TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/26 W177 2202981-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 26.11.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

26.11.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch


W177 2202976-1/12E
W177 2202982-1/12E
W177 2202981-1/12E
W177 2202980-1/14E
W177 2202978-1/12E

Ausfertigung der am 09.11.2020 mündlich verkündeten ErkenntnissE

IM NAMEN DER REPUBLIK!

1.

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.06.2018, Zl. XXXX erkannt:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status einer Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

III. In Erledigung der Beschwerde werden die übrigen Spruchteile des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013 idgF, ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

2.

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerden von XXXX , geb. XXXX , XXXX , geb. XXXX , XXXX , geb. XXXX , XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.06.2018, Zl. XXXX , vom 29.06.2018, Zl. XXXX , Zl. XXXX , Zl. XXXX erkannt:

A)

I. Den Beschwerden wird stattgegeben und XXXX , XXXX , XXXX , und XXXX , gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status von Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX , damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass den Beschwerdeführern damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

III. In Erledigung der Beschwerde werden die übrigen Spruchteile des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013 idgF, ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Erstbeschwerdeführer (nunmehr „BF1“) reiste gemeinsam mit seiner Ehegattin, der Zweitbeschwerdeführerin (nunmehr „BF2“) und ihren gemeinsamen drei minderjährigen Töchtern, die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführerinnen (nunmehr „BF3“, „BF4“ und „BF5“) illegal in das österreichische Bundesgebiet ein. Nach erfolgter Einreiseverweigerung in die Bundesrepublik Deutschland stellten sie am 24.12.2016 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.

2. Am 25.12.2016 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des BF1 und der BF2 statt. Dabei gab der BF1, zu seinem Fluchtgrund gefragt, an, dass Afghanistan unsicher sei und ihm seine Cousins seine wirtschaftliche Existenz wegnehmen hätten wollen. Nachdem er vor fünf Jahren von diesem mit einem Messer verletzt worden sei, habe er Afghanistan verlassen und sei in den Iran gegangen. Seine Kinder hätten in Afghanistan auch keine Aussicht auf eine Schulbildung und keine Zukunft. Bei einer Rückkehr in seinen Heimatstaat befürchte er, dass ihn seine Verwandtschaft umbringen werde. Die BF2 führte aus, dass ihre Mutter sowie ihre fünf Brüder und drei Schwestern allesamt in Mazar-e Sharif aufhältig wären. Sie selbst habe mit ihren mitgereisten Familienmitgliedern die letzten fünf Jahre im Iran verbracht. Sie berief sich bezüglich ihrer Fluchtgründe ebenfalls darauf, dass Afghanistan unsicher sei und sie zusammen mit ihrer Familie das Land wegen eines Streits zwischen ihrem Mann und dessen Cousins verlassen hätten müssen. Da die Familie im Iran keine Rechte gehabt hätte, wäre sie nach Europa weitergezogen. Ihre drei minderjährigen Töchter hätten keine eigenen Fluchtgründe.

3. Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 08.05.2018 führte der BF1 unter anderem an, aus Afghanistan zu stammen und dort in einem Dorf bei Mazar-e Sharif gelebt zu haben. Er sei afghanischer Staatsangehöriger, tadschikischer Volkszugehörigkeit und Moslem sunnitischer Glaubensrichtung. Er spreche Farsi, sei religiös erzogen worden und habe in Afghanistan in einer Moschee die Grundkenntnisse des Islam gelernt. Arbeitserfahrung habe er in der Landwirtschaft und auf Baustellen gesammelt. Er habe Afghanistan vor siebeneinhalb Jahren verlassen und sich vor seiner Reise nach Europa fünf Jahre lang im Iran aufgehalten. Er sei verheiratetet und habe drei minderjährige Töchter, die keine eigenen Fluchtgründe hätten. Zu seinen zwei in Afghanistan lebenden Schwestern und sonstigen dort aufhältigen Verwandten habe der BF1 keinen Kontakt. In Afghanistan habe er kein Problem mit den staatlichen Behörden gehabt oder sei er aufgrund seiner politischen Gesinnung, seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder seiner Religionszugehörigkeit verfolgt worden. Er habe sein Heimatland verlassen, weil zwei Cousins, die für die Taliban arbeiten würden, nach dem Tod seines Vaters, dessen gesamte Grundstücke für sich haben hätten wollen. Diese Cousins hätten ihn auch im Iran bedroht, wo er sie auf einer Hochzeit zufällig getroffen hätte. Dabei sei er auch mit einem Messer verletzt worden und habe 20 Tage im Krankenhaus behandelt werden müssen. Er vermute jedenfalls, dass die Cousins Taliban seien, weil er gesehen habe, dass diese im Heimatdorf Kontakt mit Personen, die wie Taliban ausgesehen hätten, gepflegt hätten. Da ihn diese Personen auch im Iran verfolgt hätten, hätten ihn diese auch in jeder Provinz Afghanistans finden können. Auf Vorhalt, dass diese Begegnung allerdings auf einem Zufall basiert habe, vermeinte der BF, dass er sich gedacht habe, dass diese Cousins im Iran keine Macht gehabt hätten. Den Iran habe er verlassen, weil er dort keine Zukunft für seine Kinder gesehen habe. Warum Österreich nun für die Bildung seiner Kinder aufkommen soll, vermeinte der BF1, dass es hier Menschenrechte gebe. Dass er seinen Kindern in seinem Heimatland Bildung ermögliche, in dem er innerhalb Afghanistans übersiedle, habe er wegen seiner Probleme nicht machen können. In Österreich sei er bislang nur ehrenamtlich tätig geworden und lebe von der Grundversorgung.

Die BF2 gab an, dass sie aus eine Dorf bei Mazar-e Sharif stamme. Sie afghanische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken und gehöre der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Sie sei weder religiös erzogen worden noch spiele die Religion in ihrem Leben eine große Rolle. Sie sei seit zwölf Jahren verheiratet, habe keine Schule besucht und gehe keiner Beschäftigung nach. Sie habe aber immer den Wunsch gehabt, einen Beruf zu erlernen, durfte dies aber nie. Von ihren Verwandten würden sich, bis auf einen Bruder, noch alle in der Region um Mazar-e Sharif aufhalten. Mit ihrer Mutter sei sie in regelmäßigem Kontakt. In Afghanistan habe sie kein Problem mit den staatlichen Behörden gehabt oder sei sie aufgrund ihrer politischen Gesinnung, ihrer Volksgruppenzugehörigkeit oder ihrer Religionszugehörigkeit verfolgt worden. Neben den Fluchtgründen ihres Mannes habe sie aber noch eigene Fluchtgründe, weil sie in Afghanistan als Frau keine Rechte und keine Freiheit habe. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan würde sie ihre in Österreich gewonnene Freiheit wieder verlieren. Auf Vorhalt, dass sich afghanische Frauen in urbanen Zentren des Landes frei bewegen können, vermeinte die BF2, dass dies nicht stimmen würde und sie diesbezüglich andere Erfahrungen gemacht habe. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei wegen der Probleme ihres Mannes nicht gegeben, weil die staatlichen Behörden keinen ausreichenden Schutz bieten würden und die Cousins ihren Mann sogar im Iran gefunden hätten. In Österreich könne sie das Haus verlassen, wann sie wolle und sich immer Aktivitäten, wie schwimmen oder ins Kino gehen, widmen, die sie gerne habe. Sie trage westliche Kleidung und wolle Köchin werden. Die belangte Behörde stellte hierzu ebenso fest, dass sie ein gepflegtes Erscheinungsbild habe und nicht gekünstelt wirke. Sie lebe von der Grundversorgung und könne derzeit keinen Deutschkurs besuchen, weil in ihrem Dorf keiner abgehalten werde und Fahrgemeinschaften in Städte schwierig zu organisieren wären.

