TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/19 W240 2231239-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.11.2020
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Entscheidungsdatum

19.11.2020

Norm

AsylG 2005 §5
B-VG Art133 Abs4
FPG §61

Spruch


W240 2231238-3/3E

W240 2231239-3/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Feichter über die Beschwerden von XXXX , beide StA. Russische Föderation, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 28.10.2020, Zl. 1262379006-200244985 (ad 1.), und
Zl. 1262379910-200244972 (ad 2.), zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerden werden gemäß § 5 AsylG 2005 und § 61 FPG als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1.       Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin (in der Folge auch BF1 und BF2), beide Staatsangehörige der Russischen Föderation, sind ein Ehepaar und stellten am 03.03.2020 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz in Österreich.

Zu den Beschwerdeführern liegt jeweils eine EURODAC-Treffermeldung der Kategorie „1“ vom 18.08.2013 zu Schweden vor. Ein Abgleichsbericht zur VIS-Abfrage ergab zudem, dass den Beschwerdeführern in St. Petersburg ein deutsches Visum der Kategorie C, gültig von 21.08.2019 bis 20.02.2020, erteilt wurde.

2.       Im Rahmen der durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 03.03.2020 erfolgten Erstbefragung gaben die Beschwerdeführer übereinstimmend an, ihren Herkunftsstaat am 29.02.2020 verlassen zu haben, indem sie sich im Fahrzeug eines LKW-Fahrers versteckt hätten, der sie illegal über die Grenzen gebracht habe. Ihr Reiseziel sei Österreich gewesen, zumal hier ihr Sohn lebe. Sie seien von St. Petersburg bis nach München gefahren, und von dort aus mit dem Zug über Lindau bis nach Bregenz gereist. Die ihnen von Deutschland ausgestellten Touristenvisa hätten sie nicht rechtzeitig nützen können, zumal sie zum damaligen Zeitpunkt nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügt hätten, um ihre Reise anzutreten. Im Jahr 2013 hätten sie bereits in Schweden um Asyl angesucht.

Zu seinem in Schweden gestellten Antrag auf internationalen Schutz erklärte der Erstbeschwerdeführer, noch während offenem Verfahren festgenommen und am 15.05.2015 nach Russland überstellt worden zu sein.

Der Zweitbeschwerdeführerin zufolge seien hingegen beide Anträge abgelehnt worden. Ihr Ehemann sei im Mai 2015 nach Russland ausgewiesen worden, wohingegen sie selbst erst im Jahr 2016 in ihr Heimatland zurückgekehrt sei.

Die Zweitbeschwerdeführerin gab weiters an, sich während ihres Aufenthaltes in Schweden in einer tiefen psychischen Depression befunden zu haben, weshalb sie für insgesamt drei Monate in stationärer Behandlung gewesen sei. Sie würde gerne in Österreich bleiben, zumal sich hier ihr Sohn aufhalte.

3.       Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) richtete daraufhin am 06.03.2020 ein auf Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO gestütztes Aufnahmeersuchen an Deutschland, welches die deutsche Dublin-Behörde zunächst mit Schreiben vom 01.04.2020 ablehnte.

Begründend wurde ausgeführt, dass aus dem Übernahmeersuchen des BFA zu entnehmen sei, dass die Beschwerdeführer im Jahr 2013 jeweils einen – durch EURODAC-Treffer belegten – Antrag auf internationalen Schutz in Schweden gestellt hätten und nicht nachgewiesen worden sei, dass die Zuständigkeit Schwedens gemäß Art. 19 Abs. 2 Dublin III-VO bereits erloschen sei. Ohne entsprechende Beweise hinsichtlich der Ausreise und des mindestens dreimonatigen Aufenthaltes außerhalb des Gebietes der Mitgliedstaaten könne dem Übernahmeersuchen nicht entsprochen werden.

In der Folge richtete das BFA am 14.04.2020 ein auf Art. 18 Abs. 1 lit. b (den Erstbeschwerdeführer betreffend) bzw. lit. d Dublin III-VO (die Zweitbeschwerdeführerin betreffend) gestütztes Wiederaufnahmeersuchen an Schweden, welches mit Schreiben vom

17.04.2020 ebenso abgelehnt wurde.

Die schwedische Dublin-Behörde begründete ihre Entscheidung damit, dass die Beschwerdeführer zwar am 18.08.2013 in Schweden um Asyl angesucht hätten, über deren Anträge sei aber bereits – rechtskräftig mit 22.12.2014 - negativ entschieden worden. Der Erstbeschwerdeführer sei daraufhin in Begleitung der schwedischen Polizei nach Russland abgeschoben worden und seien für die Zweitbeschwerdeführerin Flugtickets mit Abflugdatum 18.02.2016 gebucht worden. Es gebe zwar keinen Beweis für die tatsächliche Ausreise der Zweitbeschwerdeführerin, doch würde deren Visumantragstellung von Russland aus bestätigen, dass auch sie das Gebiet der Mitgliedstaaten verlassen habe. Die Verpflichtung Schwedens zur Wiederaufnahme der Beschwerdeführer sei sohin gemäß
Art. 19 Dublin III-VO erloschen.

Daraufhin richtete das BFA am 20.04.2020 eine Remonstration an die deutsche Dublinbehörde, die sich nunmehr mit Schreiben vom 21.04.2020 auf Grundlage des
Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO zur Aufnahme der Beschwerdeführer bereit erklärte.

4.       Nach durchgeführter Rechtsberatung gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG fand am 12.05.2020 im Beisein eines Rechtsberaters und unter Beiziehung eines Dolmetschers für die russische Sprache die niederschriftliche Einvernahme der Beschwerdeführer vor dem BFA statt.

Dabei erklärten die Beschwerdeführer einhellig in Österreich bleiben zu wollen, da dort ihr Sohn gemeinsam mit seiner Ehefrau und zwei Kindern lebe. Sie seien schon gebrechlich und daher zunehmend auf die Hilfe des Sohnes, der noch dazu ihr einziges Kind sei, angewiesen. Der Erstbeschwerdeführer leide seit zehn Jahren an Hepatitis C und die Zweitbeschwerdeführerin an schweren psychischen Problemen, weshalb sie auch Medikamente einnehmen müsse und unter ärztlicher Beobachtung stehe. Normalerweise würde sich der Erstbeschwerdeführer um seine Ehefrau, die Zweitbeschwerdeführerin, kümmern, doch schaffe er dies bald nicht mehr, zumal er selbst krank sei.

Seitens der Beschwerdeführer wurden medizinische Befunde in russischer und schwedischer Sprache in Vorlage gebracht.

5.       Mit den Bescheiden des BFA vom 12.05.2020, zugestellt am selben Tag, wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO Deutschland für die Prüfung der Anträge zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde gegen die Beschwerdeführer gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge eine Abschiebung nach Deutschland gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.).

Begründend wurde insbesondere ausgeführt, dass die Zuständigkeit Deutschlands unzweifelhaft feststehe und ein im besonderen Maße substantiiertes, glaubhaftes Vorbringen betreffend das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände, welche die Gefahr einer Verletzung der EMRK im Falle einer Überstellung der Beschwerdeführer ernstlich für möglich erscheinen ließe, nicht erstattet worden sei. Eine systematische, notorische Verletzung fundamentaler Menschenrechte in Deutschland sei nicht erkannt worden, die Regelvermutung des § 5 Abs. 3 AsylG 2005 sei nicht erschüttert worden und es habe sich kein Anlass zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO ergeben. Die Beschwerdeführer würden an keinen lebensbedrohlichen Krankheiten leiden und seien der Aktenlage zufolge auch weder schützenswerte familiäre noch besondere private Anknüpfungspunkte in Österreich gegeben, weshalb die Außerlandesbringung der Beschwerdeführer keinen ungerechtfertigten Eingriff in das Grundrecht nach Art. 8 EMRK darstelle. Soweit auf die Familie des Sohnes verwiesen werde, sei die Ausgestaltung eines eigenen Familienlebens gegeben.

