Entscheidungsdatum
15.10.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1Spruch
W182 2224743-1/25E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch RA Mag. László SZABÓ, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.09.2019, Zl. 733649308/190589154, gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBI. I. Nr 33/2013 idgF, zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird gemäß §§ 7 Abs. 1 und Abs. 4, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1, 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I. Nr. 100/2005 idgF, § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl I. Nr. 87/2012 idgF, §§ 46, 52 Abs. 2 und Abs. 9, 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I. Nr. 100/2005 idgF, mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Dauer des Einreiseverbotes auf drei Jahre herabgesetzt wird.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), BGBl. I Nr. 1/1930 idgF, nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, gehört der tschetschenischen Volksgruppe an, ist Muslim, stammte aus Tschetschenien, reiste am 25.11.2003 mit seiner Gattin und zwei Kindern illegal in das Bundesgebiet ein und hat am 26.11.2003 einen Asylantrag gestellt.
Zu seinen Fluchtgründen brachte er in einer Einvernahme beim Bundesasylamt am 21.01.2004 im Wesentlichen vor, dass er Anfang Jänner 2002 von russischen Soldaten angehalten, verhört, misshandelt und nach einer Woche gegen Lösegeld freigelassen worden sei. Nachdem es im Juli 2003 in seinem Dorf wieder zu Säuberungsaktionen gekommen sei, habe er auf Drängen seiner Mutter Ende September 2003 mit seiner Familie das Herkunftsland verlassen. Auf Nachfragen stellte der BF klar, dass es nach seiner Freilassung im Jahr 2002 zu keinem persönlichen Übergriff gegen ihn mehr gekommen sei. Er habe das Herkunftsland hauptsächlich wegen seiner Kinder verlassen. Er habe im ersten Tschetschenien-Krieg sein Dorf verteidigt, im zweiten Krieg habe er nicht gekämpft. Bei einer Rückkehr befürchte er von russischen Soldaten getötet zu werden.
Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 16.03.2004, Zl. 03 36.493-BAT, wurde sein Asylantrag gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG), BGBl I 1997/76 idF 126/2002, abgewiesen und seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Russland gemäß § 8 AsylG für zulässig erklärt. Begründend ging das Bundesasylamt von der Unglaubwürdigkeit der individuellen Fluchtgründe des BF aus.
Einer dagegen erhobenen Berufung wurde mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 23.04.2004, Zl. 248.936/0-XIV/08/03, stattgegeben, dem BF gemäß § 7 AsylG Asyl gewährt und festgestellt, dass ihm gemäß § 12 AsylG damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Der Entscheidung wurden die im bekämpften Bescheid getroffenen Feststellungen des Bundesasylamtes zur allgemeinen Lage in Tschetschenien bzw. in der Russischen Föderation zugrundegelegt. Aus diesen ging im Wesentlichen hervor, dass die Situation in Tschetschenien durch Säuberungsaktionen russischer Kräfte wie auch Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Banden und Rebellen geprägt sei, wobei ethnische Tschetschenen im Gegensatz zu ethnischen Russen oft keine Möglichkeit hätten, sich in anderen Teilen der Russischen Föderation niederzulassen. Allein unter Zugrundelegung dieser Feststellungen zur allgemeinen Situation im Herkunftsstaat ging der Unabhängige Bundesasylsenat vom Bestehen einer wohlbegründeten Furcht des BF vor Verfolgung aus Gründen der GFK – und zwar aus Gründen seiner Nationalität – aus. Dazu wurde begründend ausgeführt, dass es sohin von ethnischen Gründen, nämlich ob Bewohner Tschetscheniens der tschetschenischen oder der russischen Volksgruppe angehören, abhänge, damit sie von den Behörden der Russischen Föderation die Möglichkeit erhalten, sich in anderen Teilen der Russischen Föderation anzusiedeln und sich dadurch jenen Verhältnissen zu entziehen, die in Tschetschenien vorherrschen. Darin sei eine dem Herkunftsstaat zuzurechnende, auf asylrechtlich relevanten Motiven basierende Verweigerung von Schutz gegen eine Verfolgungssituation von im gegebenen Zusammenhang ausreichender Intensität zu sehen.