4. Mit den angefochtenen Bescheiden vom 28.06.2018 und 29.06.2018 wurden die Anträge der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Weiters wurde den Beschwerdeführern ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, ihnen gegenüber gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Schließlich sprach das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.). Begründend wurde festgehalten, dass das Vorbringen des BF1, dass dieser Afghanistan wegen seiner familiärer Probleme verlassen habe, zu Grunde gelegt werde. Daraus sei aber keine asylrechtlich relevante Verfolgung abzuleiten gewesen, zumal sich der BF1 mit seiner Familie in einem anderen Teil des Landes niederlassen hätte können, um diesen geschilderten Verfolgungshandlungen aus dem Wege zu gehen. Unglaubwürdig gewesen wären die Steigerungen im Vorbringen, dass die Cousins bei den Taliban wären und diese den BF1 bis in den Iran verfolgt hätten. Der BF1 habe dies auch so in seiner Erstbefragung nicht wiedergegeben bzw. stünden diese Angaben in der Einvernahme vor dem BFA mit den in der Erstbefragung getätigten Angaben im Widerspruch. Daher sei das Vorbringen des BF1 in seiner Gesamtheit betrachtet nicht als glaubwürdig einzustufen gewesen. Abgesehen davon, dass die Herkunftsprovinz der BF zu den als sicher eingestuften Regionen Afghanistans zähle, stünde den BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit Kabul eine innerstaatliche Fluchtalternative offen. Diese wäre den BF zumutbar, weil der BF1 mit den sozialen Gegebenheiten in Afghanistan vertraut sei und ihm die Aufnahme einer Arbeit auch möglich und zumutbar erscheint, zumal er über jahrelange Erfahrung auf dem Arbeitsmarkt in Afghanistan verfüge. Ebenso habe der BF1 mit zwei Schwestern in Afghanistan noch einen familiären Anknüpfungspunkt. Ebenso würden zahlreiche Verwandte der BF2 noch in Afghanistan aufhältig sein, weshalb einer Unterstützung der BF auch von dieser Seite möglich wäre.

Eine Verwestlichung habe bei der BF2 ebenfalls nicht erkannt werden können, zumal diese trotz westlicher Kleidung gekünstelt und aufgesetzt gewirkt habe. Ebenso sei es nicht nachvollziehbar gewesen, dass sich die BF2 nicht um einen weiteren Deutschkurs im Zuge ihres Aufenthaltes in Österreich gekümmert habe. Sie habe daher nicht den Eindruck erweckt, dass sie derart westlich orientiert sei, dass ein deutlicher und nachhaltiger Bruch mit den in Afghanistan verbreiteten gesellschaftlichen Werten stattgefunden habe. Sie würde in Österreich auch aktuell nicht ein westlich orientiertes Leben führen. Aufgrund des Aufwachsens in Afghanistan und der einhergehenden Vertrautheit mit den dort üblichen Sitten und Bräuchen sei es ihr zumindest zumutbar, in einer Stadt wie Kabul, als Frau am öffentlichen Leben teilhaben zu können.

5. Mit Verfahrensanordnung vom 29.06.2018 wurde den BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 29.06.2018 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.

6. Gegen diese Bescheide vom 28.06.2018 und 29.06.2018 wurde fristgerecht am 26.07.2018 Beschwerde erhoben. Die BF führten in dieser im Wesentlichen aus, dass eine mündliche Verhandlung durchzuführen sei, damit die Fluchtgründe nochmals erörtert werden können. Die Glaubwürdigkeit aus einem Vergleich zwischen Erstbefragung und Niederschrift abzuleiten, weil es Widersprüche und Steigerungen zur Erstbefragung gegeben habe, sei nicht ausreichend. § 19 AsylG normiere, dass sich die Erstbefragung nicht näher auf die Fluchtgründe zu beziehen habe. Die BF hätten sich in beiden Befragungen auf dieselben Fluchtgründe bezogen. Im Übrigen sei die BF2 durch ihren Aufenthalt in Österreich westlich orientiert, weil sie ein selbstbestimmtes Leben führe und ihr diesbezüglich in Afghanistan eine asylrechtlich relevante geschlechtsspezifische Verfolgung drohe. Auch hätten die Kinder in Afghanistan keinen ausreichenden Zugang zu Bildung und wären diesbezüglich ständiger Unterdrückung und Bedrohungen ausgesetzt. Aufgrund der in Afghanistan vorherrschenden schlechten Sicherheitslage und der persönlichen Umstände der BF hätte den BF jedenfalls der subsidiäre Schutz zuerkannt werden müssen.

7. Die gegenständlichen Beschwerden und die bezugshabenden Verwaltungsakte wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 02.08.2018 vom BFA vorgelegt.

8. Mit Schreiben vom 18.09.2018 legte RA Mag. Robert Bitsche eine Vollmacht vor, die rechtsfreundliche Vertretung der BF in gegenständlichem Verfahren übernommen zu haben.

9. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 09.11.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher die BF, ihre rechtsfreundliche Vertretung und eine Zeugin persönlich teilgenommen haben und in der die BF2 und der BF1 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Farsi eingehend einvernommen wurden. Ein Vertreter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nahm an der Verhandlung, durch ein Schreiben vom 06.11.2020 entschuldigt, nicht teil.

Die BF gaben zu Beginn der Verhandlung an, dass er in der Lage sei, der Verhandlung folgen zu können. Nach einer vorläufigen Beurteilung über die politische und menschenrechtliche Situation in ihrem Herkunftsstaat auch unter der Berücksichtigung von COVID19, legten die BF ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor. Zuerst stellte der BF1 seinen Vornamen richtig, ehe die BF2 einvernommen wurde. Sie führte aus, dass sie in Österreich ein freies und selbstbestimmtes Leben führen könne, weil sie hier alleine das Haus verlassen, rausgehen und arbeiten könne. Sie könne einkaufen gehen sowie sich tag und nachts frei bewegen. Ebenso könne sie ihre Kleidung frei wählen. Wie sie nach Österreich gekommen sei, habe sie nicht einmal gewusst, wie man einen Kugelschreiber richtig halten würde. Sie gehe auch schwimmen, wobei es ihr egal sei, ob Männer oder Frauen dort wären. In Afghanistan habe es diese Möglichkeiten nicht gegeben. Dort habe sie weder kurzärmlige Kleidung tragen können noch sich die Haare schneiden lassen. Schminken habe sie sich überhaupt nicht können. In der Familie dürfe sie mitreden und Entscheidungen treffen, gleich wie ihr Ehemann. Ihre Kinder sollten ihre Zukunft auch selbst entschieden dürfen. Sie könne sich sowohl eine weibliche Präsidentin Afghanistans als auch einen weiblichen Mullah vorstellen. Sie wisse aber, dass die Chance dazu sehr gering sei. Über die Demokratie habe sie sich noch nie Gedanken gemacht. Frauen würden bei der Kinderbetreuung, bei der Haushaltsführung und beim Schminken besser sein.

