TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/5 G310 2233336-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 05.11.2020
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Entscheidungsdatum

05.11.2020

Norm

B-VG Art133 Abs4
FPG §67 Abs1
FPG §67 Abs2
FPG §70

Spruch


G310 2233336-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Gaby WALTNER über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , deutscher Staatsangehöriger, gesetzlich vertreten durch den Vater XXXX , dieser vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.06.2020, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A)       Der Beschwerde wird teilweise Folge gegeben und der angefochtene Bescheid dahin abgeändert, dass Spruchpunkt I. zu lauten hat:

„Gemäß § 67 Abs 1 und 2 FPG wird gegen den Beschwerdeführer ein für die Dauer von drei Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen.“

B)       Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (BF) wurde am XXXX .2019 festgenommen.

Mit dem Schreiben des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 17.12.2019 wurde der BF aufgefordert, zur beabsichtigten Erlassung eines Aufenthaltsverbots Stellung zu nehmen. Am 13.01.2020 erstattete er eine entsprechende Stellungnahme.

Ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts einer am XXXX .2020 begangenen Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB zu AZ. XXXX wurde von der Staatsanwaltschaft XXXX im Hinblick auf die Anklage ua wegen des Verbrechens des Raubes nach den §§ 15 Abs 1. 142 Abs 1 StGB zur Vermeidung von Verzögerungen vorläufig eingestellt, dies aber unter Vorbehalt der späteren Verfolgung.

Mit dem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX .2020, XXXX , wurde der BF wegen Diebstahl und schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten verurteilt. Ein Strafteil von 14 Monaten wurde für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen.

Mit dem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX .2020, XXXX , wurde der BF wegen Amtsanmaßung, versuchten Raubes und versuchter Sachbeschädigung zu einer Zusatzstrafe von drei Monaten verurteilt.

Mit dem im Spruch angeführten Bescheid wurde gegen den BF gemäß § 67 Abs 1 und 2 FPG ein fünfjähriges Aufenthaltsverbot erlassen (Spruchpunkt I.) und ihm gemäß § 70 Abs 3 FPG ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat erteilt (Spruchpunkt II.). Das Aufenthaltsverbot wurde im Wesentlichen mit den strafgerichtlichen Verurteilungen begründet. Das öffentliche Interesse an der Verhinderung derartiger Straftaten würde das persönliche Interesse des BF an der Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens in Österreich überwiegen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde mit den Anträgen, den angefochtenen Bescheid zu beheben, in eventu, das Aufenthaltsverbots zu verkürzen. Der BF begründet die Beschwerde zusammengefasst damit, dass sein Heimatort in unmittelbarer Grenznähe zu Österreich liege, weswegen er viele soziale Kontakte im Bundesgebiet habe. Auch Onkeln, Tanten und Cousins würden in Österreich leben. Er spreche fließend Deutsch. Auch würden über Österreich regelmäßig Reisen nach Italien, dem Heimatland seines Vaters, erfolgen. Er sei Schüler, erhalte Taschengeld und lebe mit seinen Eltern, die für seinen Unterhalt sorgen, in einem gemeinsamen Haushalt. Er bereue seine Taten, habe teilweise Schadenswiedergutmachung geleistet und sei es teilweise beim Versuch der Tatbegehung geblieben. Auch absolviere der BF ein Antigewalttraining, eine begleitende psychologische Therapie und nehme an der Bewährungshilfe teil. Er habe erstmals das Haftübel verspüren müssen. Er sei gewillt, seine Lebenseinstellung zu ändern.

Das BFA legte die Beschwerde und die Verwaltungsakten dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vor.

Mit Teilerkenntnis des BVwG vom 29.07.2020, G310 2233336-1/2Z, wurde die Beschwerde gegen die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung als unbegründet abgewiesen und der Beschwerde die aufschiebende Wirkung nicht zuerkannt.

