtung zu tragen“ in § 1 Abs. 2 der COVID-19-LV, BGBl. II Nr. 197/2020 (Stammfassung), gesetzwidrig war.
Begru?ndet wurde dies (auszugsweise) wie folgt (vgl. Rz 49 ff des zitierten Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofs vom 01. Oktober 2020):
„2.6. § 1 Abs. 2 COVID-19-Lockerungsverordnung in der Stammfassung hatte seine Rechtsgrundlage in § 2 COVID-19-Maßnahmengesetz. § 2 COVID-19-Maßnahmengesetz ermächtigt den Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz beim Auftreten von COVID-19 dazu, durch Verordnung ‚das Betreten von bestimmten Orten‘ zu untersagen, ‚soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist.‘ In der Verordnung kann auch geregelt werden, ‚unter welchen bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen jene bestimmten Orte betreten werden dürfen.‘
Diese Verordnungserma?chtigung determiniert den Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz als verordnungserlassende Behörde in mehrfacher Hinsicht (VfGH 14.7.2020, V 363/2020, und VfGH 14.7.2020, V 411/2020):
2.6.1. Das COVID-19-Maßnahmengesetz ist eine Reaktion des Gesetzgebers auf eine krisenhafte Situation durch das Auftreten des Coronavirus SARS-CoV-2 und die dadurch ausgelöste Coronavirus-Krankheit COVID-19. Die Ermächtigung zur Erlassung von Geboten zum Tragen eines Mund-Nasenschutzes nach §2 COVID-19-Maßnahmengesetz (‚Voraussetzungen oder Auflagen‘) hat – gemeinsam mit einer Reihe weiterer staatlicher Maßnahmen in unterschiedlichen Rechtsformen und auf unterschiedlichen Ebenen – den Gesundheitsschutz durch Schutz der Funktionsfähigkeit der Gesundheitsinfrastruktur zum Ziel.
Krisenhafte Situationen wie die vorliegende sind dadurch gekennzeichnet, dass staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Ursache, Auswirkungen und Verbreitung der Krankheit unter erheblichem Zeitdruck und insofern unter Unsicherheitsbedingungen getroffen werden müssen, als Wissen darüber zu einem großen Teil erst nach und nach gewonnen werden kann und Auswirkungen wie Verbreitung von COVID-19 notwendig einer Prognose unterliegen.
Auch in solchen Situationen leitet, wie sonst, die Bundesverfassung Gesetzgebung und Verwaltung bei Maßnahmen zu ihrer Bewältigung insbesondere durch das Legalita?tsprinzip des Art. 18 B-VG sowie die durch ein System verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte gebildete Grundrechtsordnung. Das Legalita?tsprinzip stellt Anforderungen an die gesetzliche Bindung der Verwaltung bei ihren Maßnahmen zur Krisenbeka?mpfung. Die Grundrechtsordnung gewährleistet, dass in den notwendigen Abwa?gungsprozessen mit o?ffentlichen Interessen die in einer liberalen Verfassungsordnung wesentlichen Interessen des Einzelnen berücksichtigt und die beteiligten Interessen angemessen ausgeglichen werden, auch wenn, wie in der vorliegenden Situation, die o?ffentlichen Interessen auf grundrechtlich geschützten Interessen basieren, die den Staat auch zum Handeln verpflichten.
2.6.2. Nach Art. 18 Abs. 2 B-VG kann der Gesetzgeber dem Verordnungsgeber Abwägung- und Prognosespielra?ume einräumen und, solange die wesentlichen Zielsetzungen, die das Verwaltungshandeln leiten sollen, der Verordnungserma?chtigung in ihrem Gesamtzusammenhang mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen sind, die situationsbezogene Konkretisierung des Gesetzes dem Verordnungsgeber überlassen (vgl VfSlg 15.765/2000). Es kommt auf die zu regelnde Sache und den Regelungszusammenhang an, welche Determinierungsanforderungen die Verfassung an den Gesetzgeber stellt (VfSlg 19.899/2014 mwN). In diesem Zusammenhang hat der Verfassungsgerichtshof auch mehrfach ausgesprochen, dass der Grundsatz der Vorherbestimmung verwaltungsbeho?rdlichen Handelns nicht in Fällen überspannt werden darf, in denen ein rascher Zugriff und die Berücksichtigung vielfältiger örtlicher und zeitlicher Verschiedenheiten für eine sinnvolle und wirksame Regelung wesensnotwendig sind, womit auch eine zweckbezogene Determinierung des Verordnungsgebers durch unbestimmte Gesetzesbegriffe und generalklauselartige Regelungen zulässig ist (vgl VfSlg 17.348/2004 mwN). Dabei hat der Verfassungsgerichtshof auch darauf hingewiesen, dass in einschlägigen Konstellationen der Normzweck auch gebieten kann, dass eine zum Zeitpunkt ihrer Erlassung dringend erforderliche – unter Umständen unter erleichterten Voraussetzungen zustande gekommene – Maßnahme dann rechtswidrig wird und aufzuheben ist, wenn der Grund für die Erlassung fortfällt (siehe VfSlg 15.765/2000).