Die in weiterer Folge einvernommene Zeugin vermeinte, dass sie mitverfolgt habe, wie die BF2 in Österreich aufgeblüht sei. Sie habe schnell Interesse am Leben im Dorf gehabt, wobei ihr auch bewusst gewesen sei, dass sie in Österreich ein selbstbestimmtes Leben führen könne. Es sei offensichtlich, dass sie selbst Entscheidungen treffen könne und es diesbezüglich keine Disharmonien mit ihrem Ehemann geben würde. Die BF2, die einen dominanten Eindruck vermitteln würde, rede und bestimme gerne mit. Sie habe auch klare Ziele bezüglich ihres Berufswunsches und wolle auch den Führerschein machen.

Danach wurde seitens des erkennenden Richters festgestellt, dass die BF2 modisch gekleidet, dezent geschminkt und mit offenem Haar in die Verhandlung erschienen sei. Sie habe einen intelligenten, offenen und selbstbewussten Eindruck hinterlassen und überzeugende Beispiele für ihre selbstbestimmte Lebensweise, unter Berücksichtigung ihres Bildungsstandes und der Sorgepflichten für drei minderjährige Kinder, vorgebracht. Es sei deutlich hervorgekommen, dass sie sich innerlich von politisch und religiös geprägten Sitten ihres Heimatlandes abgewandt habe und die in Europa praktizierten, demokratischen Überzeugungen übernommen habe. Eine grundlegende und verfestigte Änderung der Lebensführung, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme und die Ausübung ihrer Grundrechte als Frau zum Ausdruck komme, sei zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden. Diese habe durch die Angaben der überaus glaubwürdigen Zeugin bestätigt werden können. Im Falle einer Rückkehr in ihr Heimatland könne sie diese neue Einstellung nicht leben. Der Bruch mit den gesellschaftlichen Normen des Heimatlandes sei deutlich und nachhaltig. Die BF2 sei mit Hinweis auf die Rechtsprechung des VwGH (siehe Ra 2017/18/0301) eine westlich orientierte Person.

Danach folgte der Schluss der Verhandlung, wobei der Richter gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG das der Beschwerde in Spruchpunkt I. stattgebende Erkenntnis der BF2 samt wesentlicher Entscheidungsgründe verkündete. Ebenso erfolgte die Rechtsmittelbelehrung und die mündliche Verkündung der ebenfalls im Zuge des Familienverfahrens der Beschwerde gemäß Spruchpunkt I. stattgebenden Entscheidungen der weiteren vier Familienmitglieder. Eine unterschriebene Ausfertigung des Verhandlungsprotokolls wurde dem Vertreter der belangten Behörde zugestellt.

10. Mit Schreiben vom 13.11.2020 beantragte die belangte Behörde gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG fristgerecht die Ausfertigung der mündlich verkündeten Erkenntnisse vom 09.11.2020.

11.Die BF legten im Laufe des Verfahrens folgende Dokumente vor:

?        Teilnahmebestätigung Deutschkurs A1 betreffend BF1 und A1 betreffend BF2

?        Teilnahmebestätigung an einem Werte- und Orientierungskurs betreffend BF1 und BF2 sowie Teilnahmebestätigungen an Basisbildungskursen der BF2

?        Tazkira der BF3

?        Jahreszeugnis der BF3

?        Referenzschreiben für die BF3 und BF4

?        Einstellungszusage betreffend BF1

?        Zahlreiche Empfehlungsschreiben der Wohnsitzgemeinde für die BF samt Bilder über deren Aktivitäten

?        Bestätigung über die Durchführung von gemeinnützigen Tätigkeiten betreffend BF1

?        Teilnahmebestätigung an einem Bildungskurs betreffend BF2

?        Versicherungsdatenauszug der BF2 samt zahlreicher Dienstleistungsschecks

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die – zulässigen - Beschwerden erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der BF:

Die BF tragen die im Spruch genannten Namen und sind an den im Spruch genannten Daten geboren. Der BF1 ist der Ehemann der BF2; die BF3, BF4 und BF5 sind die minderjährigen Töchter der beiden mit einander verheirateten BF1 und BF2.

Die BF sind afghanische Staatsangehörige und Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken und bekennen sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam.

Die BF2 verließ Afghanistan zusammen mit dem BF1 im Jahr 2011. Nach einem fünfjährigen Aufenthalt im Iran reisten sie nach Europa weiter, wo sie am 24.12.2016 nach zuvor erfolgter Einreiseverweigerung in die Bundesrepublik Deutschland einen Antrag auf internationalen Schutz stellten.

Die BF2 und der BF1 haben in Afghanistan keine profunde Schulbildung erhalten, wobei der BF1 Arbeitserfahrung in der Landwirtschaft und als Hilfsarbeiter auf Baustellen gesammelt hat. Der BF1 hat in Afghanistan noch zwei Schwestern, seitens der BF2 sind noch deren Mutter, drei Schwestern und vier Brüder in Afghanistan aufhältig. Die meisten dieser Verwandten würden um die Stadt Mazar-e Sharif aufhältig sein. Die BF2 habe zumindest zu ihrer Mutter aufrechten Kontakt.

Bei der BF2 handelt es sich um eine auf Eigenständigkeit bedachte moderne Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebt in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition, lehnt die Zwänge und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Die BF2 beabsichtigt, in Österreich eine Ausbildung zu machen um einer Arbeit nachzugehen zu können, sodass sie auch ihre berufliche Selbstständigkeit erlangen kann. Diese Einstellung steht im Widerspruch zu den nach den Länderfeststellungen im Herkunftsstaat bestehenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Auffassungen hinsichtlich Bewegungsfreiheit und Zugang zur Erwerbstätigkeit für Frauen.

Die BF2 erschien zur mündlichen Verhandlung modisch modern gekleidet, mit offenem Haar und dezent geschminkt. Sie ist intelligent, offen und selbstbewusst. Sie hat überzeugende Beispiele für ihre selbstbestimmte Lebensweise vorgebracht. Hierbei berücksichtigt das Gericht die Fürsorge für drei minderjährige Kinder in Österreich und das individuelle Bildungsniveau. Im Gespräch mit dem Richter kam deutlich hervor, dass die BF2 sich innerlich von den alten politisch und religiös geprägten Sitten des Heimatlandes abgewendet hat und die sogenannten europäischen, demokratischen Überzeugungen angenommen hat. Es ist eine grundlegende und verfestigte Änderung der Lebensführung, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme und die Ausübung ihrer Grundrechte als Frau zum Ausdruck kommt, zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden.

Sie hat in Österreich die Integrationskurse besucht und ist generell an Weiterbildung interessiert. Sie geht alleine einkaufen, wobei sie das Gefühl vermittelt, mit ihrem Ehemann alles zu besprechen, wobei beide zumindest auf derselben Ebene ihre Meinungen vertreten und sich gleichberechtigt arrangieren. Der BF1 unterstützt daher seine Frau in der Führung eines selbstbestimmten Lebens und tritt für eine Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Form, wie sie in Europa gelebt wird, ein.

Sie verfügt über einen gemischtgeschlechtlichen österreichischen Freundeskreis. In ihrer Freizeit geht sie schwimmen, ins Kino und trifft sich mit ihren Freunden. Sie würde in Österreich gerne als Köchin arbeiten, um frei zu sein und ein selbständiges Leben führen zu können. Sie vermittelt den Eindruck, zu verstehen, dass sie in Österreich im privaten Bereich ein freies Leben gestalten kann, das ihr in Afghanistan so nicht möglich wäre. Dieser Ansicht war auch die glaubwürdige Zeugin. Auch beabsichtigt die BF2, ihren Töchtern in der Führung eines selbstständigen Lebens ohne religiöse Zwänge zu unterstützen.