Seitens des BFA wurden ferner auch Feststellungen in Zusammenhang mit der aktuell vorliegenden Pandemie aufgrund des Corona-Virus getroffen und wurde diesbezüglich festgehalten, dass damit kein „real risk“ einer Verletzung des Art. 3 EMRK einhergehe.

6.       Gegen die Bescheide des BFA erhoben die Beschwerdeführer am 20.05.2020 durch ihre ausgewiesene Vertretung Beschwerden und wurde gleichzeitig der Antrag gestellt, diesen die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Zusammengefasst wurde vorgebracht, dass die Behörde die familiären Anknüpfungspunkte und den jeweiligen Gesundheitszustand der Beschwerdeführer nicht weiter berücksichtigt habe, obwohl die Beschwerdeführer diesbezüglich sogar medizinische Unterlagen aus Russland und Schweden in Vorlage gebracht hätten. Auch würden sich die von der Behörde herangezogenen Länderfeststellungen lediglich auf rechtliche Vorgaben und organisatorische Strukturen beschränken, ohne auf die tatsächliche Situation von Asylwerbern in Deutschland Rücksicht zu nehmen. Dies, obwohl die tagesaktuellen Medien einen erheblichen Anstieg an fremdenfeindlichen Übergriffen auf Asylwerber in Deutschland bestätigen würde. Durch die angefochtenen Entscheidungen und die angeordneten Außerlandesbringungen drohe den Beschwerdeführern sowohl eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK als auch eine Verletzung von Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC, weshalb die Behörde – bei Einhaltung aller Verfahrensvorschriften – zu dem Schluss kommen hätte müssen – vom Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Dublin III –VO Gebrauch zu machen.

7.       Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 29.05.2020, GZ. W243 2231238-1/3Z und W243 2231239-1/4Z, wurde den Beschwerden gegen die Bescheide des BFA 12.05.2020 gemäß § 17 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

8. Mit Beschluss des BVwG vom 29.06.2020, W243 2231238-1/4E ua, wurde den Beschwerden gegen die Bescheide des BFA vom 12.05.2020 gemäß § 21 Abs. 3 zweiter Satz
BFA-VG stattgegeben und die vorzitierten Bescheiden des BFA behoben.

Begründend wurde insbesondere ausgeführt, im gegenständlichen Fall würden keine ausreichenden Ermittlungen und in der Folge keine abschließende Beurteilung betreffend den jeweiligen Gesundheitszustand der Beschwerdeführer und deren familiären Beziehung zu ihrem in Österreich lebenden Sohn sowie zu dessen Familie vorliege. Die Beweiserhebung des BFA stelle sohin keine geeignete Ermittlungstätigkeit dar, um ausschließen zu können, dass den Beschwerdeführern aufgrund der ihnen gegenüber ausgesprochenen Außerlandesbringung nach Deutschland kein unzulässiger Eingriff in ihre durch die EMRK geschützten Rechte drohe und kann folglich auch eine allfällige Verpflichtung der Republik Österreich zur Ausübung des Selbsteintrittsrechtes gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III- VO noch nicht abschließend beurteilt werden. Das BVwG trug auf, dass es im fortgesetzten Verfahren aktueller Feststellungen zum jeweiligen Gesundheitszustand der Beschwerdeführer bedürfe, um eine Gefährdung ihrer durch Art 3 EMRK geschützten Rechtspositionen im Falle einer Außerlandesbringung nach Deutschland ausschließen zu können. Das BFA habe im zweiten Rechtsgang die bereits vorgelegten medizinischen Befunde übersetzen zu lassen und (durch Befragung der Beschwerdeführer und/oder allenfalls durch Einholung eines fachärztlichen Gutachtens) zu ermitteln, wie sich der Gesundheitszustand der Beschwerdeführer tatsächlich zur Zeit manifestiere, welche Behandlungs- und Therapieempfehlungen im Detail getroffen werden, und insbesondere auch welche Auswirkungen eine Überstellung nach Deutschland auf den psychischen Gesundheitszustand der Zweitbeschwerdeführerin hätte. Zumal sich auch die von der belangten Behörde vorgenommene Interessensabwägung in Bezug auf die Zulässigkeit eines Eingriffs in das durch Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Privat- und Familienleben als unzureichend erweise, trug das BVwG auf, dass das BFA im fortgesetzten Verfahren auch die tatsächlichen familiären Verhältnisse unter Zugrundelegung hinreichender Beweismittel festzustellen habe. Dabei sei zu ermitteln, wie sich die Beziehungsintensität zwischen den Beschwerdeführern und den in Österreich aufhältigen Familienangehörigen tatsächlich ausgestalte und ob wechselseitige Abhängigkeiten bestehen würden, insbesondere im Hinblick auf die vorgebrachte Gebrechlichkeit der Beschwerdeführer beziehungsweise deren gesundheitlichen Beschwerden und einer daraus resultierenden allfälligen Pflegebedürftigkeit der Beschwerdeführer.

9. Am 22.07.2020 wurden die Beschwerdeführer neuerlich vom BFA einvernommen. Die Einvernahme des Erstbeschwerdeführers gestaltete sich im Wesentlichen wie folgt:

„(…)

F: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, die Einvernahme durchzuführen?

A: Ja aber ich bin aufgeregt und ich mache mir Sorgen wegen der Gesundheit meiner Frau

F: Beschreiben Sie bitte ihren gegenwärtigen Gesundheitszustand?

A: Ich habe Leberschmerzen

F: Haben sie Schreiben, Befunde, ärztliche Unterlagen die sie heute vorlegen möchten bzw. sind sie zur Zeit in ärztlicher Behandlung?

A: Ich wurde schon untersucht und meine Diagnose Hepatitis c an der ich schon lange leide wurde bestätigt. Ich wurde in Salzburg untersucht und die Unterlagen dazu habe ich leider daheimgelassen.

F: Haben sie ansonsten gesundheitliche Probleme?

A: Ich habe auch psychische Problem und ich mach mir große Sorgen wegen des Gesundheitszustandes meiner Frau und schlafe sehr schlecht Ich habe ein paar Gespräche auch mit der Psychiaterin geführt als Vorbereitungsgespräch dort wo wir in XXXX untergebracht wurden

F: Haben sie ansonsten körperliche oder psychische Probleme ?

A: nein außer die altersbedingten Augenprobleme .

F: Sind sie pflegebedürftig oder ansonsten von jemandem abhängig?

A: Nein zur Zeit nicht ich versuche meinen Alltag selbständig zu organisieren

F: Beschreiben sie bitte ihr gegenwärtiges Verhältnis zum Sohn?

A: Er ist mein einziger Sohn, gut.

F: Wie oft haben sie Kontakt zum Sohn?

A: Jeden Tag über skyp und auch mit den Enkelkindern

F: Erhalten sie vom Sohn Unterstützung bzw. Versorgungsleistungen ?

A: Ja seelisch und moralisch, selbstverständlich unterstützt er uns so

F: Wie war das Verhältnis zu ihrem Sohn in der Heimat ?

A: Gut, genauso wie jetzt.

F: Seit wann sind sie von Sohn getrennt ?

