Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei I***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Katharina Bleckmann, Rechtsanwältin in Salzburg, gegen die beklagte Partei A*****, vertreten durch Dr. Kurt Kozak, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen 8.817,12 EUR sA, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Berufungsgericht vom 9. September 2020, GZ 22 R 164/20a-45, womit das Urteil des Bezirksgerichts Salzburg vom 15. Juni 2020, GZ 26 C 234/19v-41, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Urteil insgesamt lautet:
„Das Klagebegehren, die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei 8.817,12 EUR samt 4 % Zinsen seit 18. 3. 2019 binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu zahlen, wird abgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 13.095,30 EUR bestimmten Kosten des Verfahrens (darin enthalten 6.332 EUR Barauslagen und 1.103,22 EUR USt) binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu Handen des Beklagtenvertreters zu ersetzen.“
Text
Entscheidungsgründe:
[1] Die Klägerin schloss am 26. 4. 2018 mit dem Beklagten, der ein Autoentsorgungsunternehmen betreibt, einen „Internet-System-Vertrag“ mit einer Laufzeit von 48 Monaten. Darin verpflichtete sich die Klägerin zur Erstellung einer Website samt Suchmaschinenoptimierung und Zusatzleistungen (Responsive Webdesign, Facebook Fanpage, Google my Business, Online Redaktion etc) sowie dazu, dem Beklagten diesen Systemumfang während der Vertragslaufzeit zur Verfügung zu halten. Als Entgelt wurde ein pauschales Entgelt vereinbart, das im ersten Vertragsjahr 270 EUR netto monatlich und für die weitere Vertragslaufzeit 299 EUR netto monatlich betrug. Im Jänner 2019 stellte der Beklagte die Zahlungen ein. Mit der am 8. 3. 2019 eingebrachten Klage erklärte die Klägerin deswegen die vorzeitige Vertragsauflösung aus wichtigem Grund.
[2] Nach den unbekämpft gebliebenen Feststellungen beträgt der gemeine Wert der von der Klägerin laut Vertrag zu erbringenden Leistungen insgesamt – bis zum Ende der Vertragslaufzeit – 6.752,11 EUR brutto. Dem steht ein laut Vertrag vom Beklagten zu leistendes Entgelt in Höhe von insgesamt 16.804 EUR brutto für die gesamte Vertragslaufzeit ([270 EUR netto x 12 Monate] + [299 EUR netto x 36 Monate] zuzüglich 20 % USt) gegenüber.
[3] Die Klägerin begehrt nach vorzeitiger Aufkündigung des Vertrags das für die restliche Vertragslaufzeit vereinbarte und noch ausstehende Entgelt in Höhe von 8.817,12 EUR sA (wobei sie als Eigenersparnis 35 % in Abzug gebracht hat). Sie bringt zusammengefasst vor, der vereinbarte Werklohn sei auf gleich hohe Monatsraten in der Vertragslaufzeit aufgeteilt gewesen. Obwohl sie alle Leistungen vertragsgemäß erbracht habe, habe der Beklagte die Zahlungen nach zehnmonatiger Vertragsdauer grundlos eingestellt.
[4] Der Beklagte wendet Irreführung und Verkürzung über die Hälfte ein. Soweit für das Revisionsverfahren noch wesentlich bringt er vor, das versprochene Entgelt sei um mehr als die Hälfte überhöht. Mit den bis zur Vertragsauflösung getätigten Zahlungen sei die Klägerin bei weitem schad- und klaglos gestellt. Der Klageforderung werde compensando Schadenersatz wegen entgangenen Gewinns eingewendet. Dadurch, dass die Klägerin die Website vor Aufkündigung des Vertrags offline geschaltet habe, sei es zu Auftragsrückgängen gekommen.
[5] Das Erstgericht sprach aus, dass das Klagebegehren mit 8.817,12 EUR zu Recht bestehe und die Kompensandoforderung der Beklagten nicht zu Recht bestehe, weshalb dem Klagebegehren stattgegeben wurde.
[6] Es stellte über die eingangs wiedergegebenen Feststellungen hinaus – soweit für das Revisionsverfahren noch wesentlich – fest, dass die Klägerin bis zur vorzeitigen Aufkündigung des Vertrags die vereinbarten Leistungen vertragsgemäß und vollständig erfüllt hatte. Ausgenommen ist lediglich die Zusatzleistung „Responsive Webdesign“, die nur teils erbracht wurde, für die für den Beklagten aber kein gesonderter Kostenaufwand anfiel. Der Beklagte erhob hinsichtlich keiner der von der Klägerin erbrachten Leistungen Mängelrüge. Er entrichtete an Entgelt insgesamt zehn Monatsraten (á 324 EUR brutto). Nach Zahlungseinstellung nahm die Klägerin am 4. Februar 2019 die Website offline. Nach Begleichung der rückständigen Raten stellte sie sie am 19. 2. 2019 wieder online. Der Beklagte zahlte dennoch keine weiteren Monatsraten und zog die Domain am 1. 3. 2019 ab. Welcher Gewinnentgang ihm im Zeitraum der Offline-Schaltung entstanden ist, kann nicht festgestellt werden. Nach Abzug der Domain ließ der Beklagte von einem Dritten eine Website um 800 EUR erstellen, die kostenlos gehostet wird. Zusätzlich bedient er sich wieder des Dienstes „Google Adwords“.
[7] Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, dass beide Parteien als Unternehmer ein unternehmensbezogenes Rechtsgeschäft abgeschlossen hätten. Der „Internet-System-Vertrag“ stelle einen gemischten Vertrag dar, der Leistungen erfasse, die teils den Charakter von Werkleistungen und teils von Dienstleistungen hätten. Die Voraussetzungen für eine Vertragsanfechtung wegen listiger Irreführung lägen nicht vor. Eine Anfechtung des Vertrags wegen Verkürzung über die Hälfte komme nicht in Betracht, weil die nach dem Wortlaut des § 934 ABGB erforderliche vollständige Leistungserfüllung mangels Zahlung aller Raten nicht vorliege. Zudem sei der Einwand der Verkürzung über die Hälfte in Anbetracht der Unternehmereigenschaft des Beklagten (mangels Erhebung einer Mängelrüge) verfristet. Da sich aus den dem Vertrag zugrunde liegenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen die Vorleistungspflicht des Beklagten ergebe, sei die Klägerin berechtigt gewesen, vorerst die Website offline zu schalten und – infolge des Zahlungsverzugs – den Vertrag aus wichtigem Grund vorzeitig zu kündigen. Die Gegenforderung bestehe nicht zu Recht.
[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten nicht Folge. Da der Beklagte der ihn treffenden Rügeobliegenheit nicht nachgekommen sei, sei er von der Erhebung des Einwands der Vertragsanfechtung wegen Verkürzung über die Hälfte ausgeschlossen. Bei Bedenken gegen das Preis-/Leistungsverhältnis wäre ihm zumutbar gewesen, Erkundigungen darüber einzuholen und allenfalls einen Sachverständigen beizuziehen.
[9] Das Berufungsgericht ließ die Revision zu der Frage zu, ob sich der Käufer bei Unterlassung einer rechtzeitigen Mängelrüge auf Verletzung über die Hälfte berufen könne, wenn der Kaufgegenstand mit einem anfänglichen Mangel (Minderwert) behaftet sei, der Mangel bei der Ermittlung der Wertverhältnisse berücksichtigt werde und dies zu einer Verletzung über die Hälfte führe.
[10] Die Revision des Beklagten ist zulässig und im Sinn der beantragten Klageabweisung auch berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[11] Der Revisionswerber macht im Wesentlichen geltend, der Wert der vereinbarten Leistung sei bereits von Anfang an um mehr als die Hälfte geringer als das vereinbarte Entgelt gewesen. Ein von vornherein überhöhter – jedoch vertraglich vereinbarter – Preis könne kein rügepflichtiger Mangel im Sinn der §§ 377, 378 UGB sein.
[12] Diesem Vorbringen kommt Berechtigung zu.
[13] 1.1 Mit der Einräumung des Rechtsbehelfs nach § 934 ABGB wird dem Gedanken der objektiven Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung Rechnung getragen. Jedermann, der bei zweiseitig verbindlichen Geschäften nicht einmal die Hälfte dessen, was er dem anderen gegeben hat, von diesem an gemeinem Wert erhalten hat, hat das Recht, die Aufhebung des Vertrags „und die Herstellung in den vorigen Stand zu fordern“.
[14] 1.2 Dieser Anspruch besteht bei allen zweiseitig verbindlichen Geschäften unabhängig davon, ob es sich um Zielschuldverhältnisse (Kauf, Werkvertrag) oder um Dauerschuldverhältnisse handelt (RS0018917 [T2]; Gruber in Klete?ka/Schauer, ABGB-ON1.06 § 934 Rz 1; Hödl in Schwimann/Neumayr, ABGB TaKomm4 § 934 Rz 1). Das Recht auf Anfechtung nach § 934 ABGB wurde auch bei gemischten Verträgen bejaht, etwa bei einem Vertrag, bei dem die Werkvertragselemente die Kaufvertragselemente überwiegen (Einbau eines gebrauchten Tauschmotors: 8 Ob 370/97p = RS0109125). Ob die im „Internet-System-Vertrag“ übernommenen einzelnen Vertragspflichten der Klägerin dienst- oder werkvertraglichen Charakter haben, muss daher nicht untersucht werden (1 Ob 203/19p; BGH III ZR 79/09 zur rechtlichen Einordnung eines „Internet-System-Vertrags“).
[15] 1.3 Für das Bestehen des Missverhältnisses nach § 934 ABGB ist der Zeitpunkt des Vertragsabschlusses maßgeblich (RS0018871). Nach der Rechtsprechung kann die Vertragsanfechtung wegen Verkürzung über die Hälfte auch schon vor vollständiger Erfüllung des Vertrags geltend gemacht werden (RS0021633).
[16] 1.4 Die Anfechtbarkeit eines Vertrags wegen laesio enormis soll dazu dienen, einen inhaltlich ungerechten Vertrag aufhebbar zu machen. Maßgeblich ist daher nur die Differenz zwischen dem objektiven Wert von Leistung und Gegenleistung, nicht worauf diese Differenz beruht. Sie kann entweder auf eine Fehlbewertung der mangelfreien Leistung (Fehleinschätzung des Verkehrswerts) oder auf eine Fehleinschätzung der Beschaffenheit der Sache zurückzuführen sein, die zu einer falschen objektiven Bewertung durch die Partei geführt hat (10 Ob 21/07x mwN).
[17] Ansprüche wegen Gewährleistung und wegen Verkürzung über die Hälfte können nebeneinander bestehen (RS0022009). Der Aufhebungsanspruch nach § 934 ABGB kann daher auch geltend gemacht werden, wenn die gekaufte Sache infolge eines schon im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses vorliegenden Mangels, der einen Gewährleistungsanspruch begründen könnte, weniger als die Hälfte des Kaufpreises wert ist (RS0024085).
[18] 2.1 Der vorliegende Fall ist dadurch gekennzeichnet, dass die Willensbildung des Beklagten von Anfang an fehlerhaft war, indem er über den zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bestehenden Wert der ihm von der Klägerin angebotenen Leistungen irrte; er hat nicht erkannt dass zu diesem Zeitpunkt der gemeine Wert der von der Klägerin zu erbringenden Leistungen unter der Hälfte der von ihm zu erbringenden Gegenleistungen lag. Nach den Feststellungen lag der Grund für dieses Missverhältnis allerdings nicht in schon bei Vertragsabschluss bestehenden anfänglichen Mängeln (die Gewährleistungsansprüche begründen könnten).
[19] 3. Eine Rügeobliegenheit bestand nicht:
[20] Die nach den §§ 377, 378 UGB für den beiderseitigen unternehmensbezogenen Kauf statuierte Obliegenheit des Käufers, binnen angemessener Frist Mängelrüge zu erheben, setzt voraus, dass der Käufer nach Ablieferung durch Untersuchung einen Mangel der Ware festgestellt hat oder feststellen hätte müssen. Der Anwendungsbereich der §§ 377, 378 UGB ist auf Fälle einer Mangelhaftigkeit im Sinn einer Abweichung vom Geschuldeten, Schlechtlieferung, Qualitätsmängel, Falschlieferung, Mengenabweichungen beschränkt. Die Zusage eines Preises, der objektiv überhöht ist, ist kein rügepflichtiger Mangel im Sinn der §§ 377 und 378 UGB.