Die BF sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

1.2.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 (in der aktuellen Fassung vom 21.07.2020, bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler) zur Lage der Frauen in Afghanistan (Letzte Änderung: 22.4.2020):

Anmerkung: Ausführliche Informationen zur Lage der Frauen in Herat können der Analyse der Staatendokumentation vom 13.6.2019 entnommen werden (Abschnitt 6, abrufbar unter https://www.ecoi.net/en/file/local/2010507/AFGH_ANALYSE_Herat_2019_06_13.pdf).

Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (MPI 27.1.2004). Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 2.9.2019). Nach wie vor gilt Afghanistan als eines der weltweit gefährlichsten Länder für Frauen (REU 26.6.2018; vgl. AF 13.12.2017).

Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat (BFA 4.2018; vgl. AA 2.9.2019), können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit (AA 2.9.2019).

Seit dem Fall der Taliban wurden jedoch langsam Fortschritte in dieser Hinsicht erreicht, welche hauptsächlich in urbanen Zentren wie z.B. Herat-Stadt zu sehen sind. Das Stadt-Land-Gefälle und die Sicherheitslage sind zwei Faktoren, welche u.a. in Bezug auf Frauenrechte eine wichtige Rolle spielen. Einem leitenden Mitarbeiter einer in Herat tätigen Frauenrechtsorganisation zufolge kann die Lage der Frau innerhalb der Stadt nicht mit den Lebensbedingungen der Bewohnerinnen ländlicher Teile der Provinz verglichen werden. Daher muss die Lage von Frauen in Bezug auf das jeweilige Gebiet betrachtet werden. Die Lage der Frau stellt sich in ländlichen Gegenden, wo regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv sind und die Sicherheitslage volatil ist, anders dar als z.B. in Herat-Stadt (BFA 13.6.2019).

Die afghanische Regierung wird von den Vereinten Nationen (UN) als ehrlicher und engagierter Partner im Kampf gegen Gewalt an Frauen beschrieben (EASO 12.2017; vgl. BFA 4.2018, UNAMA/OHCHR 5.2018), der sich bemüht Gewalt gegen Frauen – beispielsweise Ermordung, Prügel, Verstümmelung, Kinderheirat und weitere schädliche Praktiken – zu kriminalisieren und Maßnahmen zur Rechenschaftspflicht festzulegen (UNAMA/OHCHR 5.2018). Wenngleich die afghanische Regierung Schritte unternommen hat, um das Wohl der Frauen zu verbessern und geschlechtsspezifische Gewalt zu eliminieren, bleibt die Situation für viele Frauen unverändert, speziell in jenen Regionen wo nach wie vor für Frauen nachteilige Traditionen fortbestehen (BFA 4.2018; vgl. UNAMA 24.12.2017).

Seit dem Fall der Taliban wurden mehrere legislative und institutionelle Fortschritte beim Schutz der Frauenrechte erzielt; als Beispiele wurden der bereits erwähnte Artikel 22 in der afghanischen Verfassung (2004) genannt, sowie auch Artikel 83 und 84, die Maßnahmen für die Teilnahme von Frauen im Ober- und Unterhaus des Parlamentes vorsehen (WILFPFA 7.2019). Die afghanische Regierung hat die erste Phase des nationalen Aktionsplans (NAP) zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 (aus dem Jahr 2000) des UN-Sicherheitsrates implementiert; dies führte zu einer stärkeren Vertretung von Frauen in öffentlichen Einrichtungen, wie z.B. dem Hohen Friedensrat. Unter anderem hat die afghanische Regierung das nationale Schwerpunktprogramm Women's Economic Empowerment gestartet. Um Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen zu bekämpfen, hat die Regierung in Afghanistan die Position eines stellvertretenden Generalstaatsanwalts geschaffen, der für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Kinder zuständig ist. Es wurden Kommissionen gegen Belästigung in allen Ministerien eingerichtet. Des Weiteren hat der Oberste Gerichtshof eine spezielle Abteilung geschaffen, um Fälle von Gewalt gegen Frauen zu überprüfen. Darüber hinaus waren in mehr als 20 Provinzen Sondergerichte zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen tätig (UNGA 3.4.2019). So hat die afghanische Regierung unter anderem, gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft verschiedene Projekte zur Reduzierung der Geschlechterungleichheit gestartet. Das „Gender Equality Project“ der Vereinten Nationen soll die afghanische Regierung bei der Förderung von Geschlechtergleichheit und Selbstermächtigung von Frauen unterstützen (Najimi 2018).

Im Zuge der Friedensverhandlungen (siehe Abschnitt Fehler: Verweis nicht gefunden) bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten (TN 31.5.2019; vgl. Taz 6.2.2019), die im Islam vorgesehen sind, wie zu Lernen, zu Studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass „im Namen der Frauenrechte“ Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden (Taz 6.2.2019). Die Taliban haben während ihres Regimes afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte – einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit – vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben (USAT 3.9.2019). Restriktive Einstellung und Gewalt gegenüber Frauen betreffen jedoch nicht nur Gegenden, welche unter Taliban-Herrschaft stehen, sondern hängen grundsätzlich mit der Tatsache zusammen, dass die afghanische Gesellschaft zum Großteil sehr konservativ ist. Gewalt gegenüber Frauen ist sehr oft auch innerhalb der Familien gebräuchlich. So kann bezüglich der Behandlung von Frauen insbesondere in ländlichen Gebieten grundsätzlich kein großer Unterschied zwischen den Taliban und der Bevölkerung verzeichnet werden. In den Städten hingegen ist die Situation ganz anders (BFA 13.6.2019).

Einem Bericht der AIHRC zufolge wurden für das Jahr 2017 4.340 Fälle von Gewalt gegen 2.286 Frauen registriert. Die Anzahl der gemeldeten Gewaltvorfälle und der Gewaltopfer steigt (AIHRC 11.3.2018), was an zunehmendem Bewusstsein und dem Willen der Frauen, sich bei Gewaltfällen an relevante Stellen zu wenden, liegt (PAJ 10.12.2018).

Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (AA 2.9.2019).

Bildung für Mädchen

Seit 2001 haben Millionen Mädchen, denen unter den Taliban die Bildung verwehrt wurde, Schulbildung erhalten (HRW 17.10.2017; vgl. KUR 17.12.2019). Die größten Probleme bei Bildung für Mädchen beinhalten Armut, frühe Heirat und Zwangsverheiratung, Unsicherheit, fehlende familiäre Unterstützung sowie Mangel an Lehrerinnen und nahegelegenen Schulen (USDOS 11.3.2020; vgl. UNICEF 27.5.2019). Aufgrund des anhaltenden Konflikts und der sich verschlechternden Sicherheitslage wurden bis Ende 2018 mehr als 1.000 Schulen geschlossen. UNICEF zufolge haben sich die Angriffe auf Schulen in Afghanistan zwischen 2017 und 2018 von 68 auf 192 erhöht und somit verdreifacht. Ein Grund für die Zunahme von Angriffen auf Schulen ist, dass Schulen als Wählerregistrierungs- und Wahlzentren für die Parlamentswahlen 2018 genutzt wurden (UNICEF 27.5.2019). Von den rund 5.000 Örtlichkeiten, die als Wahlzentren dienten, waren etwa 50% Schulen (UNICEF 2019).