A: Seit 2015, ich wurde in Schweden in Haft genommen und seit dem habe ich ihn nicht mehr gesehen.

F: Möchten sie abschließend noch etwas angeben was ihnen wichtig erscheint ?

A: Nein, nur wir suchen die Nähe zu unserem Sohn

(…)“

Die Zweitbeschwerdeführerin gab bei ihrer Einvernahme am 22.07.2020 im Wesentlichen Folgendes an:

„(…)

F: Beschreiben Sie bitte ihren gegenwärtigen Gesundheitszustand?

A: Ich wurde jetzt untersucht in Salzburg und jetzt in XXXX und jetzt habe ich auch Untersuchungsergebnisse und es ist auch eine Operation geplant. Mein Gesundheitszustand ist nicht gut würde ich sagen.

F: Seit wann haben sie diese gesundheitlichen Probleme?

A: Seit einem halben Jahr.

F: Welche Operation ist geplant?

A: Ich habe ein gynäkologisches Problem, es werden die Zysten und alle Stöcke entfernt.

F: Haben sie ansonsten gesundheitliche Probleme?

A: Ich habe auch psychische Probleme und brauche auch eine Behandlung und dementsprechend könnte ich die ärztlichen Unterlagen vorlegen.

Anm: Kopie zum Akt

F: Seit wann haben sie die psychischen Probleme?

A: Seit 2013, die Probleme stammen aus dem Jahr 2013 wo ich noch zuhause war.

F: Haben sie ansonsten gesundheitliche Probleme?

A: Ich habe auch ein krankes Herz die genauere Diagnose weiß ich nicht es wurde mir gesagt, dass die Herzklappe getauscht gehört schon in Russland durch die Ärzte

F: Seit wann haben sie diese Probleme?

A: Seit ca. 10 Jahren.

F: Haben sie alle gesundheitlichen Probleme genannt?

A: Schlafstörungen habe ich auch und innerliche Unruhe.

F: Seit wann haben sie diese Probleme?

A: Seit 2013 seit meine Familie Probleme bekommen hat.

F: Haben sie alle gesundheitlichen Probleme genannt

A: Ja

F: Haben sie Schreiben, Befunde, ärztliche Unterlagen die sie heute vorlegen möchten bzw. sind sie zur Zeit in ärztlicher Behandlung?

A: Die Handschrift habe ich geschrieben, damit habe ich mich jetzt ans Gericht gewandt der unseren Fall entscheidet. Die zwei russischen Schreiben sind ein Arztbrief einer Psychiaterin ausgestellt 2014 und 2015 von der Schweden und Russland Die Schreiben sind Übersetzungen weil ich sie auf schwedisch bekam und übersetzen ließ.

Dann habe ich noch eine ärztliche Bestätigung von 2013 aus Moskau auch hier geht es um meine Psyche. Dann habe ich hier noch die Blutuntersuchungstabelle jetzt hier vom österreichischen Krankenhaus betreffend meinen Mann

F: Sein sie Pflegebedürftig oder ansonsten von jemandem abhängig ?

A: Ja ich bin pflegebedürftig weil es gibt Momente wo ich mich nicht mehr kontrollieren kann

F: Seit wann sind sie pflegebedürftig ?

A: In Schweden wurde ich behandelt und eine gewisse Zeit ging es mir besser aber die Behandlung wurde nicht beendet und seit 2014 bin ich auf fremde Hilfe angewiesen

F: Wer führte diese Hilfe für sie durch?

A: Mein Ehemann und mein Sohn

F: Seit wann stellt ihr Gatte diese Hilfe ?

A: Seit ca. 4 Jahren

F: Seit wann wird diese Hilfe von ihrem Sohn gestellt ?

A: 2013 und 2014 hat er für mich gesorgt und dann hat man uns getrennt. Damals sind ich und mein Mann nach Schweden gereist.

F: Beschreiben Sie bitte ihr gegenwärtiges Verhältnis zum Sohn ?

A: Jetzt habe ich Angst vorm Tod, man kann mich nicht alleine lassen und mein Mann ist jetzt bei mir.

F: Wie ist gegenwärtig ihr Verhältnis bzw. Bezug zum Sohn?

A: Über soziale Medien er ruft mich ständig an und zeigt mir Videos von den Enkelkindern Das ist ein großer Halt für mich.

F: Erhalten sie vom Sohn Unterstützungs- bzw. Versorgungsleistungen ?

A: Er hat keinen Aufenthaltstitel und aus diesem Grund auch keine Arbeitsgenehmigung und kann mich finanziell auch nicht unterstützen daher. Seelische Unterstützung die er leistet ist für mich aber das was ich brauche, das was wirkt und das was ich auch wirklich brauche jetzt.

F: Wie war das Verhältnis zu ihrem Sohn in der Heimat ?

A: Es war sehr gut. Ich war sehr glücklich als er bei mir, 22 Jahre waren wir zusammen und seit 2015 leben wir nicht mehr gemeinsam

F: Wo lebt ihr Sohn seit 2015 ?

A: Er ist in Bregenz bei der Familie, die Frau und seine 2 Kinder.

F: Wann heiratete die Sohn seine Ehefrau ?

A: 2014 in Schweden 2013 flüchtete damals die ganze Familie nach Schweden, ich mein Mann und mein Sohn. 2015 reiste der Sohn dann weiter nach Österreich

F. Wollen Sie an der Art der Einvernahme irgendetwas beanstanden.

Sie werden ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass Ihnen Beanstandungen nicht zum Nachteil gereichen, Sie werden vielmehr darauf hingewiesen, dass nachträgliche Beanstandungen der freien Beweiswürdigung unterliegen und eventuell als Schutzbehauptung qualifiziert werden.

A: Nein danke außer ich möchte sie bitte uns die Möglichkeit zu geben in der Nähe unseres Sohnes zu sein das ist mein sehnlichster Wunsch.

(…)“

Für die Zweitbeschwerdeführerin wurden zahlreiche fremdsprachigen Unterlagen, laut ihren Angaben über ihre gesundheitlichen Beschwerden, vorgelegt.

10. Mit den Bescheiden des BFA vom 23.07.2020 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz vom 03.03.2020 gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Deutschland gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO für die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz zuständig sei (Spruchpunkt I.). Zudem wurde gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG gegen die Beschwerdeführer die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge gemäß § 61 Abs. 2 FPG die Abschiebung der Beschwerdeführer nach Deutschland zulässig sei (Spruchpunkt II.).

Begründend wurde in den Bescheiden ausgeführt, dass sie an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten leiden.

Zum Erstbeschwerdeführer wurde insbesondere im Bescheid ausgeführt, dass er an Hepatitis C leide, diese Feststellungen würden auf der Aktenlage und auf den Angaben des Erstbeschwerdeführers beruhen, dieser habe sich auch für einvernahmefähig erklärt. Diesbezüglich sei kein Vorbringen erstattet worden, welches geeignet wäre, den Schutzbereich des Art. 3 EMRK zu tangieren. Das Gesundheitssystem in Deutschland sei hochwertig und von großem Umfang wie aus den Länderfeststellungen hervorgehe. Dass die Verbringung nach Deutschland lebensbedrohlichen Charakter annehme, wurde vom BFA ausgeschlossen. Des Weiteren wurde vom BFA auf die obligate amtsärztliche Untersuchung vor jeder Überstellung verwiesen.