1.2. Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX .2004, Zl. XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 4 Wochen rechtskräftig verurteilt, wobei der Vollzug der verhängten Strafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF versucht hat, in einem Supermarkt am XXXX .2004 einen XXXX im Gesamtwert von XXXX € sowie am XXXX .2004 ein XXXX zu stehlen. Als erschwerend wurden das Zusammentreffen zweier strafbarer Handlungen, als mildernd das Geständnis, der bisher ordentliche Lebenswandel und der Umstand, dass es beim Versuch geblieben ist, gewertet.
Danach wurde der BF mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .2004, Zl. XXXX , wegen des Vergehens des teils versuchten, teils vollendeten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Geldstrafe von 180 Tagsätzen rechtskräftig verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF versucht hat, am XXXX .2004 in einem Supermarkt XXXX im Gesamtwert von XXXX zu stehlen. Weiters hat der BF zwischen XXXX . und XXXX .2004 in einem Kaufhaus eine XXXX im Wert von XXXX € sowie in einem weiteren Kaufhaus einen XXXX im Wert von XXXX gestohlen. Weiters hat er am XXXX .2004 in einem Kaufhaus eine XXXX im Wert von XXXX versucht zu stehlen. Als erschwerend wurden die Wiederholung der Diebstähle, die einschlägige Vorstrafe, die Forstsetzung trotz behängenden Verfahrens, als mildernd der Umstand, dass die Taten teilweise beim Versuch geblieben sind, und das teilweise Geständnis bewertet.
Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX .2005, Zl. XXXX , wurde der BF neuerlich wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 4 Wochen rechtskräftig verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF versucht hat, am XXXX .2005 in einem Supermarkt XXXX im Gesamtwert von XXXX € sowie am XXXX .2005 in einem Supermarkt einen XXXX im Wert von XXXX zu stehlen. Als erschwerend wurden die Vorstrafen und die gehäufte Tatbegehung, als mildernd die geständige Verantwortung des BF gewertet.
Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX .2006, Zl. XXXX , wurde der BF neuerlich wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 6 Wochen rechtskräftig verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am XXXX .2006 in einem Supermarkt versucht hat, XXXX im Gesamtwert von XXXX zu stehlen. Als erschwerend wurde die einschlägige Vorstrafenbelastung, der rasche Rückfall, als mildernd die geständige Verantwortung des BF sowie die Schadensgutmachung gewertet.
Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX .2007, Zl. XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 7 Wochen rechtskräftig verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF versucht hat, eine XXXX zu stehlen.
Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .2008, Zl. XXXX , wurde der BF neuerlich wegen des Vergehens des Diebstahls und der Nötigung nach §§ 127, 105 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten rechtskräftig verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am XXXX .2008 in einem Supermarkt XXXX im Gesamtwert von XXXX gestohlen hat, wobei er einen Privatdetektiv, der den angeführten diebischen Zugriff beobachtet und ihn anzuhalten versucht hat, mit Gewalt an der weiteren Anhaltung gehindert hat, indem er diesen mehrfach kräftig weggeschubst hat. Als erschwerend wurde die Vorstrafenbelastung, das Zusammentreffen von zwei Vergehen und der Rückfall hinsichtlich eines Vermögensdeliktes, als mildernd kein Umstand gewertet.
Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX .2011, Zl. XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 90 Tagen rechtskräftig verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am XXXX und am XXXX 2010 jeweils XXXX im Gesamtwert von XXXX einem Verfügungsberechtigten in Bereicherungsabsicht weggenommen hat. Als erschwerend wurde die Wiederholung der Tat, die einschlägigen Vorstrafen und das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Strafverschärfung bei Rückfall gemäß § 39 StGB, als mildernd die Schadensgutmachung gewertet.
Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX .2016, Zl. XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten rechtskräftig verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am XXXX .2015 in einem Supermarkt XXXX und XXXX im Gesamtwert von XXXX zu stehlen versucht hat. Als erschwerend wurden sieben einschlägige Vorstrafen, als mildernd ein umfassendes reumütiges Geständnis und der Umstand, dass die Tat beim Versuch geblieben ist, gewertet.
Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX 2016, Zl. XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 130 Abs. 1 erster Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten rechtskräftig verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am XXXX .2016 und am XXXX .2016 in zwei Supermärkten jeweils XXXX im Gesamtwert von XXXX sowie zu nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkten Verfügungsberechtigten XXXX in einem 5.000,- € nicht übersteigenden Wert weggenommen hat und dabei in der Absicht gehandelt hat, sich durch die wiederkehrende Begehung von Diebstählen längere Zeit hindurch ein nicht bloß geringfügiges Einkommen zu verschaffen. Als erschwerend wurden die einschlägige Vorstrafenbelastung und der rasche Rückfall nach der letzten Verurteilung, als mildernd das teilweise Geständnis und die teilweise Schadenswiedergutmachung gewertet.
Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX .2019, Zl. XXXX wurde der BF wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten rechtskräftig verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am XXXX .2019 in einem Supermarkt XXXX im Gesamtwert von XXXX € zu stehlen versucht hat. Als erschwerend wurde gewertet, dass der BF 9-fach einschlägig vorbestraft ist und die Voraussetzungen nach § 39 StGB vorliegen. Als mildernd wurde die Geständigkeit des BF und der Umstand, dass es zu keinem Schaden gekommen und die Tat beim Versuch geblieben ist, gewertet.
2.1. Mit Schreiben des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) vom 12.06.2019 wurde dem BF mitgeteilt, dass aufgrund seiner rechtskräftigen Verurteilungen ein Aberkennungsverfahren gemäß § 7 Abs. 1 AsylG 2005 eingeleitet werde.
In einer Einvernahme beim Bundesamt am 23.09.2019 erklärte der BF auf die Frage, welche Befürchtungen er aktuell bei einer Rückkehr ins Herkunftsland hege, dass er denke, eingesperrt und verhört zu werden, wenn er zurückkehre. Er sei vor 2003 drei Mal mitgenommen worden; er habe am ersten Tschetschenienkrieg teilgenommen. Auf die Frage, warum er jetzt verhört werden sollte, gab er an, dass er denke, dass es jetzt wegen seines Bruders wäre. Wegen ihm sei der BF nach Österreich gekommen. Dieser habe im zweiten Tschetschenienkrieg gekämpft, sei 2005 oder 2006 eingesperrt, dann 2006 aber gegen Geld wieder freigelassen worden. Danach sei er gleich wieder verhaftet und zu fünf Jahren Haftstrafe verurteilt worden. Der Bruder sei drei Jahre in Haft gesessen und 2008 oder 2009 wieder verurteilt worden. Auf die Frage, was dies mit ihm zu tun hätte, erklärte der BF, dass er 2002 wegen seines Bruders verhaftet worden und nur freigelassen worden sei, weil er versprochen habe, diesen zu finden und den Behörden zu bringen. In Österreich habe ihn dann irgendein Polizist angerufen und gefragt, warum er weggelaufen sei. 2008 sei er von einem Onkel angerufen worden, der ihn gebeten hätte, nach Tschetschenien zu kommen, da die Mutter des BF immer alleine zu Hause sei und nach seinem Bruder gesucht werden würde. Der BF fürchte Verfolgung, weil er damals versprochen habe, zu kooperieren und ihm mitgeteilt worden sei, dass wenn er nicht erfülle, was er versprochen habe, man ihn festnehmen werde. Der BF sei jedoch geflüchtet und seien sie danach jeden Tag in der Früh zu ihnen nach Hause gekommen. Er habe regelmäßigen Kontakt zu seiner Mutter im Heimatdorf. Im Herkunftsland würden weiters eine Schwester, zwei Brüder, sowie Onkel und Tanten leben. In Österreich würden sich seine Gattin sowie vier Kinder aufhalten.
Für den BF wurde u.a. ein ÖSD Zertifikat A2 vom 19.12.2017 sowie eine Bestätigung des Berufsförderungsinstitutes über einen Deutsch-Integrationskurs vorgelegt.
2.2. Mit dem im Spruch genannten, angefochtenen Bescheid vom 24.09.2019 erkannte das Bundesamt dem BF den mit Bescheid vom 23.04.2004 zuerkannten Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Weiters erkannte das Bundesamt dem BF gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zu (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen (Spruchpunkt IV). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde festgestellt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 3 Z 5 FPG idgF wurde gegen den BF ein auf zehn Jahre befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).