Schätzungen zufolge, sind etwa 3,7 Millionen Kinder im Alter von 7 bis 17 Jahren, also fast die Hälfte aller schulpflichtigen Kinder, nicht in der Schule – Mädchen machen dabei 60% aus (UNICEF 27.5.2019), in manchen abgelegenen Gegenden sogar 85% (UNICEF 2019). 2018 ist diese Zahl zum ersten Mal seit dem Jahr 2002 wieder gestiegen (UNICEF 27.5.2019). Geschlechternormen führen dazu, dass die Ausbildung der Buben in vielen Familien gegenüber der Ausbildung der Mädchen prioritär gesehen wird, bzw. dass die Ausbildung der Mädchen als unerwünscht gilt oder nur für einige Jahre vor der Pubertät als akzeptabel gesehen wird (HRW 17.10.2017).

Jedoch sind auch hier landesweit Unterschiede festzustellen (BBW 28.8.2019): Beispielsweise waren Mädchen unter der Taliban-Herrschaft auf Heim und Haus beschränkt – speziell in ländlichen Gegenden wie jene in Bamyan. Eine Quelle berichtet von einer Schule in Bamyan, die vor allem von Mädchen besucht wird. Dort werden Mädchen von den Eltern beim Schulbesuch manchmal den Buben vorgezogen, da die Buben bei der Feldarbeit oder im Elternhaus aushelfen müssen. In besagtem Fall existieren sogar gemischte Klassen (NYT 27.6.2019). Aufgrund der Geschlechtertrennung darf es eigentlich keine gemischten Klassen geben. In ländlichen Gebieten kommt es oft vor, dass Mädchen nach der vierten oder fünften Klasse die Schule abbrechen müssen, weil die Zahl der Schülerinnen zu gering ist. Grund für das Abnehmen der Anzahl an Schülerinnen ist u.a. die schlechte Sicherheitslage in einigen Distrikten. Statistiken des afghanischen Bildungsministeriums zufolge war Herat mit Stand November 2018 beispielsweise die einzige Provinz in Afghanistan, wo die Schulbesuchsrate der Mädchen höher war (53%) als die der Burschen (47%). Ein leitender Mitarbeiter einer u.a. im Westen Afghanistans tätigen NGO erklärt die höhere Schulbesuchsrate damit, dass in der konservativen afghanischen Gesellschaft, wo die Bewegungsfreiheit der Frau außerhalb des Hauses beschränkt bleibt, Mädchen zumindest durch den Schulbesuch die Möglichkeit haben, ein Sozialleben zu führen und das Haus zu verlassen. Aber auch in einer Provinz wie Herat missbilligen traditionelle Dorfälteste und konservative Gemeinschaften in manchen Distrikten den Schulbesuch von Mädchen. So kommt es manchmal vor, dass in bestimmten Gebäuden Unterrichtsschichten für Mädchen eingerichtet sind, die von den Schülerinnen jedoch nicht besucht werden (BFA 13.6.2019).

Auch wenn die Führungselite der Taliban erklärt hat, dass Schulen kein Angriffsziel mehr seien (LI 16.5.2018), kam es zu Angriffen auf Mädchenschulen, sowie Schülerinnen und Lehrerinnen durch die Taliban und andere bewaffnete Gruppen (NYT 21.5.2019; UNAMA 24.4.2019; PAJ 16.4.2019; PAJ 15.4.2019; UNAMA 24.2.2019; PAJ 31.1.2019; HRW 17.10.2017). Solche Angriffe zerstören nicht nur wertvolle Infrastruktur, sondern schrecken auch langanhaltend eine große Zahl von Eltern ab, ihre Töchter zur Schule zu schicken (HRW 17.10.2017). Vertreter der Provinzregierung und Dorfälteste legten nach Vorfällen in der Provinz Farah nahe, dass Angriffe auf Mädchenschulen eine Spaltung innerhalb der Taliban offenbaren: Während viele Zivilbehörden der Taliban eine Ausbildung für Mädchen tolerieren, lehnen manche Militärkommandanten dies ab (NYT 21.5.2019). Mittlerweile ist nicht mehr die Schließung von Schulen (wie es während der gewalttätigen Kampagne in den Jahren 2006-2008 der Fall war) Ziel der Aufständischen, sondern vielmehr die Erlangung der Kontrolle über diese. Die Kontrolle wird durch Vereinbarungen mit den jeweiligen örtlichen Regierungsstellen ausgehandelt und beinhaltet eine regelmäßige Inspektion der Schulen durch die Taliban (AREU 1.2016).

Landesweit waren im Jahr 2016 182.344 Studenten an 36 staatlichen (öffentlichen) Universitäten eingeschrieben, davon waren 41.041 (AF 13.2.2019; vgl. WB 6.11.2018), also nur 22,5%, weiblich. Der Zugang zu öffentlicher Hochschulbildung ist wettbewerbsintensiv: Studenten müssen eine öffentliche Aufnahmeprüfung – Kankor – ablegen. Für diese Prüfung gibt es Vorbereitungskurse, mit den Schwerpunkten Mathematik und Naturwissenschaften, die oft kostspielig sind und in der Regel außerhalb der Schulen angeboten werden. Unter den konservativen kulturellen Normen, die die Mobilität von Frauen in Afghanistan einschränken, können Studentinnen in der Regel nicht an diesen Kursen teilnehmen und afghanische Familien ziehen es oft vor, in die Ausbildung ihrer Söhne zu investieren, sodass den Töchtern die Ressourcen für eine Ausbildung fehlen (AF 13.2.2019).

Um diese Aufnahmeprüfung zu bestehen, werden Bewerberinnen von unterschiedlichen Stellen unterstützt. Eine Hilfsorganisation hat beispielsweise bislang Vorbereitungsmaterialien und -aktivitäten für 70.000 Studentinnen zur Verfügung gestellt. Auch wurden Aktivitäten direkt in den Unterricht an den Schulen integriert, um der mangelnden Bereitschaft von Eltern, ihre Töchter in Privatkurse zu schicken, zu entgegnen (AF 13.2.2019).

Die Anzahl weiblicher Studierender hat sich an öffentlichen Universitäten in Afghanistan aus unterschiedlichen Gründen seit 2015 erhöht.

Beispielsweise wurden im Rahmen von Initiativen des Ministeriums für höhere Bildung sichere Transportmöglichkeiten für Studenten zu und von den Universitäten zur Verfügung gestellt. Etwa 1.000 Studentinnen konnten dieses Service in den Provinzen Herat, Jawzjan, Kabul, Kunar und Kunduz genießen. Das sind jene Provinzen, in denen sichere und verlässliche Transportmöglichkeiten, aufgrund fehlender öffentlicher Verkehrsmittel und der Sicherheitslage dringend benötigt werden. Auch sollen mehr studentische Wohnmöglichkeiten für Frauen an Universitäten zur Verfügung gestellt werden; das Ministerium für höhere Bildung plant, an fünf Universitäten Studentenwohnheime zu errichten. In zwei Provinzen – Bamyan und Kunar – sollen sie im Jahr 2019 fertiggestellt werden. Das Ministerium für höhere Bildung unterstützt Frauen auch finanziell. Zum einen haben im Jahr 2018 100 Frauen Stipendien erhalten, des weiteren wurden 41 Frauen zum Studieren ins Ausland entsandt und 65 weitere werden ihren Masterabschluss 2018 mithilfe des Higher Education Development Programms erreichen (WB 6.11.2018). Beispielsweise gibt es mittlerweile die erste (und einzige) Frau Afghanistans, die einen Doktor in Spielfilmregie und Drehbuch hat – diesen hat sie an einer Akademie in Bratislava abgeschlossen (RY 16.5.2019).