Zur Zweitbeschwerdeführerin wurde insbesondere im Bescheid ausgeführt, dass die Feststellungen zu ihrem Gesundheitszustand auf der Aktenlage und ihren Angaben in den Einvernahmen beruhen, sie habe sich auch für einvernahmefähig erklärt. Diesbezüglich sei laut BFA kein Vorbringen erstattet worden, welches geeignet wäre, den Schutzbereich des Art. 3 EMRK zu tangieren, es wurde vom BFA auch auf die amtliche Länderfeststellung zu Deutschland, insbesondere den Teilbereich medizinische Versorgung in Deutschland, verwiesen.

Schließlich wurde festgehalten in den Bescheiden der Beschwerdeführer, dass diese in Österreich keine Anknüpfungspunkte hätten, die sie an Österreich binden würden. Sie wären gemeinsam nunmehr nach Österreich illegal eingereist. Berücksichtigungswürdigen privaten oder familiären Bezug in Österreich hätten sie nicht. Soweit die Beschwerdeführer auf die Familie des Sohnes verweisen, wurde vom BFA ausgeführt, dass klar auf die Ausgestaltung eines eigenen Familienlebens zu verweisen sei.

11. Gegen Bescheide des BFA vom 23.07.2020 betreffend die Beschwerdeführer wurde fristgerecht Beschwerde erhoben. In dieser wurde insbesondere ausgeführt, dass das einzige Kind, der Sohn XXXX , gemeinsam mit der Ehefrau und zwei Kindern in Österreich lebe. Es bestehe ein sehr enges Verhältnis und würde der Sohn die Beschwerdeführer seelisch und moralisch unterstützen. Der Erstbeschwerdeführer sei zudem an Hepatitis B und C seit längerer Zeit erkrankt und in medizinischer Behandlung. Weitere Unterlagen über dessen Behandlung in Russland seien bereits beim BFA abgegeben worden. Er habe auch geschildert, an Leberschmerzen zu leiden und psychische Probleme zu haben. Die Zweitbeschwerdeführerin leide auch unter psychischen Problemen und sei deshalb auch in medizinischer Behandlung. Sie habe beim BFA medizinische Unterlagen aus Russland und Schweden vorgelegt. Weiters habe die Zweitbeschwerdeführerin gynäkologische Probleme und stehe unter Beobachtung. Ob und wann eine Operation stattfinden müsse, sei derzeit noch in Abklärung. Auch leide die Zweitbeschwerdeführerin unter Herzproblemen. Die Zweitbeschwerdeführerin sei aufgrund der gesundheitlichen Probleme auf fremde Hilfe angewiesen. Teilweise übernehme dies der Erstbeschwerdeführer, was ihm jedoch aufgrund seines eigenen schlechten Gesundheitszustandes zunehmend schwerer falle. Die Beschwerdeführer würden in der Nähe ihres Sohnes und dessen Familie bleiben wollen, einerseits würde der Sohn und seine Familie die angeschlagenen Beschwerdeführer unterstützen, andererseits könnten die Beschwerdeführer den Sohn und dessen Frau bei der Kinderbeaufsichtigung unterstützen. Die Zweitbeschwerdeführerin benötige aufgrund ihrer psychischen Probleme phasenweise verstärkt Unterstützung. Es bestehe zwischen den Beschwerdeführern und dem Sohn samt Familie eine sehr enge emotionale Beziehung. Es sei vom BFA nicht festgestellt worden, ob eine Abhängigkeit vorliege, welche eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen unter den Schutz des Art. 8 EMRK subsumieren lasse. Es sei nicht festgestellt worden, inwiefern die Beschwerdeführer auf die Unterstützung des Sohnes angewiesen seien. Das BVwG habe auch bemängelt, dass keine hinreichenden Ermittlungen betreffend den Gesundheitszustand der Beschwerdeführer getroffen hätten. Das BFA habe es auch unterlassen, eine nähere Befragung der Beschwerdeführer hinsichtlich der von ihnen vorgebrachten gesundheitlichen Beschwerden vorzunehmen noch die hiezu vorgelegten Befunde übersetzen zu lassen. Verwiesen wurde darauf, dass das BVwG in der behebenden Entscheidung vom 29.06.2020 aufgetragen habe, dass das BFA die bereits vorgelegten medizinischen Befunde übersetzen lassen müsse und durch Befragung der Beschwerdeführer und/oder allenfalls durch Einholung eines fachärztlichen Gutachtens zu ermitteln habe, wie sich der Gesundheitszustand der Beschwerdeführer tatsächlich zur Zeit manifestiere. Das BFA habe zu ermitteln, wie sich die Beziehungsintensität zwischen den Beschwerdeführern und den in Österreich aufhältigen Familienangehörigen tatsächlich ausgestaltet und ob wechselseitige Abhängigkeiten bestehen würden, insbesondere im Hinblick auf die vorgebrachten Beschwerden der Beschwerdeführer.

Seitens der Vertretung der Beschwerdeführer wurde zum Beweis dafür, dass die Beschwerdeführer an psychischen Erkrankungen leiden und dass eine Abschiebung nach Deutschland sowie die damit verbundene Trennung vom Sohn zu einer massiven Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustandes führen würde, die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens beantragt. Weiters wurde zum Beweis für das enge verwandtschaftliche Verhältnis der Beschwerdeführer mit ihrem Sohn dessen zeugenschaftliche Einvernahme beantragt.

12. Mit Beschluss des BVwG vom 17.08.2020, W240 2231238-2/2E ua, wurde den Beschwerden gegen die Bescheide des BFA vom 23.07.2020 gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz
VwGVG stattgegeben und die vorzitierten Bescheiden des BFA neuerlich behoben.

Begründend wurde insbesondere ausgeführt:

„(…)

Das Bundesamt wird daher im fortgesetzten Verfahren hinsichtlich der Beschwerdeführer – auf der Grundlage aktueller Befunde - allenfalls durch die Veranlassung der Einholung entsprechender medizinischer Gutachten betreffend die Zweitbeschwerdeführerin, welche schwere psychische Probleme behauptet, abzuklären haben, ob bei den Beschwerdeführen tatsächlich eine ganz außergewöhnliche Fallkonstellation vorliegt, die im Falle einer Überstellung – auch wenn sich diese nicht in unmittelbarer Lebensgefahr befindet – eine ernste, schnelle und irreversible Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes, die ein starkes Leid zur Folge hätte.

Schließlich wurde in den nunmehr angefochtenen Bescheiden der Beschwerdeführer festgehalten, dass diese in Österreich keine Anknüpfungspunkte hätten, die sie an Österreich binden würden. Berücksichtigungswürdigen privaten oder familiären Bezug in Österreich hätten sie nicht. Soweit die Beschwerdeführer auf den in Österreich aufhältigen Sohn und dessen Familie verweisen hätten, wurde vom BFA diesbezüglich lediglich ausgeführt, dass klar auf die Ausgestaltung eines eigenen Familienlebens zu verweisen sei. Im vorliegenden Beschwerdefall ist allerdings – vor allem aufgrund der behaupteten gesundheitlichen Beschwerden der Beschwerdeführer, nach Abklärung derselben - eine Gesamtbetrachtung aller oben angeführten Umstände erforderlich, um die Frage einer allfälligen Verletzung von
Art. 3 und Art. 8 EMRK im Falle der Überstellung der Beschwerdeführer und damit verbunden der Verpflichtung zu einem Selbsteintritt zutreffend zu beurteilen.