Überlässt der Gesetzgeber im Hinblick auf bestimmte tatsächliche Entwicklungen dem Verordnungsgeber die Entscheidung, welche aus einer Reihe möglicher, unterschiedlich weit gehender, aber jeweils Grundrechte auch intensiv einschränkender Maßnahmen er seiner Prognose zufolge und in Abwägung der betroffenen Interessen für erforderlich hält, hat der Verordnungsgeber seine Entscheidung auf dem in der konkreten Situation zeitlich und sachlich möglichen (vgl VfSlg 15.765/2000) und zumutbaren Informationsstand über die relevanten Umstände, auf die das Gesetz maßgeblich abstellt, und nach Durchführung der gebotenen Interessenabwa?gung zu treffen. Dabei muss er diese Umstände ermitteln und dies im Verordnungserlassungsverfahren entsprechend festhalten, um eine Überprüfung der Gesetzmäßigkeit der Verordnung zu gewährleisten (darauf hat der Verfassungsgerichtshof bereits in mehrfachem Zusammenhang abgestellt, vgl VfSlg 11.972/1989, 17.161/2004, 20.095/2016). Determiniert das Gesetz die Verordnung inhaltlich nicht so, dass der Verordnungsinhalt im Wesentlichen aus dem Gesetz folgt, sondern öffnet er die Spielräume für die Verwaltung so weit, dass ganz unterschiedliche Verordnungsinhalte aus dem Gesetz folgen können, muss der Verordnungsgeber die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände entsprechend ermitteln und dies im Verordnungserlassungsverfahren auch nachvollziehbar festhalten, sodass nachgeprüft werden kann, ob die konkrete Verordnungsregelung dem Gesetz in der konkreten Situation entspricht (das ist der Kern der Judikatur, der zufolge das Gesetz in einem Ausmaß bestimmt sein muss, ‚daß jeglicher Vollziehungsakt am Gesetz auf seine Rechtmäßigkeit hin gemessen werden kann‘, siehe zB VfSlg 12.133/1989). Insofern unterscheiden sich demokratische Gesetzgebung und generell abstrakte Rechtssetzung durch die Verwaltung im Wege von Verordnungen nach Art. 18 Abs. 2 B-VG. Die Determinierungswirkungen und damit die rechtsstaatliche und demokratische Bestimmung des Verordnungsgebers durch Art. 18 Abs. 2 B-VG zielen auf eine entsprechende Bindung bei der konkreten Verordnungserlassung ab.
2.6.3. Mit § 2 COVID-19-Maßnahmengesetz überträgt der Gesetzgeber der verordnungserlassenden Behörde einen Einschätzungs- und Prognosespielraum, ob und wieweit sie zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 auch erhebliche Grundrechtsbeschra?nkungen für erforderlich hält, womit der Verordnungsgeber seine Entscheidung als Ergebnis einer Abwägung mit den einschlägigen grundrechtlich geschützten Interessen der betroffenen Personen zu treffen hat. Der Verordnungsgeber muss also in Ansehung des Standes und der Ausbreitung von COVID-19 notwendig prognosehaft beurteilen, inwieweit in Aussicht genommene Maßnahmen wie die Verpflichtung zum Tragen einer den Mund- und Nasenbereich abdeckenden mechanischen Schutzvorrichtung zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 geeignete (der Zielerreichung dienliche) erforderliche (gegenläufige Interessen weniger beschränkend und zugleich weniger effektiv nicht mögliche) und insgesamt angemessene (nicht hinnehmbare Grundrechtseinschra?nkungen ausschließende) Maßnahmen darstellen.
Der Einschätzungs- und Prognosespielraum des Verordnungsgebers umfasst insoweit auch die zeitliche Dimension dahingehend, dass ein schrittweises, nicht vollständig abschätzbare Auswirkungen beobachtendes und entsprechend wiederum durch neue Maßnahmen reagierendes Vorgehen von der gesetzlichen Ermächtigung des § 2 COVID-19-Maßnahmengesetz vorgesehen und auch gefordert ist.