Im Mai 2016 eröffnete in Kabul der Moraa Educational Complex, die erste Privatuniversität für Frauen in Afghanistan mit einer Kapazität von 960 Studentinnen (MED o.D.). Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für „Frauen- und Genderstudies“ (KP 18.10.2015; vgl. EN 25.10.2018; Najimi 2018). Die ersten Absolventinnen und Absolventen haben bereits im Jahr 2017 das Studium abgeschlossen (UNDP 7.11.2017).

Anmerkung: Weitergehende Informationen zum Bildungswesen in Afghanistan können dem Abschnitt „Schulbildung in Afghanistan“ im Unterkapitel 17.2 Kinder entnommen werden.

Berufstätigkeit von Frauen

Das Gesetz sieht die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, sagt jedoch nichts zu gleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit. Das Gesetz untersagt Eingriffe in das Recht von Frauen auf Arbeit; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 11.3.2020). Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 2.9.2019; vgl. BBW 28.8.2019). Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und viele Frauen gehen aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (BFA 4.2018). In den meisten Teilen Afghanistans ist es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden sollten (BBC 6.9.2019).

Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich auf 27% erhöht (UNGA 3.4.2019). Für das Jahr2018 wurde der Anteil der Frauen an der Erwerbsbevölkerung von der Weltbank mit 35,7% angegeben (WB 4.2019). Bemühungen der afghanischen Regierung, Schlüsselpositionen mit Frauen zu besetzen und damit deren Präsenz zu erhöhen, halten weiter an (KP 24.3.2019). So ist die afghanische Regierung seit dem Jahr 2014 bemüht, den Anteil von Frauen in der Regierung von 22% auf 30% zu erhöhen (USAID 24.7.2019). Frauen besetzen innerhalb der afghanischen Regierung und Spitzenverwaltung beispielsweise folgende Positionen: 11 stellvertretende Ministerinnen, 3 Ministerinnen und 5 Botschafterinnen. Nicht alle erachten diese Veränderungen als positiv – manche suggerieren, Präsident Ghanis Ernennungen seien symbolisch und die Kandidatinnen unerfahren oder dass ihnen die notwendigen Kompetenzen fehlen würden (RFE/RL 6.12.2018). Im Rahmen einer Ausbildung für Beamte des öffentlichen Dienstes sollen Frauen mit den notwendigen Kompetenzen und Fähigkeiten ausgestattet werden, um ihren Dienst in der afghanischen Verwaltung erfolgreich antreten zu können. Ab dem Jahr 2015 und bis 2020 sollen mehr als 3.000 Frauen in einem einjährigen Programm für ihren Posten in der Verwaltung ausgebildet werden. Mit Stand Juli 2019 haben 2.800 Frauen das Programm absolviert. 900 neue Mitarbeiterinnen sind in Kabul, Balkh, Kandahar, Herat und Nangarhar in den Dienst aufgenommen worden (USAID 24.7.2019). Viele Frauen werden von der Familie unter Druck gesetzt, nicht arbeiten zu gehen (USDOS 11.3.2020); traditionell wird der Mann als Ernährer der Familie betrachtet, während Frauen Tätigkeiten im Haushalt verrichten. Dies bedeutet für die Frauen eine gewisse Sicherheit, macht sie allerdings auch wirtschaftlich abhängig – was insbesondere bei einem Partnerverlust zum Problem wird (Najimi 2018). Auch werden bei der Anstellung Männer bevorzugt. Es ist schwieriger für ältere und verheiratete Frauen, Arbeit zu finden, als für junge alleinstehende. Berufstätige Frauen berichten über Beleidigungen, sexuelle Belästigung, fehlende Fahrgelegenheiten und fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch wird von Diskriminierung beim Gehalt berichtet (USDOS 11.3.2020).

Die First MicroFinance Bank (FMFB-A), eine Tochter der Aga Khan Agency for Microfinance, bietet Finanzdienstleistungen und Mikrokredite primär für Frauen (BFA 4.2018; vgl. FMFB o.D.a) und hat 39 Niederlassungen in 14 Provinzen (FMFB o.D.b).

Politische Partizipation und Öffentlichkeit

Die politische Partizipation von Frauen ist in ihren Grundstrukturen rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; von diesem Drittel des Oberhauses sind gemäß Verfassung 50% für Frauen bestimmt. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert (AA 2.9.2019; vgl. USDOS 11.3.2020).

Bei den Wahlen zum Unterhaus (Wolesi Jirga) im Oktober 2018 traten landesweit 417 Kandidatinnen an (MBZ 7.3.2019); insgesamt vertreten 79 Frauen 33 Provinzen (AAN 17.5.2019). Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von mindestens 25% in den Provinz- (AA 2.9.2019), Distrikt- und Dorfräten vor. Bis zum Ende des Jahres 2019 war dies in keinem Distrikt- oder Dorfrat der Fall (USDOS 13.3.2019). Zudem sind mindestens zwei von sieben Sitzen in der Unabhängigen Wahlkommission (Independent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die afghanische Regierung veröffentlichte im Jänner 2018 einen Strategieplan zur Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst um 2 % für das Jahr 2019 (AA 2.9.2019).

Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme von Frauen in der Politik und bei Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft ein; wie z.B. die Notwendigkeit eines männlichen Begleiters oder einer Erlaubnis um zu arbeiten. Frauen, die politisch aktiv sind, sind auch weiterhin mit Gewalt konfrontiert und Angriffsziele der Taliban und anderer Aufständischengruppen. Dies, gemeinsam mit einem Rückstand an Bildung und Erfahrung, führt dazu, dass die Zentralregierung männlich dominiert ist (USDOS 11.3.2020).

Frauen sind nur selten in laufende Friedensverhandlungen integriert. Die Verhandlungen in Moskau im Februar 2019 waren eine Ausnahme, als zwei Frauen als Mitglieder der inoffiziellen Regierungsdelegation mit den Taliban verhandelten (TD 27.5.2019). Bei der Loya Jirga im Mai 2019 waren 30% der Delegierten Frauen. Einige von ihnen gaben jedoch an, dass sie ignoriert, marginalisiert und bevormundet wurden (NYT 3.5.2019).

Beispiele für Frauen außerhalb der Politik, die in der Öffentlichkeit stehen, sind die folgenden: In der Provinz Kunduz existiert ein Radiosender – Radio Roshani – nur für Frauen. In der Vergangenheit wurde sowohl die Produzentin bzw. Gründerin mehrmals von den Taliban bedroht, als auch der Radiosender selbst angegriffen. Durch das Radio werden Frauen über ihre Rechte informiert; Frauen können während der Sendung Fragen zu Frauenrechten stellen. Eines der häufigsten Probleme von Frauen in Kunduz sind gemäß einem Bericht Probleme in polygamen Ehen (BBC 6.9.2019). Zan TV, der einizige afghanische Sender nur für Frauen, wurde im Jahr 2017 gegründet. Bei Zan-TV werden Frauen ausgebildet, um alle Jobs im Journalismusbereich auszuüben. Der Gründer des TV-Senders sagt, dass sein Ziel eine zu 80-85% weibliche Belegschaft ist; denn Männer werden auch benötigt, um zu zeigen, dass eine Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen möglich ist. Wie andere Journalistinnen und Journalisten, werden auch die Damen von Zan-TV bedroht und beleidigt (BBC 19.4.2019).

Anmerkung: Informationen zu Frauen in NGOs, den Medien und den afghanischen Sicherheitskräften können den Kapiteln 7. „NGOs und Menschenrechtsaktivisten“, 10. „Meinungs- und Pressefreiheit“ und 4. „Sicherheitsbehörden“ entnommen werden.