(…)“

13. Am 25.08.2020 wurden die Beschwerdeführer neuerlich vom BFA einvernommen.

Der Erstbeschwerdeführer gab in der Einvernahme am 25.08.2020 vor dem BFA insbesondere an, er habe starke Magenschmerzen und könne es nicht genau sagen, was das sei. Bei der Gastroskopieuntersuchung werde es festgestellt werden. Er sei bereits wiederholt bei Ärzten gewesen, diese würden ihn jedoch nicht ohne Dolmetscher untersuchen wollen. Sein Sohn lebe weit weg in Bregenz. Er leide seit ungefähr 2007 oder 2008 an diesen Beschwerden. In Russland sei bereits Hepatitis bei ihm festgestellt worden, danach sei er ihn Schweden gewesen, wo auch diese Erkrankung festgestellt worden sei. Es sei zu keiner Behandlung in Schweden gekommen, weil er nach Russland abgeschoben worden sei. Er sei 2014 in Schweden angehalten worden und 2015 abgeschoben worden. Er habe keine medizinischen Unterlagen aus Russland oder Schweden.

Befragt, ob er – wie aufgefordert – nunmehr alle ärztlichen Bestätigungen vorgelegt habe, welche er vorlegen wolle, gab der BF1 an, er habe bis jetzt keine Bestätigungen von Ärzten erhalten. Erst am 10.09.2020 habe er einen Termin für eine Gastroskopieunersuchung und vor drei Wochen habe er eine Blutprobe abgegeben, jedoch noch kein Ergebnis. Er persönlich sei bisher bei einem Arzt wegen Magenbeschwerden bzw. wegen der Blutabnahme gewesen. Es sei Hepatitis B und C festgestellt worden. Die Frage, ob er ansonsten gesundheitliche Probleme habe, verneinte er.

Es wurde hinsichtlich des BF1 eine Laboruntersuchung vom März 2020 vorgelegt.

14. Im vom BFA eingeholten neurologisch-psychiatrischem Gutachten vom 10.09.2020 wurde insbesondere festgestellt, dass der BF1 an einer Anpassungsstörung mit einer leichtgradigen depressiven Reaktion (F 43.2) leidet. Von einer dauerhaften Behandlungsbedürftigkeit sei bei diesem Krankheitsbild nicht auszugehen, der BF1 erhalte derzeit keine medikamentöse antidepressive Therapie. Im Falle einer Überstellung des BF1 in seine Heimat (!) sei eine kurz- bis mittelfristige Verschlechterung des Krankheitsbildes möglich, da in diesem Falle der Wunsch in Österreich bleiben zu dürfen nicht erfüllt werden würde. Aus neurologisch-psychiatrischer Sicht bestehe im Fall einer Überstellung nicht die reale Gefahr, dass der BF1 aufgrund der psychischen Störung in einen lebensbedrohlichen Zustand geraten oder die Krankheit sich in einem lebensbedrohlichen Ausmaß verschlechtern könnte. Spezifische medizinische Maßnahmen seien vor, während und nach der Überstellung des BF in ein Ankunftsland nicht erforderlich. Der BF1 sei zeitlich, örtlich, situativ und zur Person derart orientiert, dass er in der Lage sei schlüssige und widerspruchsfreie Angaben zu tätigen. Soweit überblickbar liege beim BF1 keine ganz außergewöhnliche Fallkonstellation vor. Es sei nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass eine ernste, schnelle und irreversible Verschlechterung des Gesundheitszustandes eintreten würde im Falle einer Abschiebung in das Ankunftsland.

Am 15.10.2020 wurde dem BF1 das vorzitierte Gutachten vom 10.09.2020 zur Kenntnis gebracht und dem BF1 die Möglichkeit eingeräumt dazu Stellung zu nehmen, diese Möglichkeit nahm der BF1 nicht in Anspruch.

Die Zweitbeschwerdeführerin gab bei ihrer Einvernahme am 25.08.2020 insbesondere an, sie habe seit zwei Monaten Geräusche in ihrem Ohr und das lasse sie nicht in Ruhe. Sie sei schon mehrmals beim Arzt im Lager gewesen, dieser habe ihr verschiedene Medikamente gegeben, die ihr aber nicht geholfen hätten. Sie wolle zu einem Facharzt gehen, doch ohne Dolmetscher sei dies nicht möglich. Außerdem habe sie noch Zysten an beiden Eierstöcken, medizinische Unterlagen habe sie dafür keine, verwiesen wurde auf einen Befundbericht vom Juli 2020. Sie habe sich in ärztlicher Behandlung in Russland und in Schweden befunden. Sie habe seit rund 15 Jahren chronische Bronchitis, die Geräusche in ihrem Ohr habe sie rund zehn Jahre, die Zysten seien zum ersten Mal 2013 festgestellt worden und es hätte damals geheißen, dass keine Operation notwendig sei, diese Zysten seien jedoch mittlerweile größer geworden und sollten operativ entfernt werden. Sie hätte Mitte Juni 2020 operiert werden sollen, jedoch sei dies nicht erfolgt, dazu wurde ein Schreiben einer österreichischen Frauenheilkunde vom Juni 2020 vorgelegt worden. Im Schreiben einer schwedischen psychiatrischen Abteilung stehe, dass sie in Schweden behandelt worden sei. Sie sei sechs Mal mit einer Elektroschocktherapie behandelt worden, rund sechs Monate lang. Im russischsprachigem Schreiben aus 2013 stehe, dass die BF2 an einem hysterischen Syndrom leide und empfohlen werde, sich an den örtlichen Therapeuten und Neurologen zu wenden. Sie habe keine Unterlagen mehr, bis zu diesem Zeitpunkt sei es zu keiner Behandlung bekommen. Wenn der Sohn der BF2 in der Nähe gewesen sei, dann hätte er ihnen geholfen einen Hausarzt zu finden und so eine Behandlung beginnen zu können. Sonst habe sie keine medizinische Untersuchung erhalten, sie habe alle ärztlichen Unterlagen und Befunde vorgelegt. Sie habe noch Herzbeschwerden und plötzlich an Sehstärke verloren, die Herzbeschwerden habe sie seit über zehn Jahren und sei „zuhause“ behandelt worden und habe Infusionen erhalten, diese Behandlung habe sie jedes Jahr erhalten bis zur Ausreise aus der „Heimat“. In Österreich habe sie erkannt, dass sie nicht mehr so gut sehe, sie sei in Österreich noch in einem psychiatrischen Krankenhaus gewesen, ihr sei eine medikamentöse Behandlung verschrieben worden, die Tabletten nehme sie bis heute.

Betreffend die BF2 wurden neben schwedischen und russischen ärztlichen Bestätigungen insbesondere vorgelegt ein Befundbericht vom 30.07.2020 mit der Diagnose „schwer depressives Zustandsbild“, ein Befundbericht vom 06.07.2020, wonach neben Tabletten eine regelmäßige fachärztliche Kontrolle und psychologische Weiterbehandlung indiziert sei, ein Endbefund vom 04.07.2020, wonach bei der BF2 kein PCR auf SARS-CoV-2 nachweisbar sei.