Begründend wurde dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland keine Gefährdungs- bzw. Bedrohungslage mehr zu befürchten habe. Die objektive Lage bezüglich seines Heimatlandes habe sich maßgeblich geändert, wie aus den aktuellen Länderinformationen entnommen werden könne und ehemalige Unterstützer seien keiner Verfolgung mehr ausgesetzt. Eine aktuelle individuelle Furcht vor Verfolgung in der Russischen Föderation habe der BF nicht glaubhaft machen können. Er könne seinen Lebensunterhalt in der Russischen Föderation bestreiten und würde ebendort Arbeitsmöglichkeiten vorfinden. Hinsichtlich der Rückkehrentscheidung habe in einer Interessensabwägung nach Art. 8 EMRK insbesondere angesichts der zahlreichen Verurteilungen des BF das öffentliche Interesse an der Verhinderung von Straftaten die privaten bzw. familiären Interessen des BF überwogen. Zudem sei die Erlassung eines Einreiseverbotes die einzige adäquate Maßnahme gewesen, um auf die vom BF ausgehende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu reagieren.
Mit Verfahrensanordnung vom 24.09.2019 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.
2.3. Gegen den Bescheid wurde am 22.10.2019 binnen offener Frist durch die vom BF mit Schreiben vom 18.10.2019 zur Vertretung bevollmächtigte Rechtsberatung im vollen Umfang Beschwerde erhoben. Darin wurde im Wesentlichen geltend gemacht, dass der BF beim Bundesamt vorgebracht habe, nach seiner Verhaftung 2002 in Tschetschenien unter der Auflage freigelassen worden zu sein, dass er seinen Bruder fände und der Behörde bringe. Diese Auflage habe er nicht erfüllt und fürchte bei einer Rückkehr deswegen Verfolgung. Bezüglich der Rückkehrsituation von Personen, die nach einem negativen Asylbescheid in die Russische Föderation zurückkehren, wurde auf eine entsprechende ACCORD-Anfragebeantwortung vom Mai 2016 und insbesondere einen dabei verwerteten Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe vom Mai 2016 über dokumentierte Fälle von Verhaftungen und Folterungen von zurückgekehrten, abgewiesenen Asylwebern verwiesen. Der Bericht bezog sich im Wesentlichen auf den Fall eines 2015 in Tschetschenien getöteten Asylwerbers, der aus Schweden zurückgekehrt sei, sowie Berichte über zwei aus Norwegen rückgeführte Asylwerber, die im Jahr 2012 bzw. 2013 in Tschetschenien nach Folterungen tot aufgefunden worden seien. Zu den Verurteilungen des BF wurde zum einen ausgeführt, dass diese nicht geeignet seien, eine Aberkennung nach § 7 Abs. 1 Z 1 iVm § 6 Abs. 1 Z 3 und 4 AsylG 2005 zu rechtfertigen. Es handle sich bei den zugrundeliegenden Straftaten mehrheitlich um Ladendiebstähle, Delikte von lediglich geringfügiger Natur, welche unter dem Einfluss von Alkohol begangen worden seien. Der BF bereue die Straftaten zutiefst. Er habe eingesehen, dass er ein massives Alkoholproblem habe, welches dazu führe, dass er zu kleptomanischen Handlungen neige. Er wolle eine Therapie in Anspruch nehmen, um seine Genesung und in weiterer Folge seine Resozialisierung zu fördern. Der BF habe u.a. dreieinhalb Jahre bei einer Firma gearbeitet und sei zuletzt bis 30.08.2019 bei einer Baufirma als XXXX tätig gewesen. Er habe die Arbeit aufgrund gesundheitlicher Probleme aufgeben müssen und sei bereits am Bein operiert worden. Der BF könne auch sein Familienleben nicht im Herkunftsland fortführen, zumal zwei seiner Kinder in Österreich geboren und hier aufgewachsen seien, weshalb es die Kinder äußerst hart treffen würde. Den Kindern dürfe auch nicht zugemutet werden, den persönlichen Kontakt mit dem Vater lediglich per Telefon oder Skype zu halten. Zudem könne im Falle einer Rückkehr nicht mit der erforderlichen Sicherheit davon ausgegangen werden, das der BF für einen adäquaten Lebensunterhalt sorgen könne. Der BF habe zwar Kontakt zu seiner Mutter im Herkunftsstaat, habe aufgrund seines Fluchtvorbringens und seiner jahrelangen Abwesenheit aber Probleme mit seiner Verwandtschaft, zu der er aufgrund seines über 15-jährigen Aufenthaltes in Österreich auch keine enge Bindung habe. Die Behörde sei auch nicht auf die Gesundheitsprobleme des BF im Zusammenhang mit seinem Alkoholproblem und seinen Problemen mit seinem Bein eingegangen.