Strafverfolgung und rechtliche Unterstützung

Der Großteil der gemeldeten Fälle von Gewalt an Frauen stammt aus häuslicher Gewalt (USDOD 6.2019). Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Shura/Schura und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden aufgefordert, den „Familienfrieden“ durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (AA 2.9.2019). Für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, werden in einigen Fällen vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und nicht-staatlichen Akteuren Ehen arrangiert (USDOS 11.3.2020). Um Frauen und Kinder, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, zu unterstützen, hat das Innenministerium (MoI) im Jahr 2014 landesweit Family Response Units (FRU) eingerichtet. Manche dieser FRUs sind mit Fachleuten wie Psychologen und Sozialarbeitern besetzt, welche die Opfer befragen und aufklären und ihre physische sowie psychische medizinische Behandlung überwachen. Ziel des MoI ist es, für alle FRUs eine weibliche Leiterin, eine zusätzliche weibliche Polizistin sowie einen Sicherheitsmann bereitzustellen (USDOD 6.2019). Einige FRUs haben keinen permanent zugewiesenen männlichen Polizisten und es gibt Verzögerungen bei der Besetzung der Dienstposten in den FRUs (USDOD 12.2018). Gesellschaftlicher Widerstand erschwert es den FRUs Verbrechen geschlechtsspezifischer Gewalt, Zwangsheirat und Menschenhandel anzuzeigen (USDOD 12.2019). Stand 2017 gab es landesweit 208 FRUs (USDOD 12.2017).

Die afghanische Regierung hat anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein Problem ist und eliminiert werden muss. Das soll mit Mitteln der Rechtsstaatlichkeit und angemessenen Vollzugsmechanismen geschehen. Zu diesen zählen das in Afghanistan eingeführte EVAW-Gesetz zur Eliminierung von Gewalt an Frauen, die Errichtung der EVAW-Kommission auf nationaler und lokaler Ebene und die EVAW-Strafverfolgungseinheiten. Auch wurden Schutzzentren für Frauen errichtet (BFA 4.2018; vgl. TD 4.12.2017).

EVAW-Gesetz und neues Strafgesetzbuch

Das Law on Elimination of Violence against Women (EVAW-Gesetz) wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt an Frauen und beinhaltet auch die weit verbreitete häusliche Gewalt (AA 2.9.2019). Das für afghanische Verhältnisse progressive Gesetz beinhaltet eine weite Definition von Gewaltverbrechen gegen Frauen, darunter auch Belästigung, und behandelt erstmals in der Rechtsgeschichte Afghanistans auch Früh- und Zwangsheiraten sowie Polygamie (AAN 29.5.2018). Das EVAW-Gesetz wurde im Jahr 2018 im Zuge eines Präsdialdekrets erweitert und kriminalisiert 22 Taten als Gewalt gegen Frauen. Dazu zählen: Vergewaltigung; Körperverletzung oder Prügel, Zwangsheirat, Erniedrigung, Einschüchterung, und Entzug von Erbschaft. Das neue Strafgesetzbuch kriminalisiert sowohl die Vergewaltigung von Frauen als auch Männern – das Gesetz sieht dabei eine Mindeststrafe von 5 bis 16 Jahren für Vergewaltigung vor, bis zu 20 Jahren oder mehr, wenn erschwerende Umstände vorliegen. Sollte die Tat zum Tod des Opfers führen, so ist für den Täter die Todesstrafe vorgesehen. Im neuen Strafgesetzbuch wird explizit die Vergewaltigung Minderjähriger kriminalisiert, auch wird damit erstmals die strafrechtliche Verfolgung von Vergewaltigungsopfern wegen Zina (Sex außerhalb der Ehe) verboten (USDOS 11.3.2020).

Unter dem EVAW-Gesetz muss der Staat Verbrechen untersuchen und verfolgen – auch dann, wenn die Frau die Beschwerde nicht einreichen kann bzw. diese zurückzieht. Dieselben Taten werden auch im neuen afghanischen Strafgesetzbuch kriminalisiert (UNAMA/OHCHR 5.2018; vgl. AAN 29.5.2018). Das Gesetz sieht außerdem die Möglichkeit von Entschädigungszahlungen für die Opfer vor (AI 28.8.2019).

Die Behörden setzen diese Gesetze nicht immer vollständig durch; obwohl die Regierung gewisse Angelegenheiten, die unter EVAW fallen, auch über die EVAW-Strafverfolgungseinheiten umsetzt Einem UN-Bericht zufolge, dem eine eineinhalbjährige Studie (8.2015-12.2017) mit 1.826 Personen (Mediatoren, Repräsentanten von EVAW-Institutionen) vorausgegangen war, werden Ehrenmorde und andere schwere Straftaten von EVAW-Institutionen und NGOs oftmals an Mediationen oder andere traditionelle Schlichtungssysteme verwiesen (UNAMA/OHCHR 5.2018; vgl. AAN 29.5.2018).

Frauenhäuser

Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigungen oder Zwangsehen sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft (mit-)ursächlich für die Notlage ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre (AA 2.9.2019). Nichtregierungsorganisationen in Afghanistan betreiben etwa 40 Frauenhäuser, Rechtsschutzbüros und andere Einrichtungen für Frauen, die vor Gewalt fliehen. Fast alle Einrichtungen sind auf Spenden internationaler Institutionen angewiesen – diese Einrichtungen werden zwar im Einklang mit dem afghanischen Gesetz betrieben, stehen aber im Widerspruch zur patriarchalen Kultur in Afghanistan (NYT 17.3.2018).

Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für „unmoralische Handlungen“ und die Frauen in Wahrheit Prostituierte. Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden. Für Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (AA 2.9.2019). Oftmals versuchen Väter, ihre Töchter aus den Frauenhäusern zu holen und sie in Beziehungen zurückzudrängen, aus denen sie geflohen sind, oder Ehen mit älteren Männern oder den Vergewaltigern zu arrangieren (NYT 17.3.2018).

Nach UN-Angaben aus dem Jahr 2017 werden neben den Frauenhäusern auch 17 Family Guidance Centers (FGCs) von zivilgesellschaftlichen Organisationen betrieben, wo Frauen bis zu einer Woche unterkommen können, bis eine längerfristige Lösung gefunden wurde oder sie nach Hause zurückkehren. Frauen aus ländlichen Gebieten ist es logistisch allerdings nur selten möglich, eigenständig ein Frauenhaus oder FGC zu erreichen (AA 2.9.2019).

Die EVAW-Institutionen und andere Einrichtungen, die Gewaltmeldungen annehmen und für die Schlichtung zuständig sind, bringen die Gewaltopfer während des Verfahrens oft in Schutzhäuser (z.B. Frauenhäuser), nachdem die Familie und das Opfer konsultiert wurden (UNAMA/OHCHR 5.2018). Es gibt in allen 34 Provinzen EVAW-Ermittlungseinrichtungen und in mindestens 22 Provinzen EVAW-Gerichtsabteilungen an den Haupt- und den Berufungsgerichten (USDOS 11.3.2020).

In einigen Fällen werden Frauen in Schutzhaft genommen, um sie vor Gewalt seitens ihrer Familienmitglieder zu beschützen. Wenn die Unterbringung in Frauenhäusern nicht möglich ist, werden von häuslicher Gewalt betroffene Frauen auch in Gefängnisse gebracht, um sie gegen weitere Missbräuche zu schützen. Die 28 Schutzzentren für Frauen sind insbesondere in den Großstädten manchmal überlastet und die Notunterkünfte sind im Westen, Zentrum und Norden des Landes konzentriert (USDOS 11.3.2020).