Angesichts der damit inhaltlich weitreichenden Ermächtigung des Verordnungsgebers verpflichtet § 2 COVID-19-Maßnahmengesetz vor dem Hintergrund des Art. 18 Abs. 2 B-VG den Verordnungsgeber im einschlägigen Zusammenhang auch, die Wahrnehmung seines Entscheidungsspielraums im Lichte der gesetzlichen Zielsetzungen insoweit nachvollziehbar zu machen, als er im Verordnungserlassungsverfahren festhält, auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände die Verordnungsentscheidung fußt und die gesetzlich vorgegebene Abwa?gungsentscheidung erfolgt ist. Die diesbezüglichen Anforderungen dürfen naturgemäß nicht überspannt werden, sie bestimmen sich maßgeblich danach, was in der konkreten Situation möglich und zumutbar ist. Auch in diesem Zusammenhang kommt dem Zeitfaktor entsprechende Bedeutung zu.
All dies hat der Verfassungsgerichtshof bei seiner Prüfung, ob der Bundesminister den gesetzlichen Vorgaben bei Erlassung der angefochtenen Bestimmung des § 1 Abs. 2 COVID-19-Lockerungsverordnung in der Stammfassung entsprochen hat, zu berücksichtigen. Damit ist für die Beurteilung des Verfassungsgerichtshofes insoweit der Zeitpunkt der Erlassung der entsprechenden Verordnungsbestimmungen und die diesen zugrunde liegende aktenmäßige Dokumentation maßgeblich.
Dass es damit dafür, ob die angefochtene Verordnungsbestimmung mit den Zielsetzungen des § 2 COVID-19-Maßnahmengesetz im Einklang stehen, auch auf die Einhaltung bestimmter Anforderungen der aktenmäßigen Dokumentation im Verfahren der Verordnungserlassung ankommt, ist kein Selbstzweck. Auch in Situationen, die deswegen krisenhaft sind, weil für ihre Bewältigung entsprechende Routinen fehlen, und in denen der Verwaltung zur Abwehr der Gefahr gesetzlich erhebliche Spielraume eingeräumt sind, kommt solchen Anforderungen eine wichtige, die Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns sichernde Funktion zu.
2.7. Als Grundlagen für die Erlassung (u.a.) der angefochtenen Bestimmungen der COVID-19-Lockerungsverordnung finden sich in den – vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz in den zu den Zahlen
V 350-354/2020 (G 181/2020) geführten Verordnungspru?fungsverfahren vorgelegten und ausdrücklich auch für das vorliegende Verfahren für maßgeblich erklärten – Verordnungsakten nachstehende Unterlagen und Angaben:
In dem vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz vorgelegten Verwaltungsakt, der der Erlassung der (Stammfassung der) COVID-19-Lockerungsverordnung, BGBl. II 197/2020, zugrunde liegt, wird unter der Rubrik ‚Sachverhalt‘ ausgeführt: ‚Inliegend der Entwurf der LockerungsVO, welche die VO 96/2020 idgF und 98/2020 idgF ablöst. Es sind darin die ab 1. Mai gelten Regelungen hinsichtlich der Maßnahmen in Betriebsstätten, bei Veranstaltungen, in Massenbeförderungsmitteln, etc. geregelt. Die inliegende VO wäre nunmehr durch HBM zu unterfertigen und der Kundmachung zuzuleiten‘. Darüber hinaus finden sich in diesem Verwaltungsakt keine weiteren, im Hinblick auf die gesetzliche Grundlage des § 2 COVID-19-Maßnahmengesetz relevanten Ausführungen oder Unterlagen, sondern lediglich zwei Entwürfe (vom 28. April 2020, 22.00 Uhr, und vom 30. April 2020, 17.00 Uhr), eine ‚finale Version‘ (ebenfalls vom 30. April 2020) sowie die vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz unterfertigte Verordnung, jeweils ohne Anmerkungen.
2.8. Damit genügt die angefochtene Bestimmung des § 1 Abs. 2 COVID-19-Lockerungsverordnung in der Stammfassung den Vorgaben des § 2 COVID-19-Maßnahmengesetz schon aus diesem Grund nicht.