15. Im vom BFA eingeholten neurologisch-psychiatrischem Gutachten vom 10.09.2020 wurde insbesondere festgestellt, dass die BF2 – soweit anamnestisch erhebbar – bereits seit vielen Jahren in regelmäßiger fachärztlicher Betreuung stehe und seit mehreren Jahren eine medikamentöse antidepressive Therapie erhalte, diese sei auch zuletzt in der Heimat in Russland eingenommen worden. Zur depressiv verfärbten Stimmungslage wurde ausgeführt, dass die BF2 bereits seit vielen Jahren an „Depressionen“ leide, vor der Ankunft in Österreich habe sie in Russland gelebt, wo sie auch psychiatrisch behandelt und die medikamentöse Therapie mit Sertralin und Atarax erfolgt sei, der neurologische Status sei im Wesentlichen unauffällig. Festgestellt wurde eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leicht bis mittelgradig ausgeprägt (F 33.1), die BF2 leide bereits seit vielen Jahren an dem Krankheitsbild und erhalte bereits seit mehreren Jahren eine medikamentöse antidepressive Therapie, die Weiterführung dieser Therapie sei aus medizinischer Sicht erforderlich. Von einer länger dauernden Behandlungsbedürftigkeit sei auszugehen. Im Falle einer Überstellung der Betroffenen in ihre „Heimat“ sei eine kurz- bis mittelfristige Verschlechterung des Krankheitsbildes möglich, da in diesem Falle der Wunsch in Österreich bleiben zu dürfen nicht erfüllt werden würde. Aus neurologisch-psychiatrischer Sicht bestehe im Falle einer Überstellung aber nicht die reale Gefahr, dass die BF2 aufgrund der psychischen Störung in einen lebensbedrohlichen Zustand gerate oder die Krankheit sich in einem lebensbedrohlichen Ausmaß verschlechtern könnte. Aus neurologisch-psychiatrischer Sicht solle vor, während und nach einer etwaigen Überstellung der BF2 in ein Ankunftsland die bereits eingeleitete medikamentöse antidepressive Therapie weitergeführt werden. Soweit erhebbar nehme die BF2 derzeit Sertralin und Atarax, diese medikamentöse Therapie habe sie bereits in der Heimat erhalten. Grundsätzlich würden zur Behandlung des Krankheitsbildes alle gängigen Antidepressiva und Beachtung der Nebenwirkungen in Frage. Im Ankunftsland sollte sich die BF2 auch einer regelmäßigen allgemeinmedizinischen oder fachärztlichen Betreuung unterziehen, eine Wartezeit bis zu einem Arzttermin sei vertretbar. Die Abschiebung sei mit medikamentöser Therapie möglich, die BF2 benötige derzeit Sertralin und Atarax. Eine kurzfristige Verschlechterung des Gesundheitszustandes sei möglich, da in diesem Fall der Wunsch in Österreich bleiben zu dürfen nicht erfüllt werden könnte. Von einer ernsten, schnellen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes sei nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auszugehen.

Am 15.10.2020 wurde der BF2 das vorzitierte Gutachten vom 10.09.2020 zur Kenntnis gebracht und dem BF2 die Möglichkeit eingeräumt dazu Stellung zu nehmen. Sie führte aus, dass sie zum Gutachten keine Angaben tätigen wolle, sie wolle jedoch erwähnen, dass sie in Österreich bleiben wolle, weil ihr Kind in Österreich sei.

16. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden des BFA vom 28.10.2020 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz vom 03.03.2020 gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Deutschland gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO für die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz zuständig sei (Spruchpunkt I.). Zudem wurde gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG gegen die Beschwerdeführer die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge gemäß § 61 Abs. 2 FPG die Abschiebung der Beschwerdeführer nach Deutschland zulässig sei (Spruchpunkt II.).

Zur Lage in Deutschland wurden folgende Feststellungen getroffen [unkorrigiert]:

Allgemeines zum Asylverfahren

In Deutschland existiert ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit gerichtlichen Beschwerdemöglichkeiten (AIDA 3.2018; vgl. BAMF o.D.a, BAMF o.D.b, BR o.D., UNHCR o.D.a, für ausführliche Informationen siehe dieselben Quellen). Im Jahr 2017 hat das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 603.428 Asylanträge entschieden. Das ist ein Rückgang gegenüber 2016 (695.733 Entscheidungen). 2017 wurden 222.683 Asylanträge entgegengenommen, 522.862 weniger als im Vorjahr. Insgesamt 123.909 Personen erhielten 2017 internationalen Schutz (20,5% der Antragsteller), 98.074 Personen (16,3%) erhielten subsidiären Schutz und 39.659 Personen (6,6%) Abschiebeschutz (BAMF 4.2018).

Verschiedene Berichte äußerten sich besorgt über die Qualität des Asylverfahrens. Ein Ein hoher Prozentsatz der Asylentscheidungen war einer internen Untersuchung zufolge „unplausibel“. Berichten zufolge waren viele Entscheidungsträger, die 2015 und 2016 beim BAMF eingestellt wurden, seit mehr als einem Jahr im Einsatz, ohne das interne Ausbildungsprogramm zu absolvieren. Bei den Dolmetschern wurden die unprofessionelle Haltung und fehlende Objektivität bemängelt. Weiters hat eine große Zahl von Asylwerbern eine Beschwerde gegen ihren Asylbescheid eingelegt, was zu einem Verfahrensstau bei den Gerichten geführt hat (AIDA 3.2018; vgl. USDOS 20.4.2018).

Quellen:

-        AIDA – Asylum Information Database (3.2018): Country Report: Germany, http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_de_2017update.pdf, Zugriff 12.6.2018

-        BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (o.D.a): Ablauf des Asylverfahrens, https://www.bamf.de/DE/Fluechtlingsschutz/AblaufAsylv/ablauf-des-asylverfahrens-node.html, Zugriff 12.6.2018

-        BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (o.D.b): Ablauf des deutschen Asylverfahrens – Broschüre, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/das-deutsche-asylverfahren.html?nn=6077414, Zugriff 12.6.2018

-        BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (4.2018): Aktuelle Zahlen zu Asyl, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/aktuelle-zahlen-zu-asyl-april-2018.pdf?__blob=publicationFile, Zugriff 12.6.2018

-        BR – Bundesregierung (o.D.): Flucht und Asyl: Fakten und Hintergründe, https://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/Themen/Fluechtlings-Asylpolitik/4-FAQ/_function/glossar_catalog.html?nn=1419512&lv2=1659082&id=GlossarEntry1659098, Zugriff 12.6.2018

-        UNHCR – UN High Commissioner for Refugees (o.D.a): Asyl und anderer Schutz, http://www.unhcr.org/dach/de/was-wir-tun/asyl-in-deutschland/asyl-und-anderer-schutz, Zugriff 12.6.2018

-        USDOS – US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 – Germany, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430259.html, Zugriff 12.6.2018

Dublin-Rückkehrer

Es gibt keine Berichte, dass Dublin-Rückkehrer in Deutschland Schwierigkeiten beim Zugang zum Asylverfahren hätten (AIDA 3.2018).

In „take charge“-Fällen kann der Rückkehrer einen Erstantrag stellen. Im Falle eines „take back“-Verfahrens können Dublin-Rückkehrer, die bereits eine negative Entscheidung erhalten haben, einen Folgeantrag stellen. Bei Dublin-Rückkehrern, die bereits einen Asylantrag in Deutschland gestellt haben, der noch nicht entschieden wurde, wird das Verfahren fortgesetzt. Für Dublin-Rückkehrer gelten die gleichen Aufnahmebedingungen wie für andere Asylwerber (EASO 24.10.2017).