Etwas später am gleichen Tag wurde mit Schreiben eines Rechtsanwaltes mit Berufung auf die erteilte Vollmacht nach § 8 RAO eine Beschwerdeergänzung eingebracht, worin bemängelt wurde, dass die Behörde keine detaillierten Feststellungen zum Privat- und Familienleben des BF getroffen und sich auch nicht mit den Auswirkungen des Einreiseverbotes auf die Lebensgrundlage und Existenz der Familie des BF in Österreich auseinandergesetzt habe. Auch habe sich die Behörde nicht mit dem Inhalt der Verurteilungen auseinandergesetzt. Bei den Straftaten handle es sich um Vermögensdelikte, die immer damit zu tun gehabt hätten, dass sich der alkoholkranke BF Mittel zur Befriedigung dieser Sucht beschaffe. Dies sei zwar zweifelhaft ein sozialschädliches Verhalten, aber bilde keine massive Gefahr für die öffentliche Ordnung. Gewaltbereitschaft habe der BF entgegen den Ausführungen der belangten Behörde nicht gezeigt.
2.5. Anlässlich der öffentlichen mündlichen Verhandlung am 21.02.2020, zu der der BF über seinen bevollmächtigten Rechtsanwalt geladen wurde, wurde Beweis aufgenommen durch Einvernahme des BF sowie weiters durch Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes sowie in den Akt des Bundesverwaltungsgerichtes.
In der Beschwerdeverhandlung wurden den BF aktuelle Feststellungen zur Situation in der Russischen Föderation zu Kenntnis gebracht.
Für den BF wurden u.a. ein Nachweis einer Drogenambulanz vom 19.02.2020 vorgelegt, wonach er in oraler Substitutionsbehandlung mit dem Arzneimittel XXXX sei.
2.6. Der BF war zuletzt von XXXX 2019 bis XXXX .2020 in Justizhaft. Der BF hat zusammengerechnet bislang etwa 37 Monate in Österreich in Justizhaft verbracht.
Auch die beiden erwachsenen Söhne des BF wurden in Österreich wiederholt wegen rechtskräftiger Verurteilungen auffällig. So wurde der älteste Sohn des BF seit 2018 XXXX rechtskräftig verurteilt; der jüngere wurde seit 2017 XXXX sowie zuletzt wegen XXXX rechtskräftig verurteilt. Beiden wurde mit Bescheiden des Bundesamtes vom 24.09.2019, Zl. 733605107/180581113 und vom 07.05.2019, Zl. 733605205/180141571, der Status von Asylberechtigten aberkannt und gegen sie Rückkehrentscheidungen ausgesprochen, wobei das Beschwerdeverfahren des jüngeren Sohnes beim Bundesverwaltungsgericht anhängig ist und der Bescheid hinsichtlich des älteren Sohnes im Beschwerdeverfahren gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG aufgehoben und zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt zurückverwiesen wurde.
Einem Sozialversicherungsauszug ist zu entnehmen, dass der BF zuletzt seit 20.07.2020 als Arbeiter beschäftigt ist und für den Zeitraum Jänner 2010 bis September 2020 zusammengerechnet etwas mehr als vier Jahre an Beschäftigungszeiten aufweist.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der BF ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig und Moslem. Er reiste im November 2003 mit seiner Gattin und zwei Kindern illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 26.11.2003 einen Asylantrag.
In weiterer Folge wurde dem BF (wie auch seiner Gattin und beiden Kindern) mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 23.04.2004 Asyl gewährt und festgestellt, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Die Entscheidung wurde im Wesentlichen ausschließlich mit der damaligen allgemeinen Situation in Tschetschenien bzw. der Russischen Föderation begründet.