Die Entscheidungsgrundlagen, die im Verordnungsakt zur COVID-19-Lockerungsverordnung in der Stammfassung BGBl. II 197/2020 dokumentiert sind, beschränken sich auf eine Absichtserkla?rung, die bloß im Groben umrissene Verordnung erlassen zu wollen. Es ist aus dem Verordnungsakt nicht ersichtlich, welche Umstände im Hinblick auf welche möglichen Entwicklungen von COVID19 den Verordnungsgeber bei seiner Entscheidung zu einer (Beibehaltung der) Verpflichtung zum Tragen einer den Mund- und Nasenbereich abdeckenden mechanischen Schutzvorrichtung beim Betreten öffentlicher Orte in geschlossenen Räumen geleitet haben.
2.9. § 1 Abs. 2 COVID-19-Lockerungsverordnung in der Stammfassung BGBl. II 197/2020 verstößt somit gegen § 2 COVID-19-Maßnahmengesetz, weil es der Verordnungsgeber gänzlich unterlassen hat, jene Umstände, die ihn bei der Verordnungserlassung bestimmt haben, so festzuhalten, dass entsprechend nachvollziehbar ist, warum der Verordnungsgeber die mit dieser Regelung getroffenen Maßnahmen für erforderlich gehalten hat. Bei diesem Ergebnis erübrigt sich eine weitere Prüfung, ob die angefochtene Bestimmung auch aus anderen Gründen gesetz- oder verfassungswidrig ist.
2.10. Da § 1 Abs. 2 COVID-19-Lockerungsverordnung durch Z 2 der 5. COVID-19-LV-Novelle, BGBl. II 266/2020, mit Wirkung vom 15. Juni 2020 aufgehoben wurde, ist daher festzustellen, dass die Wortfolge ‚und eine den Mund- und Nasenbereich abdeckende mechanische Schutzvorrichtung zu tragen‘ in § 1 Abs. 2 COVID-19-Lockerungsverordnung in der Stammfassung BGBl. II 197/2020 gesetzwidrig war.“
Wesentlicher Grund der Feststellung der Gesetzwidrigkeit der geprüften Verordnungsbestimmung war demnach die fehlende aktenmäßige Dokumentation der für die Verordnungserlassung maßgeblichen Grundlagen im Zeitpunkt der Erlassung der Verordnung. Dies scheint aber die gesamte Verordnung und ihre Novellen, somit auch die im vorliegenden Fall vom Landesverwaltungsgericht Niederösterreich anzuwendende Bestimmung des § 2 Abs. 1a Satz 1 COVID-19-LV, zu betreffen, wobei die Bedenken des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich auch dadurch erhärtet werden, dass der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz auf das hg. Ersuchen um Zurverfügungstellung der Dokumentation über die Beweggründe zur gegenständlichen Bestimmung nicht einmal reagiert hat. Daher hegt das Landesverwaltungsgericht dahingehend Zweifel an deren Gesetzmäßigkeit, dass auf die gegenständlich relevante Bestimmung betreffend keine aktenmäßige Dokumentation der für die Verordnungserlassung maßgeblichen Grundlagen im Zeitpunkt der Erlassung der Verordnung fehlte.
V. Schlussfolgerungen
Gemäß Art. 139 Abs. 1 Z 1 und Abs. 4 iVm 135 Abs. 4 und Art. 89 Abs. 2 B-VG sieht sich das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich verpflichtet, die Feststellung der Gesetzwidrigkeit der angefochtenen Bestimmung zu beantragen.
Gemäß § 57 Abs. 3 des Verfassungsgerichtshofgesetzes 1953 (VfGG), BGBl. 85 idF BGBl. I 92/2014, dürfen nunmehr in dem beim Landesverwaltungsgericht Niederösterreich anhängigen Beschwerdeverfahren bis zur Verkündung bzw. Zustellung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes nur solche Handlungen vorgenommen oder Anordnungen und Entscheidungen getroffen werden, die durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes nicht beeinflusst werden können oder die die Frage nicht abschließend regeln und keinen Aufschub gestatten. Dieser Zeitraum ist in die Verjährungsfristen nicht einzurechnen
(vgl. § 31 Abs. 2 Z 4 VStG bzw. § 43 Abs. 2 VwGVG).
Schlagworte
Gesundheitsrecht; COVID-19; Verordnung; Antrag; Aufhebung; Gesetzwidrigkeit;Anmerkung
VfGH 10.06.2021, V 35/2021-7, AbweisungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:LVWGNI:2021:LVwG.S.3.002.2021Zuletzt aktualisiert am
22.07.2021