Über Aufforderung durch das BVwG langte am 29.09.2020 die Bewilligung der bedingten Entlassung des BF aus der Freiheitsstrafe vom Landesgericht XXXX vom XXXX .2020, XXXX , ein. Demnach wurde der BF nach Verbüßung von 6 Monaten am XXXX .2020 bedingt entlassen und wurde ihm der Rest von 3 Monaten unter Bestimmung einer Probezeit in der Dauer von drei Jahren bedingt nachgesehen. Er erhielt den Auftrag, sich einem Antigewalttraining sowie einer Psychotherapie zu unterziehen und dem Gericht im Wege der bereits angeordneten Bewährungshilfe über den Verlauf zu berichten.

Der BF reiste am XXXX .2020 freiwillig aus dem Bundesgebiet aus.

Feststellungen:

Der im XXXX in XXXX geborene BF ist deutscher Staatsbürger. Seine Muttersprache ist Deutsch. Er wohnt mit seinen Eltern in unmittelbarer Grenznähe zu Österreich in einem gemeinsamen Haushalt. Er ist gesund und arbeitsfähig, ledig und hat keine Sorgepflichten. Im Bundesgebiet leben Tanten, Onkel und Cousins. Ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zu diesen Personen wurde nicht dargelegt. Weitere Verwandte leben in Italien und Rumänien. Er hat seine Kindheit in Deutschland verbracht, wo er auch seine Schulausbildung erfahren hat. Er hat kein Vermögen und erhält EUR 90,00 als Taschengeld.

Abgesehen von seinem Aufenthalt in der Justizanstalt XXXX von XXXX .2019 bis XXXX .2019 und von XXXX .2020 bis XXXX .2020 weist er keine Wohnsitzmeldungen im Bundesgebiet auf. Die Ausstellung einer Anmeldebescheinigung wurde von ihm nie beantragt. Auch ist er bislang in Österreich noch keiner Beschäftigung nachgegangen.

Der Verurteilung des BF durch das Landesgericht XXXX vom XXXX .2020 liegt zugrunde, dass er zusammen mit zwei Mittätern im Zeitraum vom XXXX .2019 bis zum XXXX .2019 unbekannten Geschädigten drei Fahrräder in unbekanntem Wert gestohlen hat. Weiters haben sie am XXXX .2019 einer weiblichen Person mit Gewalt gegen ihre Person und durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben (§89 StGB) unter Verwendung einer Waffe Bargeld in der Höhe von EUR 495,00 sowie eine unbekannte Anzahl von EUR 2-Münzen mit Bereicherungsvorsatz weggenommen, indem sie mit Überziehhalstüchern vermummt in das Geschäft ihres Opfers stürmten, jeder ein ausgeklapptes Taschenmesser mit einer Klingenlänge von zumindest 10 cm gegen sie gerichtet und ihr befohlen haben, die Ladenkasse zu öffnen, woraufhin der BF das Opfer im Nackenbereich mit der Hand erfasste, zudrückte, sie in Richtung des Büros drängte, sie in den Würgegriff nahm und ihr ihren Kopf mehrmals mit enormer Kraftanwendung nach vorne drückte und die anderen das Opfer aufforderten, in ihr Büro zu gehen und den Tresor zu öffnen, während einer der Mittäter das Bargeld aus der Landekasse entnahm. Währenddessen sorgte eine weibliche Mitangeklagte unter Verwendung der Mobiltelefone des BF und seiner Mittäter mittels Storys auf Snapchat und Instagram über deren Aufenthalt in einem Fast Food Lokal für deren Alibi.

Der BF hat dadurch das Vergehen des Diebstahls nach § 127 StGB und das Verbrechen des schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143 Abs 1 zweiter Fall StGB begangen und wurde ausgehend von einem Strafrahmen von bis zu 7,5 Jahren Freiheitsstrafe (§ 5 Z 4 JGG) gemäß § 143 Abs 1 StGB rechtskräftig zu einer zwanzigmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Davon wurde ein Strafteil von 14 Monaten für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen; der unbedingte Strafteil beträgt sechs Monate. Für die Dauer der Probezeit wurde Bewährungshilfe angeordnet. Zudem wurden der BF und seine zwei Mittäter für schuldig erkannt, ihrem Opfer binnen 14 Tagen EUR 3.590,00 zu bezahlen. Bei der Strafzumessung wurden sein Geständnis, seine Unbescholtenheit und die teilweise Schadensgutmachung als mildernd berücksichtigt. Es lagen keine besonderen Erschwerungsgründe vor.

