TE OGH 2020/12/17 9ObA109/20z

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Veröffentlicht am 17.12.2020
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter KAD Dr. Lukas Stärker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Karl Schmid (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei ***** S*****, vertreten durch Dr. Andreas Grundei, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei F***** GmbH, *****, vertreten durch Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Entlassungsanfechtung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. September 2020, GZ 9 Ra 45/20h-86, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision der klagenden Partei wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1]            1. Die in der außerordentlichen Revision des Klägers geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens wurde vom Senat geprüft, sie liegt jedoch nicht vor (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO). Eine allenfalls unterlaufene Aktenwidrigkeit stellt nicht per se eine Rechtsfrage von der im § 502 Abs 1 ZPO genannten Bedeutung dar, sondern ist nur insoweit relevant, als sie für die Entscheidung selbst von wesentlicher Bedeutung war (vgl RS0042155 [T1]). Eine solche zeigt der Kläger aber nicht auf. Richtig ist zwar, dass das Berufungsgericht an einer Stelle seiner Entscheidung den Geschäftsführer der Beklagten irrtümlich als Zeugen bezeichnet hat. Daraus kann aber noch nicht geschlossen werden, dass die Beweisrüge in einem bestimmten Punkt erfolgreich gewesen wäre. Der Revisionsgrund der Aktenwidrigkeit kann auch nicht als Ersatz für eine im Revisionsverfahren generell unzulässige Beweisrüge herangezogen werden (RS0117019).

[2]            2. Das Vorliegen der Voraussetzungen für eine gerechtfertigte vorzeitige Auflösung des Dienstverhältnisses kann immer nur aufgrund der Umstände des Einzelfalls beurteilt werden (RS0106298). Bei der Beurteilung, ob ein bestimmtes Verhalten des Angestellten den Entlassungsgrund der Vertrauenswürdigkeit nach § 27 Z 1 AngG verwirklicht, kommt es vor allem darauf an, ob für den Dienstgeber vom Standpunkt vernünftigen kaufmännischen Ermessens die gerechtfertigte Befürchtung bestand, dass seine Belange durch den Angestellten gefährdet seien, wobei nicht das subjektive Empfinden des Dienstgebers entscheidet, sondern an das Gesamtverhalten des Angestellten ein objektiver Maßstab anzulegen ist, der nach den Begleitumständen des einzelnen Falls und nach der gewöhnlichen Verkehrsauffassung angewendet zu werden pflegt (RS0029833; RS0029733; RS0029547). Dies kann immer nur aufgrund der Umstände des Einzelfalls beurteilt werden und begründet keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO (RS0103201 [T1]).

[3]            Der Kläger zeigt in seiner außerordentlichen Revision keine korrekturbedürftige Überschreitung des dem Berufungsgericht bei dieser rechtlichen Beurteilung zukommenden Beurteilungsspielraums iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

[4]            Das Berufungsgericht hat die Entlassung des bei der Beklagten beschäftigt gewesenen Klägers wegen Vertrauensunwürdigkeit nach § 27 Z 1 AngG als berechtigt angesehen. Dieser Beurteilung liegen herabwürdigende und herabsetzende Äußerungen des Klägers gegenüber einer Studentin zugrunde, die der Kläger im Zuge einer von ihm abgehaltenen Lehrveranstaltung getätigt hat und die weder mit dem Argument der „Freiheit der Lehre“ noch mit dem festgestellten „pointierten“ Vortragsstil des Klägers gerechtfertigt werden können. Wenn das Berufungsgericht aufgrund der Schwere der Entgleisung des Klägers und der (im Sachverhalt festgestellten) mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, dass sich derartige Vorfälle auch in Zukunft wieder ereignen werden, von einer Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung des Klägers ausgegangen ist, so ist dies unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falls nicht zu beanstanden.