Auch arrangiert das Ministerium für Frauenangelegenheiten Ehen für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können. In manchen Fällen werden Frauen inhaftiert, wenn sie Verbrechen, die gegen sie begangen wurden, anzeigen. Manchmal werden Frauen stellvertretend für verurteilte männliche Verwandte inhaftiert, um den Delinquenten unter Druck zu setzen, sich den Behörden zu stellen (USDOS 11.3.2020).

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet und kaum dokumentiert (AA 2.9.2019; vgl. AI 30.1.2020). Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord (AA 2.9.2019). Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt (BFA 3.7.2014) und kommen auch weiterhin vor (USDOS 11.3.2020). Afghanische Expertinnen und Experten sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden (KP 23.3.2016; vgl. UNAMA 5.2018).

Zwangsheirat und Verheiratung von Mädchen unter 16 Jahren sind noch weit verbreitet (AA 2.9.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, MBZ 7.3.2019, 20 minutes 28.11.2018). Die Datenlage hierzu ist sehr schlecht (AA 2.9.2019). Als Mindestalter für Vermählungen definiert das Zivilgesetz Afghanistans für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 2.9.2019). Dem Gesetz zufolge muss vor der Eheschließung nachgewiesen werden, dass die Braut das gesetzliche Alter für die Eheschließung erreicht, jedoch besitzt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Geburtsurkunden (USDOS 11.3.2020). In der Praxis wird das Alter, in dem Buben und Mädchen heiraten können, auf der Grundlage der Pubertät festgelegt. Das verhindert, dass Mädchen vor dem Alter von fünfzehn Jahren heiraten. Aufgrund der fehlenden Registrierung von Ehen wird die Ehe von Kindern kaum überwacht (MBZ 7.3.2019). Auch haben Mädchen, die nicht zur Schule gehen, ein erhöhtes Risiko, verheiratet zu werden (MBZ 7.3.2019). Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; jedoch ist die Durchsetzung dieses Gesetzes limitiert (USDOS 11.3.2020). Nach Untersuchungen von UNICEF und dem afghanischen Ministerium für Arbeit und Soziales wurde in den letzten fünf Jahren die Anzahl der Kinderehen um 10% reduziert. Die Zahl ist jedoch weiterhin hoch: In 42% der Haushalte ist mindestens ein Kind unter 18 Jahren verheiratet (MBZ 7.3.2019).

Mahr, eine Art Morgengabe, deren Ursprung sich im Koran findet. Es handelt sich um einen Geldbetrag, den der Bräutigam der Braut geben muss. Dies ist in Afghanistan weit verbreitet (MoLSAMD/UNICEF 7.2018), insbesondere im ländlichen Raum (WAW o.D.) und sollte nicht mit dem Brautpreis (Walwar auf Pashto und Toyana/Sherbaha auf Dari) verwechselt werden. Der Brautpreis ist eine Zahlung, die an den Vater der Braut ergeht, während Mahr ein finanzielles Versprechen des Bräutigams an seine Frau ist. Dem islamischem Recht (Sharia) zufolge haben Frauen, die einen Ehevertrag abschließen, einen Anspruch auf Mahr, damit sie und ihre Kinder im Falle einer Scheidung oder Tod des Ehegatten (finanziell) abgesichert sind. Der hanafitischen Rechtsprechung zufolge darf eine Frau die Mahr nach eigenem Ermessen nutzen – das heißt, sie kann diese auch zurückgeben oder mit ihrem Mann oder ihrer Großfamilie teilen. Befragungen in Gemeinschaften zufolge wird die Mahr fast nie so umgesetzt, wie dies in der islamischen Rechtsprechung vorgeschrieben ist – selbst dann, wenn die betroffenen Personen das Heiratsgesetz, in dem die Mahr festgehalten ist, kennen (AAN 25.10.2016). Entgegen dem islamischen Recht erhält in der Regel nicht die Braut, sondern ihre Familie das Geld. Familien mit geringem Einkommen neigen daher dazu, ihre Töchter bereits in jungen Jahren zu verheiraten, da die Morgengabe für jüngere Mädchen in der Regel höher ist (MoLSAMD/UNICEF 7.2018). Oft sind die Männer deutlich älter und haben schon andere Ehefrauen (WAW o.D.).

Die Praktiken des Badal und Ba‘ad/Swara, bei denen Bräute zwischen Familien getauscht werden, sind stark von den wirtschaftlichen Bedingungen getrieben und tief mit den sozialen Traditionen verwurzelt (MoLSAMD/UNICEF 7.2018). Badal ist gesetzlich nicht verboten und weit verbreitet (USDOS 13.3.2019; vgl. WAW o.D.). Durch einen Brauttausch im Sinne von Badal sollen hohe Kosten für beide Familien niedrig gehalten werden (MoLSAMD/UNICEF 7.2018).

Die Praxis des Ba‘ad bzw. Swara ist in Afghanistan gesetzlich verboten, jedoch in ländlichen Regionen – vorwiegend in paschtunischen Gebieten - weit verbreitet. Dabei übergibt eine Familie zur Streitbeilegung ein weibliches Familienmitglied als Braut oder Dienerin an eine andere Familie. Das Alter der Frau spielt keine Rolle, es kann sich dabei auch um ein Kleinkind handeln (TRT 17.5.2019; vgl. USDOS 13.3.2019, EASO 12.2017). Wenn die Familie oder eine Jirga diese Entscheidung trifft, müssen sich die betroffenen Frauen oder Mädchen fügen (EASO 12.2017).

Familienplanung und Verhütung

Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22% (überwiegend in den Städten und gebildeteren Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten (AA 2.9.2019; vgl. UNPF 17.7.2018, HPI 22.10.2016). Dem Afghanistan Demographic and Health Survey zufolge würden etwa 25% aller Frauen gerne Familienplanung betreiben (UNPF 17.7.2018). Dem Strafgesetzbuch zufolge, ist das Verteilen von Kondomen zulässig, jedoch beschränkte die Regierung die Verbreitung nur auf verheiratete Paare (USDOS 11.3.2020).

Das Gesundheitsministerium bietet Sensibilisierungsmaßnahmen u.a. für Frauen und verteilt Arzneimittel (Pille). In Herat-Stadt und den umliegenden Distrikten steigt die Zustimmung dafür und es gibt Frauen, welche die Pille verwenden; in den ländlichen Gebieten hingegen stoßen solche Maßnahmen meistens auf Unverständnis und werden nicht akzeptiert. Internationale NGOs und das Gesundheitsministerium bieten hauptsächlich in den Geburtenabteilungen der Krankenhäuser Aufklärungskampagnen durch Familienplanungsberater an (BFA 13.6.2019).

Ein von den US-Amerikanern initiiertes Programm, USAID’s Helping Mothers and Children Thrive (HEMAYAT), zielt darauf ab, den Zugang und die Verwendung von Verhütungsmitteln, Mütter-, Neugeborenen- und Kindergesundheitsdienstleistungen zu erhöhen. Ein weiteres Ziel ist das Zuweisungssystem auf Provinzebene zu verbessern. Allein durch die Ausbildung und die Bereitstellung von Ausrüstung konnten 25 Hebammenzentren in den Provinzen Balkh, Herat und Kandahar etabliert werden. Auch wurden SMS-Nachrichten über Familienplanung an einen Mo

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten