Entscheidungsdatum
27.01.2021Index
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Text
Das Verwaltungsgericht Wien stellt durch seinen Richter Mag. Pichler im Verfahren der Beschwerde des A. B. gegen das Straferkenntnis des Magistrats der Stadt Wien vom 17. Juli 2020, Zl. MBA/..., betreffend eine Übertretung der §§ 1, 2 Z 1 und 3 Abs. 3 COVID-19-Maßnahmengesetzes iVm § 1 Abs. 1 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen wurden, gemäß Art. 139 Abs. 1 Z 1 und Abs. 4 iVm Art. 135 Abs. 4 iVm Art. 89 Abs. 2 B-VG iVm § 57 VfGG den
ANTRAG
der Verfassungsgerichtshof möge aussprechen,
dass § 1 Abs. 1 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen wurden, BGBl. II 197/2020, gesetzwidrig war,
in eventu,
dass § 1 Abs. 1 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen wurden, BGBl. II 197/2020, sowie der letzte Satz des § 9 Abs. 1a, die Wortfolge „1 und“ in § 9 Abs. 1b und die Wortfolge „,sofern sich dies nicht ohnedies aus § 1 Abs. 1 ergibt,“ in § 10 Abs. 6 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen wurden, BGBl. II 197/2020, idF BGBl. II 207/2020, gesetzwidrig waren.
Begründung
I. Anlassfall:
1. Mit Straferkenntnis des Magistrates der Stadt Wien vom 17. Juli 2020, Zl. MBA/..., wurde über den Beschwerdeführer wegen einer Übertretung der §§ 1, 2 Z 1 und 3 Abs. 3 COVID-19-Maßnahmengesetz iVm § 1 Abs. 1 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen wurden, BGBl. II 197/2020, (COVID-19-Lockerungsverordnung), eine Geldstrafe in Höhe von € 160,00,— bzw. für den Fall der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe eine Ersatzfreiheitsstrafe im Ausmaß von vier Stunden verhängt.
Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen am 16. Mai 2020 um 23:57 Uhr „… Wien, C., Bundesstraße – Ortsgebiet (neue Landesstraße), Gehsteig“, somit einen öffentlichen Ort betreten und gegenüber anderen nicht näher genannten Personen, bei welchen es sich nicht um Personen gehandelt haben soll, die mit dem Beschwerdeführer im gemeinsamen Haushalt leben, einen Mindestabstand von einem Meter nicht eingehalten zu haben.
2. Gegen dieses Straferkenntnis erhob der Beschwerdeführer Beschwerde, in welcher der Beschwerdeführer sinngemäß die Gesetzwidrigkeit der COVID-19-Lockerungsverordnung geltend macht. Die Beschwerde wurde dem Verwaltungsgericht Wien von der belangten Behörde samt dem Verwaltungsakt zur Entscheidung vorgelegt.
Mit Verfügung vom 5. Jänner 2021 forderte das Verwaltungsgericht Wien den Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz auf, dem Verwaltungsgericht Wien bis 25. Jänner 2021 die vollständigen Verordnungsakten (bzw. vollständige Kopien aus dem elektronischen Akt) betreffend die COVID-19-Lockerungsverordnung vorzulegen. Diesem Ersuchen wurde von Seiten der verordnungserlassenden Behörde mit Schreiben vom 18. Jänner 2021 entsprochen.
3. Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Straferkenntnisses sind beim Verwaltungsgericht Wien die unten näher dargelegten Bedenken ob der Gesetzmäßigkeit der anzuwendenden Verordnungsbestimmungen entstanden.
II. Rechtslage:
1. Die maßgeblichen Bestimmungen des Bundesgesetzes betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung von COVID-19 (COVID-19-Maßnahmengesetz), BGBl. I 12/2020, zum Tatzeitpunkt in Fassung BGBl. I 23/2020 in Kraft, lauteten in dieser Fassung:
„Betreten von Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen sowie Arbeitsorte
§ 1. Beim Auftreten von COVID-19 kann der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz durch Verordnung das Betreten von Betriebsstätten oder nur bestimmten Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen oder Arbeitsorte im Sinne des § 2 Abs. 3 ArbeitnehmerInnenschutzgesetz untersagen, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist. In der Verordnung kann geregelt werden, in welcher Zahl und zu welcher Zeit jene Betriebsstätten betreten werden dürfen, die vom Betretungsverbot ausgenommen sind. Darüber hinaus kann geregelt werden, unter welchen bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen Betriebsstätten oder Arbeitsorte betreten werden dürfen.
Betreten von bestimmten Orten
§ 2. Beim Auftreten von COVID-19 kann durch Verordnung das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist. Die Verordnung ist
1. vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf das gesamte Bundesgebiet erstreckt,
2. vom Landeshauptmann zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf das gesamte Landesgebiet erstreckt, oder
3. von der Bezirksverwaltungsbehörde zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf den politischen Bezirk oder Teile desselben erstreckt.
Das Betretungsverbot kann sich auf bestimmte Zeiten beschränken. Darüber hinaus kann geregelt werden, unter welchen bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen jene bestimmten Orte betreten werden dürfen.
[…]
Strafbestimmungen
§ 3. (1) […]
(3) Wer einen Ort betritt, dessen Betreten gemäß § 2 untersagt ist, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von bis zu 3 600 Euro zu bestrafen.“
2. § 1 Abs. 1 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 getroffen wurden, stand zum Tatzeitpunkt (16. Mai 2020) in der Stammfassung BGBl. II 197/2020 in Kraft. Die § 9 und 10 der genannten Verordnung wurden mit BGBl. II 207/2020 novelliert. Die Bestimmungen lauten in der jeweiligen Fassung (die mit dem Hauptantrag angefochtene Bestimmung ist hervorgehoben):
„Öffentliche Orte
§ 1. (1) Beim Betreten öffentlicher Orte im Freien ist gegenüber Personen, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben, ein Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten
[…]
Sonstige Einrichtungen
§ 9. […]
(1a) Das Betreten des Besucherbereichs von Museen, Ausstellungen, Bibliotheken, Büchereien und Archiven samt deren Lesebereichen sowie von Tierparks und Zoos ist unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Z 1 bis 5 zulässig. Sofern sich der Besucherbereich im Freien befindet, gilt § 1 Abs. 1.
(1b) Das Betreten der Einrichtungen und Teilnahme an Angeboten der außerschulischen Jugenderziehung und Jugendarbeit ist unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Z 1 bis 4 und § 1 Abs. 1 und 2 zulässig.
[…]
Veranstaltungen
§ 10. […]
(6) Bei Religionsausübung im Freien ist, sofern sich dies nicht ohnedies aus § 1 Abs. 1 ergibt, gegenüber Personen, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben, ein Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten. Darüber hinaus hat der Veranstalter sicherzustellen, dass durch geeignete Schutzmaßnahmen das Infektionsrisiko minimiert wird.“
3. § 1 Abs. 1 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 getroffen wurden, BGBl. II 197/2020, wurde durch die Novelle BGBl. II. 266/2020 (In-Kraft-Treten 15. Juni 2020) geändert. In dieser Fassung lautete die angefochtene Bestimmung:
„Öffentliche Orte
§ 1. (1) Beim Betreten öffentlicher Orte ist gegenüber Personen, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben, ein Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten.“
4. Die angefochtene Bestimmung wurde schließlich mit der Novelle BGBl. II. 342/2020 aufgehoben und erhielt § 1 der COVID-19-Lockerungsverordnung mit der genannten Novelle folgende Fassung:
„Massenbeförderungsmittel
§ 1. Im Massenbeförderungsmittel ist gegenüber Personen, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben, ein Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten und eine den Mund- und Nasenbereich abdeckende mechanische Schutzvorrichtung zu tragen. Ist auf Grund der Anzahl der Fahrgäste sowie beim Ein- und Aussteigen die Einhaltung des Abstands von mindestens einem Meter nicht möglich, kann davon ausnahmsweise abgewichen werden.“
III. Zur Zulässigkeit des Antrages:
1. Präjudizialität:
1.1. Das im vorliegenden Fall angefochtene Straferkenntnis stützt sich ausdrücklich auf §§ 1, 2 Z 1 und 3, 3 Abs. 3 des COVID-19-Maßnahmengesetzes iVm § 1 Abs. 1 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 getroffen wurden, BGBl. II 197/2020, womit das Verwaltungsgericht Wien diese Bestimmungen in den genannten Fassungen bei der Entscheidung des Rechtsfalles anzuwenden hat (vgl. § 1 Abs. 2 VStG zur grundsätzlichen Maßgeblichkeit des Tatzeitrechts).
1.2. In diesem Zusammenhang ist zwar zu beachten, dass § 1 Abs. 1 der angefochtenen Verordnung in seiner Stammfassung (BGBl. II 197/2020) von 1. Mai 2020 bis 14. Juni 2020 und in der Fassung der Novelle BGBl. II 266/2020 von 15. Juni 2020 bis 30. Juli 2020 dem Rechtsbestand angehörte. Mit der Novelle BGBl. II 342/2020 wurde die angefochtene Bestimmung sodann außer Kraft gesetzt. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichtes Wien führt dieser Umstand aber auch unter Beachtung des gemäß § 1 Abs. 2 VStG und Art. 7 EMRK gebotenen Günstigkeitsvergleiches nicht zum Entfall der Strafbarkeit und – damit einhergehend – zum Wegfall der für den gegenständlichen Antrag erforderlichen Präjudizialität (vgl. dazu VfSlg. 16.649/2002, 20.039/2016; seit der Novelle BGBl. I 33/2013 ist der Günstigkeitsvergleich auch im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht anzustellen – vgl. dazu ua. VwGH 21.5.2019, Ra 2019/11/0017; zur Rechtslage davor hingegen VwSlg. 19.453 A/2016):
1.2.1. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt der in § 1 Abs. 2 VStG enthaltene Grundsatz – wonach sich die Strafe nach dem zur Zeit der Tat geltenden Recht richtet, es sei denn, dass das zur Zeit der Entscheidung geltende Recht in seiner Gesamtauswirkung für den Täter günstiger wäre – nur dann zur Anwendung, wenn die spätere Gesetzgebung zu erkennen gegeben hat, dass das Unwerturteil über das zur Zeit der Begehung strafbare Verhalten nachträglich milder einzuschätzen oder ganz weggefallen ist. Wollte der Gesetzgeber das strafrechtliche Unwerturteil über die Nichtbefolgung der in Betracht kommenden Verpflichtung hingegen weiterhin aufrechterhalten, besteht trotz der aus § 1 Abs. 2 VStG hervorleuchtenden Grundsätze keine Handhabe, das zum Zeitpunkt der Tat strafbar gewesene Verhalten anders zu beurteilen, als es zu beurteilen gewesen wäre, wenn die Entscheidung vor Inkrafttreten der Änderung erlassen worden wäre (VwGH 16.3.1994, 92/03/0106 hinsichtlich eines später aufgehobenen Haltegebots; siehe auch VwGH 26.1.1988, 96/17/0405; 19.10.1988, 88/03/0083; 24.4.2014, 2012/02/0299). Ändert sich etwa bei Blankettstrafnormen zwar der Inhalt des Blanketts reduzierend, bleibt das grundsätzliche strafrechtliche Verbot jedoch bestehen, hat eine nachträgliche Einschränkung des Blankettinhalts nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes keine Auswirkungen auf das Weiterbestehen der Strafnorm (VwGH 22.7.2019, Ra 2019/02/0107).
Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof bereits festgehalten, dass § 1 Abs. 2 VStG nur auf die Änderung der strafrechtlichen Vorschriften abstellt und die Bestimmung bei Gesetzesänderungen im außerstrafrechtlichen Bereich nicht zum Tragen kommt. So führte der Verwaltungsgerichtshof unter anderem aus, dass die Frage, ob eine Abgabepflicht überhaupt entstanden ist, nach Maßgabe der zur Tatzeit geltenden Abgabenvorschriften geprüft werden müsse, deren tataktuelle Verletzung durch eine allfällige spätere Substituierung durch andere für den Abgabenpflichtigen günstigere Bestimmungen nicht beseitigt werde, weshalb eine nachträgliche außerstrafrechtliche Gesetzesänderung an der bereits eingetretenen Strafbarkeit nichts ändere (VwGH 28.6.2016, Ra 2016/17/0057 zu einer Änderung der verordneten Kurzparkzeiten: „Die Änderung der Rechtslage zwischen dem Tatzeitpunkt und dem Ergehen des Straferkenntnisses betraf lediglich den Zeitraum, während dem die Abgabepflicht besteht, nicht aber das strafrechtliche Unwerturteil über die Abgabenverkürzung“; vgl. auch VwGH 24.1.2000, 97/17/0331 und VwGH 21.5.2007, 2004/05/0244; zu den verschiedenen Deutungen der Judikatur vgl. ua. Lewisch, § 1 VStG, in Lewisch/Fister/Weilguni, VStG2 [2017] Rz 16; Kolonovits/Muzak/Stöger, Verwaltungsverfahrensrecht11 [2019] Rz 983; Wessely, § 1 VStG, in N. Raschauer/Wessely, VStG2 [2016] Rz 18).
1.2.2. Zusammenfassend kann die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes wohl so verstanden werden, dass sich der Günstigkeitsvergleich in erster Linie auf eine (zwischenzeitliche) Änderung der Strafnorm bezieht und eine Änderung der Übertretungsnorm nur im Ausnahmefall zum Entfall der Strafbarkeit führen kann – nämlich dann, wenn mit der Änderung der Übertretungsnorm auch das damit vertypte Unrecht zur Gänze weggefallen ist. Unter Beachtung dieser Grundsätze ist nach Auffassung des Verwaltungsgerichtes Wien davon auszugehen, dass der Gesetzgeber durch die (zwischenzeitige) Beseitigung (lediglich) der Übertretungsnorm in § 1 Abs. 1 COVID-19-Maßnahmenverordnung – bei unveränderter Aufrechterhaltung der Sanktionsnorm im COVID-19-Maßnahmengesetz (§ 3 Abs. 3 bis zur Novelle BGBl. I 104/2020, seit der Novelle BGBl. I 104/2020 § 8 leg.cit.) – nicht das mit der verbotenen Handlung verbundene Unwerturteil an sich beseitigen wollte. Vielmehr ging der Normsetzer offenkundig stets von der zeitlich befristeten Geltung der Verbote aus, deren Ziel mit einer bestimmten Reduktion der Infektionszahlen erreicht war. Es erschiene nicht konsequent, dem Gesetz- bzw. Verordnungsgeber mit der Erreichung dieses Ziels – trotz der Übertretungen – auch einen Entfall des Unwerturteils zu unterstellen. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil in weiterer Folge neuerlich Regelungen über die Einhaltung des Mindestabstandes eingeführt und deren Nichteinhaltung mit Verwaltungsstrafsanktion bedroht wurden.
Schließlich ist auch auf die ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zu verweisen, wonach der Gerichtshof nicht berechtigt ist, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. In diesem Sinn dürfe der Verfassungsgerichtshof einen Antrag auf Gesetzes- oder Verordnungsprüfung nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückweisen, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) sei, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl. etwa VfSlg. 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).