Der BF spricht Tschetschenisch, Russisch und Deutsch. Er konnte ein ÖSD Zertifikat über eine positiv absolvierte Deutsch A2 Prüfung vorlegen. Dem BF wurde ein Medikament gegen Entzugsschmerzen im Zusammenhang mit einer Alkoholabhängigkeit verordnet. Ansonsten ist er gesund. Er ist arbeitsfähig. Er hat in Grosny die Schule besucht und mit einer Reifeprüfung abgeschlossen. Er hat im Herkunftsland als LKW-Lenker gearbeitet.
Der BF ist verheiratet und hat vier Kinder, zwei erwachsene Kinder im Alter von XXXX und XXXX sowie zwei in Österreich geborene minderjährige Kinder im Alter von XXXX und XXXX Jahren. Er lebt in Österreich mit seiner Familie im gemeinsamen Haushalt. In Tschetschenien hält sich die Mutter des BF, ein Bruder und ein Onkel auf. Ein weiterer Bruder hält sich außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation auf.
Der BF wurde im Bundesgebiet in der Zeit von 2004 bis 2019 zehn Mal rechtskräftig wegen Diebstahlsvergehen verurteilt. Bei den Vergehen handelte es sich im Wesentlichen um Ladendiebstähle, wobei der BF ein Mal davon wegen gewerbsmäßigen Diebstahls verurteilt wurde. Der BF war zuletzt von XXXX .2019 bis XXXX .2020 in Justizhaft.
Der BF geht zur Zeit einer Erwerbstätigkeit nach. Im Zeitraum 2010 bis 2020 konnte der BF zusammengerechnet etwas mehr als vier Jahre an Zeiten legaler Erwerbstätigkeit nachweisen.
1.2. Die Umstände, auf Grund deren der BF als Flüchtling anerkannt worden ist, bestehen nicht mehr. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF nach einer Rückkehr ins Herkunftsland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevanten Übergriffe ausgesetzt ist. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass er konkret Gefahr liefe, im Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.
Das Vorbringen des BF, wegen seines Bruders XXXX bzw. seiner Familie aktuell in Tschetschenien Verfolgung befürchten zu müssen, hat sich als nicht glaubhaft erwiesen. Das gleiche gilt für seine Behauptung, aufgrund der Nichteinhaltung einer Kooperationszusage, die er als Bedingung für seine Freilassung im Jahr 2002 oder 2003 abgeben hätte müssen, aktuell im Herkunftsland Verfolgung zu befürchten.
Es konnte ferner nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihm die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.
Es ist dem BF zudem grundsätzlich möglich und zumutbar, sich in der Russischen Föderation auch außerhalb der Republik Tschetschenien niederzulassen und sich dort anzumelden.
Der BF hat Zugang zu Sozialbeihilfen, Krankenversicherung und medizinischer Versorgung.
1.3. Zur Situation im Herkunftsland wird von den vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Länderinformationen zur Russischen Föderation bzw. Tschetschenien ausgegangen:
Politische Lage
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 29.7.2019, vgl. GIZ 8.2019c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 8.2019a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 8.2019a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Sieben-Prozent-Klausel. Wichtige Parteien sind: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern , die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 5.2019a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 14.2.2019b). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018). Die Nicht-Systemopposition unterstützt zwar die parlamentarische Demokratie als Organisationsform der Politik, nimmt aber nicht an Wahlen teil, da ihnen die Teilnahme wegen der restriktiven Regeln oder vermeintlicher Formalfehler versagt wird (Dekoder 24.5.2016).
Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 8.2019a, vgl. AA 14.2.2019b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 8.2019a).
Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 8.2019a).