Der weiteren Verurteilung durch das Landesgericht XXXX vom XXXX .2020 lag zugrunde, dass sich der BF am XXXX .2020 die Ausübung eines öffentlichen Amtes, und zwar eines Polizeibeamten, angemaßt hat, indem er gegenüber einer männlichen Person durch teilweises Vorweisen seines teils verdeckten Reisepasses und die Aufforderung „Polizeikontrolle! Ausweis und Führerscheinpapiere her!“ vorgab, er sei Polizist. Dabei hat er dieser Person mit Bereicherungsvorsatz versucht mit Gewaltanwendung die Geldbörse samt Bargeld wegzunehmen, indem er die Fahrertür des PKW dieser Person gewaltsame aufriss und versuchte, die in der rechten vorderen Hosentasche vermutete Geldbörse wegzunehmen, und, als diese Person seine Hand wegschob, den BF wegschubste und die Fahrertür schloss, erneut versuchte, die Fahrertür gewaltsam aufzureißen, wobei die männliche Person die Fahrertür zuzuhalten versuchte. Weiters hat der BF versucht, den PKW dieser männlichen Person durch Versetzen eines Fußtrittes gegen die Fahrertür zu beschädigen.

Der BF hat dadurch das Vergehen der Amtsanmaßung nach § 314 1. Fall StGB, das Verbrechen des versuchten Raubes nach §§ 15 Abs 1, 142 Abs 1 StGB und das Vergehen der versuchten Sachbeschädigung nach §§ 15 Abs 1, 125 StGB begangen und wurde ausgehend von einem Strafrahmen von bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe (§ 5 Z 4 JGG) unter Bedachtnahme gemäß §§ 31 40 StGB auf das Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX .2020 zu einer Zusatzfreiheitsstrafe in der Dauer von drei Monaten verurteilt. Bei der Strafbemessung wurden das Geständnis, die Unbescholtenheit zum Tatzeitpunkt und dass es teilweise beim Versuch geblieben ist als mildernd berücksichtigt. Erschwerend war hingegen die Tatbegehung während eines laufenden Strafverfahrens.

Nach der bedingten Haftentlassung lebt der BF seit XXXX .2020 wieder bei seinen Eltern in Deutschland. Neben der Bewährungshilfe unterzieht sich der BF einem Antigewalttraining und einer Psychotherapie.

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang und die Feststellungen ergeben sich aus dem unbedenklichen Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten und des Gerichtsakts des BVwG im Zusammenhang mit dem durch entsprechende Unterlagen untermauerten Vorbringen des BF. Entscheidungswesentliche Widersprüche bestehen nicht.

Die Feststellungen zur Identität des BF, seinem Aufenthalt in Deutschland, seinen Bezugspunkten in Österreich sowie zu seinen persönlichen und finanziellen Verhältnissen beruhen auf den entsprechenden Angaben in den Strafurteilen, der Stellungnahme und der Beschwerde. Die Identität des BF wird auch durch seinen Personalausweis, der dem BVwG in Kopie vorliegt, belegt. Angesichts seiner Herkunft und Schulausbildung ist es plausibel, dass Deutsch seine Muttersprache ist.

Die Anhaltungen in der Justizanstalt XXXX ist im Zentralen Melderegister dokumentiert. Aus dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister geht nicht hervor, dass jemals die Ausstellung einer Anmeldebescheinigung beantragt wurde. Im Sozialversicherungsdatenauszug sind keine Beschäftigungszeiten ersichtlich.

Die Feststellungen zur Arbeitsfähigkeit und zum Gesundheitszustand des BF beruhen darauf, dass er sich in einem erwerbsfähigen Alter befindet und keine Hinweise auf gesundheitliche Einschränkungen hervorgekommen sind.

Die strafgerichtlichen Verurteilungen des BF werden anhand des Strafregisters sowie der Strafurteile festgestellt. Es gibt keine Indizien für eine strafgerichtliche Verurteilung des BF in anderen Staaten. Der Beschwerde ist zu entnehmen, dass der BF den Weisungen des Gerichts nachkommt.

Die freiwillige Ausreise geht aus den vorgelegten Unterlagen des Vereins für Menschenrechte Österreich hervor.

Rechtliche Beurteilung:

Als Staatsangehöriger von Deutschland ist der BF EWR-Bürger iSd § 2 Abs 4 Z 8 FPG.

Gemäß § 67 Abs 1 FPG ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet ist. Das Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können diese Maßnahmen nicht ohne weiteres begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen EWR-Bürger, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Gemäß § 67 Abs 2 FPG kann ein Aufenthaltsverbot für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden. Wenn der EWR-Bürger eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt kann das Aufenthaltsverbot gemäß § 67 Abs 3 FPG sogar unbefristet erlassen werden.

Bei der Festsetzung der Dauer des Aufenthaltsverbotes ist gemäß § 67 Abs 4 FPG auf alle für seine Erlassung maßgeblichen Umstände Bedacht zu nehmen, insbesondere auch auf die privaten und familiären Verhältnisse (VwGH 24.05.2016, Ra 2016/21/0075).

Bei Erlassung eines Aufenthaltsverbots ist eine einzelfallbezogene Gefährdungsprognose zu erstellen, bei der das Gesamtverhalten des Betroffenen in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen ist, ob und im Hinblick auf welche Umstände die maßgebliche Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung oder Bestrafung, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der nach § 67 Abs 1 FPG zu erstellenden Gefährdungsprognose geht schon aus dem Gesetzeswortlaut klar hervor, dass auf das "persönliche Verhalten" abzustellen ist und strafgerichtliche Verurteilungen allein nicht ohne weiteres ein Aufenthaltsverbot begründen können (VwGH 19.02.2014, 2013/22/0309).

Die Verhältnismäßigkeit eines Aufenthaltsverbots ist unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK am Maßstab des § 9 BFA-VG zu prüfen. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbots ist nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der in Art. 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der Beurteilung dieser Frage ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0289)

Gemäß Art. 8 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Art. 8 Abs 2 EMRK legt fest, dass der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft ist, soweit er gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Gemäß § 9 BFA-VG ist (ua) die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gemäß § 67 FPG, durch das in das Privat- und Familienleben eines Fremden eingegriffen wird, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9), zu berücksichtigen.

Bei dem im XXXX 2019 begangenen Raubüberfall handelt es sich um eine schwere Straftat, die (insbesondere durch den Waffeneinsatz) die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar bedroht und an deren Verhinderung daher ein wichtiges Grundinteresse der Gesellschaft besteht. Auch weist ein von mehreren Tätern arbeitsteilig ausgeführter bewaffneter Raub jedenfalls einen beträchtlichen Gesinnungs- und Erfolgsunwert auf. Auch ist zu berücksichtigen, dass der BF trotz laufendem Strafverfahren und Androhung eines Aufenthaltsverbots im XXXX 2020 erneut straffällig wurde, indem er unter anderem erneut versuchte, einen Raub zu begehen, obwohl er in seiner Stellungnahme an das BFA im XXXX 2020 angab, nicht mehr kriminell werden und sich bessern zu wollen.