[21] 4. Die vom Berufungsgericht als erheblich im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO angesehene Rechtsfrage, ob sich ein Käufer bei Unterlassung einer rechtzeitigen Rüge auf § 934 ABGB berufen kann, wenn der Kaufgegenstand an einem anfänglichen Mangel litt, der Mangel bei der Ermittlung des Wertmissverhältnisses berücksichtigt wird und zu einer Verletzung über die Hälfte führt, stellt sich daher im vorliegenden Fall nicht. Aus diesem Grund ist nicht auf die zu dieser Frage vertretenen Literaturmeinungen (siehe Kramer/Martini in Straube/Ratka/Rauter, UGB I4 § 378 Rz 61) einzugehen.
[22] 5. Da der Wert der Sache bzw der Leistungen zum Zeitpunkt des Abschlusses des Geschäfts maßgeblich ist, haben nach ständiger Rechtsprechung nachträgliche Erfüllungsmängel bei Prüfung der Voraussetzungen der laesio enormis bzw bei der Ermittlung des Missverhältnisses unbeachtet zu bleiben (RS0110457 [T1]; RS0018871 [T2]). Der einen – von der Klägerin nicht vollständig erbrachten – Teilleistung („Responsive Webdesign“) kommt somit für die Frage des Wertmissverhältnisses nach § 934 ABGB keine Bedeutung zu (nach den Feststellungen ist dafür im Übrigen kein gesonderter Kostenaufwand entstanden).
[23] 6. Nach § 934 Satz 2 ABGB steht der Klägerin das Gegengestaltungsrecht zu, an dem Vertrag festzuhalten, indem sie die objektive Äquivalenz vollständig herstellt und eine entsprechende Kürzung ihres Entgelts akzeptiert. Die Abwendung der Vertragsaufhebung durch Herstellung des Wertgleichgewichts ist bis zum Schluss der Verhandlung erster Instanz möglich (7 Ob 573/88; 7 Ob 251/02s). Die Klägerin hat aber die Ersetzungsbefugnis bis zu diesem Zeitpunkt nicht ausgeübt. Allein dass sie von ihrer Klagsforderung infolge vorzeitiger Leistungseinstellung eine Eigenersparnis von 35 % in Abzug gebracht hat, kann den Aufhebungsanspruch des Beklagten nicht zum Erlöschen bringen.
[24] 7.1 Die Aufhebung des Vertrags wegen Verkürzung über die Hälfte ist somit berechtigt.
[25] 7.2 Der auf die Zeitdauer von 48 Monaten angelegte „Internet-System-Vertrag“ wurde infolge außerordentlicher Kündigung vom 8. 3. 2019 nach etwa zehnmonatiger Laufzeit ex nunc für die restliche Vertragsdauer beendet. Der erfolgreiche Einwand nach § 934 ABGB führt zur Vertragsaufhebung mit schuldrechtlicher ex-tunc-Wirkung, somit rückwirkend auf den Abschlusszeitpunkt.
[26] 7.3 Für das auf Verletzung vertraglicher Pflichten gestützte Klagebegehren auf Leistung des monatlichen pauschalen Entgelts ab 8. 3. 2019 bis Ende der Vertragslaufzeit besteht nach ex-tunc-Aufhebung des Vertrags keine Rechtsgrundlage mehr.
[27] 8. Der Revision des Beklagten ist daher Folge zu geben. Die Urteile der Vorinstanzen sind dahin abzuändern, dass das Klagebegehren abgewiesen wird.
[28] 9. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.
Schlagworte
Internet?System?Vertrag,Textnummer
E130491European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:0100OB00048.20M.1215.000Im RIS seit
02.02.2021Zuletzt aktualisiert am
17.01.2022