Bei den Regionalwahlen am 8.9.2019 in Russland hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu Protesten geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten alles wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall. Umfragen hatten der Partei wegen der Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Lage im Land teils massive Verluste vorhergesagt (Zeit Online 9.9.2019).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (14.2.2019b): Russische Föderation – Außen- und Europapolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederation/201534, Zugriff 6.8.2019
- CIA – Central Intelligence Agency (29.7.2019): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 6.8.2019
- EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 6.8.2019
- FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 6.8.2019
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2019a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 5.9.2019
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2019c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 5.9.2019
- Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-bei-Kundgebung-in-Moskau, Zugriff 24.9.2019
- ORF – Observer Research Foundation (18.9.2019): Managing democracy in Russia: Elections 2019, https://www.orfonline.org/expert-speak/managing-democracy-in-russia-elections-2019-55603/, Zugriff 30.9.2019
- OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 6.8.2019
- Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 6.8.2019
- Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 6.8.2019
- Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 6.8.2019
- Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau, Zugriff 24.9.2019
Tschetschenien
Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2019 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 24.1.2019), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert , teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2018). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik. Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen zu sein (Rüdisser 11.2012).
In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.2.2019, vgl. AA 13.2.2019).
Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 6.8.2019
- FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 6.8.2019
- GKS – Staatliches Statistikamt (24.1.2019): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2019, https://www.ppn2018.ru/novosti/naselenie-rossii-sokratilos-vpervye-za-10-let.html, Zugriff 6.8.2019
- ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 6.8.2019
- Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds, http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 6.8.2019
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 6.8.2019
Sicherheitslage
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 3.9.2019a, vgl. BMeiA 3.9.2019, GIZ 8.2019d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 3.9.2019).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (3.9.2019a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 3.9.2019
- BmeiA (3.9.2019): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 3.9.2019
- Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018
- EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (3.9.2019): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 3.9.2019
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2019d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 3.9.2019
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019
Nordkaukasus
Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz‘, eine ‚Provinz Kaukasus‘, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem ‚Kalifen‘ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sog. IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sog. IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2018). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In den vergangenen Jahren hat sich die Hauptkonfliktzone von Tschetschenien in die Nachbarrepublik Dagestan verlagert, die nunmehr als gewaltreichste Republik im Nordkaukasus gilt, mit der vergleichsweise höchsten Anzahl an extremistischen Kämpfern. Die Art des Aufstands hat sich jedoch geändert: aus großen kampferprobten Gruppierungen wurden kleinere, im Verborgenen agierende Gruppen (ÖB Moskau 12.2018).
Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2018).
Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan im vergangenen Jahr die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz. Im gesamten Nordkaukasus sind von Jänner bis Juni 2019 mindestens 31 Menschen dem Konflikt zum Opfer gefallen. Das ist fast die Hälfte gegenüber dem ersten Halbjahr 2018, als es mindestens 63 Opfer waren. In der ersten Jahreshälfte 2019 umfasste die Zahl der Konfliktopfer 23 Tote und acht Verletzte. Zu den Opfern gehören 22 mutmaßliche Aufständische und eine Exekutivkraft. Verwundet wurden sieben Exekutivkräfte und ein Zivilist. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 lag Kabardino-Balkarien mit der Zahl der erfassten Opfer, neun Tote und ein Verletzter, an der Spitze. Als nächstes folgt Dagestan mit mindestens neun Toten, danach Tschetschenien mit zwei getöteten Personen und vier Verletzten. In Inguschetien wurde eine Person getötet und drei verletzt; im Gebiet Stawropol wurden zwei Personen getötet. Dagestan ist führend in der Anzahl der bewaffneten Vorfälle - mindestens vier bewaffnete Zusammenstöße fanden in dieser Republik in den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 statt. Im gleichen Zeitraum wurden in Kabardino-Balkarien drei bewaffnete Vorfälle registriert, zwei in Tschetschenien, einer in Inguschetien und im Gebiet Stawropol. Seit Anfang dieses Jahres gab es in Karatschai-Tscherkessien und in Nordossetien keine Konfliktopfer und bewaffneten Zwischenfälle mehr (Caucasian Knot 30.8.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 3.9.2019
- Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 3.9.2019
- DW – Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt", https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 3.9.2019
- ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 3.9.2019
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019
Tschetschenien
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).
Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3%. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 wurden in Tschetschenien zwei Personen getötet und vier verletzt (Caucasian Knot 30.8.2019). Seit Jahren ist im Nordkaukasus nicht mehr Tschetschenien Hauptkonfliktzone, sondern Dagestan (ÖB Moskau 12.2018).
Quellen:
- Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 3.9.2019
- ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 3.9.2019
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 3.9.2019
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019
Rechtsschutz / Justizwesen
Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2018). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.2.2019).
In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2018). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2018).
2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2018). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12