Der BF wird den Wegfall der durch die strafgerichtliche Verurteilung indizierten Gefährlichkeit erst durch einen längeren Zeitraum des Wohlverhaltens in Freiheit nach der Haftentlassung unter Beweis stellen müssen. Bei Raubdelikten besteht grundsätzlich ein vergleichsweise hohes Rückfallrisiko (ungefähr die Hälfte der Straftäter wird nach der Haftentlassung erneut straffällig; vgl ÖJZ 2005/55); die Rückfallquote bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen wie dem BF ist generell höher ist als bei älteren Straftätern (vgl RZ 2014, 91). Aktuell kann ihm daher trotz seiner familiären stabilen Situation noch keine positive Zukunftsprognose attestiert werden. Das gegen den BF erlassene Aufenthaltsverbot ist zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, zur Verhinderung von strafbaren Handlungen und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer dringend geboten, zumal seit der Tat noch nicht viel Zeit vergangen ist, die er zum Teil in Haft zugebracht hat. Der BF wird den Wegfall der durch seine strafgerichtlichen Verurteilungen indizierten Gefährlichkeit erst durch einen längeren Zeitraum des Wohlverhaltens in Freiheit nach dem Vollzug der Strafe unter Beweis stellen müssen. Ein Gesinnungswandel eines Straftäters ist grundsätzlich daran zu messen, ob und wie lange er sich - nach dem Vollzug einer Haftstrafe - in Freiheit wohlverhalten hat (VwGH 26.01.2017, Ra 2016/21/0233).

Das Aufenthaltsverbot greift in das Privat- und Familienleben des BF ein. Daher ist eine einzelfallbezogene gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung mit seinen gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs 3 BFA-VG ergebenden Wertungen in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Dabei ist die Beziehung und Kontakte zu seinen im Bundesgebiet aufhältigen Verwandten und Freunden zu berücksichtigen. Für den BF sprechen die Absolvierung der Bewährungshilfe, einer Psychotherapie und eines Antigewalttrainings. Da Deutsch seine Muttersprache ist, kann der Umstand, dass er diese Sprache beherrscht, nicht als Indiz für eine besondere Integration in Österreich angesehen werden.

Dem aus diesem Umständen resultierenden familiären und privaten Interesse der BF an einem Verbleib in Österreich stehen jedoch das Fehlen der strafgerichtlichen Unbescholtenheit und das große öffentliche Interesse an der Verhinderung strafbarer Handlungen, insbesondere von bewaffneten Raubüberfällen, gegenüber. Der Lebensmittelpunkt des BF liegt in Deutschland, wo seine Familie lebt, er die prägenden Jahre seiner Kindheit verbrachte und mehrere Jahre lang die Schule besuchte. Da er aus einer Stadt an der deutsch-österreichischen Grenze stammt, ist davon auszugehen, dass häufige Besuche von seinen in Österreich lebenden Bezugspersonen kostengünstig möglich sind. Auch die gerichtlich angeordnete Therapie, das Antigewalttraining und die Bewährungshilfe kann in Deutschland durchgeführt werden.

Der mit dem Aufenthaltsverbot verbundene Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ist daher verhältnismäßig. Allfällige damit verbundene Schwierigkeiten bei der Gestaltung der Lebensverhältnisse sind im öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit hinzunehmen. Das Aufenthaltsverbot muss wie gesagt keinen absoluten Abbruch der Beziehungen des BF in Österreich bedeuten, zumal diese durch grenzüberschreitende Kommunikationsmittel (z.B. Telefon, Internet, E-Mail) und Besuche im in Grenznähe befindlichen Heimatortes des BF (oder in anderen, nicht vom Aufenthaltsverbot umfassten Staaten) aufrecht bleiben können.

Eine gänzliche Aufhebung des gegen den BF erlassenen Aufenthaltsverbots kommt daher in Anbetracht der schweren Delinquenz des BF, der über ihn verhängten Strafe wegen eines Raubdelikts sowie des Umstands, dass er trotz Androhung eines Aufenthaltsverbots und einem laufenden Strafverfahren erneut straffällig wurde und versuchte, einen weiteren Raub zu begehen, in einer Gesamtbetrachtung nicht in Betracht. Das vom BFA erlassene Aufenthaltsverbot erweist sich somit dem Grunde nach als zulässig.