[5]            3. Nach Rechtsprechung und Lehre bedarf es für die Geltendmachung des Entlassungsgrundes der Vertrauensunwürdigkeit nach § 27 Z 1 AngG in der Regel keiner vorangegangenen Ermahnung oder Verwarnung (8 ObA 263/98d; 8 ObA 52/11x; Friedrich in Marhold/Burgstaller/Preyer, AngG § 27 Rz 82). Richtig ist, dass anderes im Zusammenhang mit Fehlverhalten von Arbeitnehmern im Zusammenhang mit Alkoholisierung ausgesprochen wurde. Derartiges ist hier nicht der Fall.

[6]            4. Einer Auseinandersetzung mit der vom Kläger vermissten Rechtsprechung zur Frage, ob die Entlassungsgründe des § 27 AngG durch eine dem Angestellten einzelvertraglich eingeräumte Rechtfertigungsmöglichkeit eingeschränkt werden können, bedarf es nicht. Eine derartige zwischen den Arbeitsvertragsparteien vereinbarte Rechtfertigungsmöglichkeit wurde nicht festgestellt. Der von der Beklagten verfasste „Code of Conduct“, auf den sich der Kläger bezieht, richtete sich an die Studenten.

[7]             5. Entlassungsgründe sind grundsätzlich unverzüglich geltend zu machen (RS0031799). Der Grundsatz, dass die Entlassung unverzüglich auszusprechen ist, beruht auf dem Gedanken, dass ein Arbeitgeber, der eine Verfehlung seines Arbeitnehmers nicht sofort mit der Entlassung beantwortet, dessen Weiterbeschäftigung nicht als unzumutbar ansieht und auf die Ausübung des Entlassungsrechts im konkreten Fall verzichtet (RS0029249). Vorläufige Maßnahmen, etwa die bis zur Klärung der tatsächlichen oder rechtlichen Lage vorgenommene Suspendierung eines Arbeitnehmers, können die Annahme eines Verzichts des Arbeitgebers auf die Ausübung des Entlassungsrechts verhindern (RS0028987). Das Erfordernis der Unverzüglichkeit der vorzeitigen Auflösung darf nicht überspannt werden (8 ObA 57/18t; RS0029273 [T16]; Pfeil in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 25 AngG Rz 32 mwN). Die Beurteilung, ob der Ausspruch der Entlassung verspätet erfolgt ist und der Dienstnehmer berechtigt davon ausgehen durfte, der Dienstgeber hätte auf die Geltendmachung des Entlassungsrechts verzichtet, ist von den Umständen des Einzelfalls abhängig (RS0029249 [T17]; RS0031571).

[8]            Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, die Entlassung des Klägers sei rechtzeitig erfolgt, entspricht nach der Lage des Falls den dargelegten Grundsätzen der Rechtsprechung. Noch am selben Tag (Montag, den 17. 10. 2020), als der Geschäftsführer der Beklagten von dem zur Entlassung führenden Vorfall, der sich am 13. 10. 2020, ereignet hatte, erfuhr, wurde der Kläger dienstfrei gestellt. Nach zweimaliger Rücksprache mit ihrer Rechtsvertretung (17./18. 10. 2020 und 19. 10. 2020) und Erörterung der Angelegenheit im Führungsgremium der Beklagten (19. 10. 2020) sprach die Beklagte am 20. 10. 2020 die Entlassung aus. Soweit der Kläger in der außerordentlichen Revision die „Verfristung“ der Entlassung darauf gründet, dass die Beklagte keine (rechtzeitigen) Nachforschungen über seinen schon seit vielen Jahren bestehenden „pointierten“ Vortragsstil angestellt habe, übergeht er, dass die Vorinstanzen dieses Verhalten des Klägers nicht als Entlassungsgrund herangezogen haben.

[9]       Mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision des Klägers zurückzuweisen.

Textnummer

E130489

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:009OBA00109.20Z.1217.000

Im RIS seit

02.02.2021

Zuletzt aktualisiert am

02.02.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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