Quellen:

-        AIDA – Asylum Information Database (3.2018): Country Report: Germany, http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_de_2017update.pdf, Zugriff 12.6.2018

-        EASO – European Asylum Support Office (24.10.2017): EASO Query. Subject: Access to Procedures and Reception Conditions for persons transferred back from another Member State of the Dublin regulation, per E-Mail

Unbegleitete minderjährige Asylwerber / Vulnerable

Treffen ausländische Kinder und Jugendliche unbegleitet in Deutschland ein und kommen mit staatlichen Stellen in Kontakt, so informieren diese das örtlich zuständige Jugendamt. UMA werden im Rahmen des allgemeinen Kinderschutzsystems untergebracht, versorgt und betreut, wie dies auch bei anderen gefährdeten Kindern und Jugendlichen der Fall ist. Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, UMA in Obhut zu nehmen und über deren bundesweite Verteilung zu entscheiden. Seit 2015 ist die Inobhutnahme für UMA mehrstufig (vorläufige und reguläre Inobhutnahme) geregelt (BAMF 3.2018). Im Zuge der vorläufigen Inobhutnahme prüft das Jugendamt durch das sogenannten Erstscreening, ob das Wohl des Kindes – auch in physischer und psychischer Hinsicht – durch das Verteilungsverfahren gefährdet werden würde, ob die kurzfristige Möglichkeit zur Familienzusammenführung besteht und ob diese dem Kindeswohl entspricht, ob eine gemeinsame Inobhutnahme mit anderen Kindern angezeigt ist und ob der Gesundheitszustand des Kindes anhand einer ärztlichen Stellungsnahme die Durchführung des Verteilungsverfahrens innerhalb der nächsten 14 Tage zulässt (MFKJKS 5.2017). Die ärztliche Stellungnahme erfolgt durch eine Gesundheitsuntersuchung (Kurzscreening), dessen Umfang gesetzlich nicht vorgegeben ist. In welchem Umfang also Screenings durchgeführt werden, ist je nach Bundesland unterschiedlich geregelt und es gelten unterschiedliche Standards (BAMF 3.2018). Während der vorläufigen Inobhutnahme werden UMA bei einer geeigneten Person (Verwandte oder Pflegefamilien), in einer geeigneten Einrichtung (sogenannte Clearingshäuser) oder in einer sonstigen Wohnform untergebracht. Neben der Unterbringung werden der notwendige Unterhalt, die Krankenhilfe und die rechtliche Vertretung des Kindes sichergestellt. Im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme findet auch die Altersfeststellung statt. Die dafür verwendeten Methoden reichen von einer reinen Altersschätzung über körperliche Untersuchungen bis hin zu radiologischen Untersuchungen der Handwurzel, des Gebisses oder des Schlüsselbeins (BAMF 3.2018; vgl. BAMF 1.8.2016a).

Das Jugendamt entscheidet auf der Grundlage des Ergebnisses des Erstscreenings, ob das bundesweite Verteilungsverfahren durchgeführt wird oder ob eine Verteilung ausgeschlossen ist. Die bundesweite Verteilung erfolgt durch das Bundesverwaltungsamt. Trotz der bundesweiten Aufnahmepflicht und Verteilung, die dazu dienen, die vorhandenen Unterbringungskapazitäten besser zu nutzen, aber auch die Belastung der Kommunen besser zu verteilen, wird das Verteilungsverfahren verschiedentlich kritisiert. Zum einen wurde hervorgehoben, dass die gesetzlichen Vorgaben zu Problemen in der Praxis führen können und zum anderen wurde bemängelt, dass die Versorgung und Betreuung im Umverteilungsverfahren allzu oft nicht im Rahmen der Standards der Jugendhilfe (z.B. nicht geeignete Unterkünfte, ungenügende Gesundheitsversorgung, Mangel an spezifischen Fachwissen und Erfahrung seitens der Fachkräfte) stattfände (BAMF 3.2018).

Nach der Verteilung ist das Jugendamt, dem die Minderjährigen zugewiesen wurden, für die reguläre Inobhutnahme zuständig. Die Unterbringung erfolgt wieder bei einer geeigneten Person oder in einer geeigneten Einrichtung (siehe oben) (BAMF 1.8.2016a). Der weitere Ausbau von speziell auf die Bedürfnisse von UMA ausgerichteten Angeboten und eine bessere Qualifizierung des betreuenden Personals, vor allem im Hinblick auf traumatisierte UMA, werden allerdings als Herausforderung gesehen (BAMF 3.2018).

Im Anschluss an die Unterbringung werden die Beantragung einer Vormundschaft, weitere medizinische Untersuchungen, die Ermittlung des Erziehungsbedarfs sowie eine Klärung des Aufenthaltsstatus veranlasst. Für UMA muss vom Familiengericht ein Vormund oder Pfleger bestellt werden. Eine Vormundschaft besteht in der Regel bis zur Volljährigkeit. Dabei orientiert sich die Volljährigkeit an dem Recht im Herkunftsland des Minderjährigen und nicht am deutschen Recht. Tritt also nach diesem Recht die Volljährigkeit erst nach Vollendung des 18. Lebensjahrs ein, endet die Vormundschaft auch erst zu diesem Zeitpunkt. Im anschließenden Clearingsverfahren werden weitere Schritte im Bereich des Jugendhilferechts oder des Aufenthaltsrechts eingeleitet. Es umfasst unter anderem die Klärung des Aufenthaltsstatus. Auf dessen Basis wird entschieden, ob ein Asylantrag gestellt wird. Ist ein Asylverfahren nicht erfolgversprechend, kann die zuständige Ausländerbehörde auch eine Duldung ausstellen. Kommt auch dies nicht in Frage, berät die Ausländerbehörde über andere aufenthaltsrechtliche Möglichkeiten. Falls ein Asylantrag gestellt werden soll, ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig (BAMF 1.8.2016a).

Innerhalb des Asylverfahrens gelten für die Bestimmung der Volljährigkeit die nationalen Vorschriften. Das heißt: Asylwerber müssen mit Vollendung des 18. Lebensjahrs ihren Asylantrag selbst stellen. Ein etwaiger Vormund kann in diesem Fall aber weiterhin das Asylverfahren begleiten (BAMF 1.8.2016a). Die Asylantragsstellung vom UMA muss über den Vormund oder das Jugendamt schriftlich erfolgen. Das Mindestalter zur Begründung der Handlungsfähigkeit im Asylverfahren wurde auf 18 Jahren hinaufgesetzt. Es gibt für UMA kein gesondertes Asylverfahren, dennoch wird, um das Kindeswohl zu wahren, das Verfahren von besonders geschulten Entscheidern (Sonderbeauftragten) kindgerecht durchgeführt (BAMF 3.2018). Anhörungen finden grundsätzlich in Anwesenheit des Vormunds statt. Zusätzlich kann auch ein Beistand, z. B. eine Betreuerin oder ein Betreuer bei den Anhörungen anwesend sein. Unterbringung, Versorgung – hierzu gehört auch die sozialpädagogische Begleitung und Betreuung, Gesundheitsversorgung sowie Rechtsberatung – sind gesetzlich sichergestellt (BAMF 1.8.2016a).

Im Jahr 2016 gab es in Deutschland 44.935 Inobhutnahmen von UMA, 35.939 davon stellten Asylanträge. 2017 gab es 9.084 Asylanträge von UMA (BAMF 30.4.2018).

Es gibt keine gesetzliche Vorschrift zur Identifizierung Vulnerabler, mit Ausnahme von unbegleiteten Minderjährigen. Mit der Änderung des Asylgesetzes im Jahr 2015 wurde zwar ein Wortlaut betreffend der Identifizierung schutzbedürftiger Asylwerber eingeführt, aber die neue Richtlinie wird nicht ordnungsgemäß umgesetzt (AIDA 3.2018). In der Praxis werden Beeinträchtigungen und die damit verbundenen spezifischen Bedarfe von Asylwerbern nur zufallsbasiert und bestenfalls vereinzelt erkannt. Soweit in der Flüchtlingsaufnahme Beeinträchtigungen erkannt werden, geschieht dies entweder während der verpflichtenden medizinischen Erstuntersuchung durch die Gesundheitsämter, die jedoch lediglich der Diagnose übertragbarer Krankheiten zum Schutz der örtlichen Gesundheit dienen, oder durch Sozialarbeiter im laufenden Betrieb der Einrichtungen. Beide Wege haben jedoch nicht das Ziel der systematischen Erfassung von Beeinträchtigungen und individuellen Bedarfsfeststellung; sie erreichen nur einen Bruchteil der Betroffenen und in der Regel werden nur sichtbare Beeinträchtigungen erkannt (DIM 3.2018; vgl. AIDA 3.2018).