Die von der Behörde verhängte fünfjährige Dauer des Aufenthaltsverbotes ist jedoch angesichts der über den BF verhängten Sanktionen unverhältnismäßig. Dementsprechend ist auch die Dauer des Aufenthaltsverbots herabzusetzen, zumal bei der Bemessung der Dauer des Aufenthaltsverbots nach § 67 Abs 2 FPG - in Abgrenzung zu den in § 67 Abs 3 FPG angeführten besonders qualifizierten Straftaten - auch strafbare Handlungen mit noch höherem Unrechtsgehalt und bis zu fünf Jahren unbedingter Freiheitsstrafe zu berücksichtigen sind.

Angesichts des jungen Alters des BF, seines zuvor ordentlichen Lebenswandels und des Umstands, dass der Strafrahmen bei weitem nicht ausgeschöpft werden musste, ist ein fünfjähriges Aufenthaltsverbot überschießend. Auch kommt dem Erstvollzug im Allgemeinen eine erhöhte spezialpräventive Wirksamkeit zu. Die Dauer ist auf ein dem Fehlverhalten des BF und seinen privaten und familiären Verhältnissen angemessenes Maß zu reduzieren. Das Gericht geht davon aus, dass aufgrund des konkreten Unrechtsgehalts der vom BF begangenen Straftaten unter Berücksichtigung aller Strafzumessungsgründe ein dreijähriges Aufenthaltsverbot ausreicht, um der von ihm ausgehenden Gefährlichkeit wirksam zu begegnen. Diese Dauer ist – auch in Anbetracht der dreijährigen Probezeit – notwendig und ausreichend, um eine nachhaltige Änderung des Verhaltens des BF und seiner Einstellung zu den rechtlich geschützten Werten zu bewirken. Das Aufenthaltsverbot laut Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids ist somit in Stattgebung des Eventualantrags auf Reduktion der Dauer des Aufenthaltsverbots auf drei Jahre herabzusetzen.

Gemäß § 70 Abs 3 FPG ist EWR-Bürgern bei der Erlassung einer Ausweisung von Amts wegen ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat zu erteilen, es sei denn, die sofortige Ausreise wäre im Interesse der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich. Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheids ist vor diesem gesetzlichen Hintergrund nicht zu beanstanden. Auch hält sich der BF bereits wieder in Deutschland auf.

Da der relevante Sachverhalt aus der Aktenlage und dem Beschwerdevorbringen geklärt erscheint und auch bei einem positiven Eindruck von dem BF bei einer mündlichen Verhandlung keine weitere Herabsetzung oder gar ein Entfall des Aufenthaltsverbots möglich wäre, unterbleibt eine Beschwerdeverhandlung gemäß § 21 Abs 7 BFA-VG. Von deren Durchführung ist keine weitere Klärung der Angelegenheit zu erwarten, zumal das BVwG ohnedies von den Behauptungen des BF zu seinen familiären und privaten Anknüpfungen im Inland ausgeht, sodass kein klärungsbedürftiges Tatsachenvorbringen erstattet wurde.

Die einzelfallbezogene Erstellung einer Gefährdungsprognose und die Bemessung der Dauer eines Einreise- oder Aufenthaltsverbots sind im Allgemeinen nicht revisibel (VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0284). Die ordentliche Revision war nicht zuzulassen, weil sich das BVwG an bestehender höchstgerichtlicher Rechtsprechung orientieren konnte und keine darüber hinausgehende grundsätzliche Rechtsfrage iSd Art 133 Abs 4 B-VG zu lösen war.

Schlagworte

Aufenthaltsverbot Durchsetzungsaufschub EWR-Bürger Gefährdungsprognose Gefährlichkeitsprognose Herabsetzung Interessenabwägung negative Zukunftsprognose öffentliche Interessen öffentliche Ordnung öffentliche Sicherheit Privat- und Familienleben strafrechtliche Verurteilung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:G310.2233336.1.01

Im RIS seit

02.02.2021

Zuletzt aktualisiert am

02.02.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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