Einige Bundesländer haben Pilotprojekte für die Identifizierung vulnerabler Asylwerber eingeführt. Vom BAMF erlassene Richtlinien sehen vor, dass insbesondere UM, Opfer geschlechtsspezifischer Verfolgung sowie Opfer von Folter und traumatisierte Asylwerber besonders sensibel und bei Bedarf von speziell ausgebildeten Referenten behandelt werden sollen. Die Einführung dieser Spezialisten (376 für UMA, 74 für Traumatisierte und Folteropfer, 125 für Opfer geschlechtsspezifischer Verfolgung, 79 für Opfer des Menschenhandels) hat die Handhabung derartiger Verfahren etwas verbessert, wobei es aber auch Beispiele gibt, wonach Hinweise auf Traumata bzw. sogar Folter nicht zur Konsultierung solcher Spezialisten geführt haben (AIDA 3.2018).

Medizinische Spezialbehandlung für Traumatisierte und Folteropfer kann durch einige Spezialisten und Therapeuten in verschiedenen Behandlungszentren für Folteropfer gewährleistet werden. Da die Plätze in diesen Zentren begrenzt sind, ist der Zugang nicht immer garantiert. Da die Behandlungskosten von den Behörden nur teilweise übernommen werden (Übersetzerkosten werden etwa nicht gedeckt), sind die Zentren zu einem gewissen Grad auf Spenden angewiesen. Große geographische Distanzen zwischen Unterbringung und Behandlungszentrum sind in der Praxis auch oft ein Problem (AIDA 3.2018).

Quellen:

-        AIDA – Asylum Information Database (3.2018): Country Report: Germany, http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_de_2017update.pdf, Zugriff 12.6.2018

-        BAMF – Bundest für Migration und Flüchtlinge (30.4.2018): Zugangszahlen zu unbegleiteten Minderjährigen, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Asyl/um-zahlen-entwicklung.pdf?__blob=publicationFile, Zugriff 12.6.2018

-        BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (3.2018): Unbegleitete Minderjährige in Deutschland, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/EMN/Studien/wp80-unbegleitete-minderjaehrige.pdf?__blob=publicationFile, Zugriff 12.6.2018

-        BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (1.8.2016a): Unbegleitete Minderjährige, http://www.bamf.de/DE/Fluechtlingsschutz/UnbegleiteteMinderjaehrige/unbegleitete-minderjaehrige-node.html, Zugriff 12.6.2018

-        DIM – Das Deutsche Institut für Menschenrechte (3.2018): Geflüchtete Menschen mit Behinderung, https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/POSITION/Position_16_Gefluechtete_mit_Behinderungen.pdf, Zugriff 12.6.2018

-        MFKJKS – Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen (5.2017): Jugend – Handreichung zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Nordrhein-Westfalen 2017, https://www.mkffi.nrw/sites/default/files/asset/document/handreichung_2017.pdf, Zugriff 12.6.2018

Non-Refoulement

Wenn die drei Schutzformen - Asylberechtigung, Flüchtlingsschutz, subsidiärer Schutz - nicht greifen, kann bei Vorliegen bestimmter Gründe ein Abschiebungsverbot erteilt werden (BAMF 1.8.2016b). Wenn ein Abschiebungsverbot festgestellt wird, erhält die betroffene Person eine Aufenthaltserlaubnis von mindestens einem Jahr; eine Verlängerung ist möglich (UNHCR o.D.a).

Amnesty International sieht Asylwerber aus Serbien, Mazedonien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Albanien und Montenegro von einem erhöhten Refoulement-Risiko bedroht, da diese Länder als sichere Herkunftsstaaten eingestuft wurden (AI 31.12.2017). AI kritisiert auch die fortgesetzten Abschiebungen nach Afghanistan, trotz der sich verschlechternden Sicherheitslage vor Ort. Bis Ende des Jahres wurden 121 afghanische Staatsangehörige abgeschoben (AI 22.2.2018).

Quellen:

-        AI – Amensty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights – Germany, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425035.html, Zugriff 12.6.2018

-        AI – Amnesty International (31.12.2017): Germany: Human rights guarantees undermined: Amnesty International submission for the UN Universal Periodic Review - 30th session of the UPR Working Group, May 2018 [EUR 23/7375/2017], https://www.ecoi.net/en/file/local/1422247/1226_1516189882_eur2373752017english.pdf, Zugriff 12.6.2018

-        Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (1.8.2016b): Nationales Abschiebungsverbot, https://www.bamf.de/DE/Fluechtlingsschutz/AblaufAsylv/Schutzformen/AbschiebungsV/abschiebungsverbot-node.html, Zugriff 12.6.2018

-        UNHCR – UN High Commissioner for Refugees (o.D.a): Asyl und anderer Schutz, http://www.unhcr.org/dach/de/was-wir-tun/asyl-in-deutschland/asyl-und-anderer-schutz, Zugriff 12.6.2018

Versorgung

Das Asylbewerberleistungsgesetz regelt die Leistungen, die Asylwerbern zustehen. Die Leistungen umfassen die Grundleistungen des notwendigen Bedarfs (Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege, Gebrauchs- und Verbrauchsgüter im Haushalt), Leistungen zur Deckung persönlicher Bedürfnisse im Alltag (Bargeld bzw. Taschengeld), Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt. Bei besonderen Umständen können auch weitere Leistungen beantragt werden, die vom Einzelfall abhängen (AIDA 3.2018; vgl. BAMF 1.8.2016b). Die empfangenen Leistungen liegen dabei unterhalb der finanziellen Unterstützung, die deutsche Staatsangehörige beziehen. Bei einer Unterbringung in Aufnahmeeinrichtungen werden die Grundleistungen als Sachleistungen bereit gestellt. Hiervon kann – soweit nötig – abgewichen werden, wenn Asylwerber nicht in Aufnahmeeinrichtungen, sondern in Anschlusseinrichtungen (z.B. Gemeinschaftsunterkunft oder dezentrale Unterbringung, wie Wohnung oder Wohngruppen) untergebracht sind. So können Asylwerber statt Sachleistungen Leistungen in Form von unbaren Abrechnungen, Wertgutscheinen oder in Geldleistungen erhalten. Werden alle notwendigen persönlichen Bedarfe durch Geldleistungen gedeckt, werden die folgenden Beträge monatlich ausbezahlt:

Bezieher

Betrag bei Unterbringung in den Aufnahmeeinrichtungen

Betrag bei Unterbringung außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen

Für alleinstehende Leistungsberechtigte

135 €

216 €

Für zwei erwachsene Leistungsberechtigte, die als Partner einen gemeinsamen Haushalt führen

je 122 €

194 €

Für weitere erwachsene Leistungsberechtigte ohne eigenen Haushalt

je 108 €

174 €

Für sonstige jugendliche Leistungsberechtigte vom Beginn des 15. und bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres

76 €

198 €

Für leistungsberechtigte Kinder vom Beginn des siebten bis zur Vollendung de

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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