1.3. Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes und unter Beachtung der oben dargelegten Rechtsprechung zu § 1 Abs. 2 VStG erscheint es nach Auffassung des Verwaltungsgerichtes Wien zumindest „denkmöglich“, dass die mit dem vorliegenden Fall angefochtene Bestimmung anzuwenden ist.
Das Verwaltungsgericht Wien ist gemäß dem eben Gesagten der Auffassung, dass im vorliegenden Fall § 1 Abs. 1 der COVID-19-Lockerungsverordnung in der im Tatzeitpunkt maßgeblichen Stammfassung präjudiziell ist, weshalb sich der Hauptantrag auf § 1 Abs. 1 COVID-19-Lockerungsverordnung in der Fassung BGBl. II 197/2020 bezieht. Durch die Novelle BGBl. II 266/2020 wurde § 1 Abs. 1 leg.cit. nur insoweit geändert, als die Wortfolge „im Freien“ entfallen ist. Hierdurch wurde aber nach Auffassung des Verwaltungsgerichtes Wien für den Beschwerdeführer keine günstiger Rechtslage geschaffen, zumal das mit Strafe bedrohte Verhalten weiterhin die Nichteinhaltung des vorgeschriebene Mindestabstandes (unabhängig ob im Freien oder in geschlossenen Räumlichkeiten) war.
2. Anfechtungsumfang:
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes sind die Grenzen der Aufhebung einer auf ihre Gesetzmäßigkeit hin zu prüfenden Verordnungsbestimmung, wie der Verfassungsgerichtshof sowohl für von Amts wegen als auch für auf Antrag eingeleitete Normenprüfungsverfahren schon wiederholt dargelegt hat (VfSlg. 13.965/1994, 16.542/2002,16.911/2003), notwendig so zu ziehen, dass einerseits der verbleibende Verordnungsteil nicht einen völlig veränderten Inhalt bekommt und dass andererseits die mit der aufzuhebenden Verordnungsstelle untrennbar zusammenhängenden Bestimmungen auch erfasst werden. Dieser Grundposition folgend hat der Gerichtshof die Rechtsauffassung entwickelt, dass im Normenprüfungsverfahren der Anfechtungsumfang der in Prüfung gezogenen Norm bei sonstiger Unzulässigkeit des Prüfungsantrages nicht zu eng gewählt werden darf (vgl. zB VfSlg. 8155/1977, 12.235/1989, 13.915/1994, 14.131/1995, 14.498/1996, 14.890/1997, 16.212/2001). Das antragstellende Gericht hat all jene Normen anzufechten, welche für die Beurteilung der allfälligen Verfassungs- oder Gesetzwidrigkeit der Rechtslage eine untrennbare Einheit bilden. Es ist dann Sache des Verfassungsgerichtshofes, darüber zu befinden, auf welche Weise eine solche Verfassungs- oder Gesetzwidrigkeit – sollte der Verfassungsgerichtshof die Auffassung des antragstellenden Gerichtes teilen –beseitigt werden kann (VfSlg. 16.756/2002, 19.496/2011, 19.684/2012,19.903/2014; VfGH 10.3.2015, G201/2014). Unzulässig ist der Antrag etwa dann, wenn der im Falle der Aufhebung im begehrten Umfang verbleibende Rest einer Verordnungsstelle als sprachlich unverständlicher Torso inhaltsleer und unanwendbar wäre (VfSlg. 16.279/2001, 19.413/2011; VfGH 19.6.2015, G 211/2014; 7.10.2015, G 444/2015; VfSlg. 20.082/2016), der Umfang der zur Aufhebung beantragten Bestimmungen so abgesteckt ist, dass die angenommene Gesetzwidrigkeit durch die Aufhebung gar nicht beseitigt würde (vgl. zB VfSlg. 18.891/2009, 19.933/2014), oder durch die Aufhebung bloßer Teile einer Verordnung dieser ein völlig veränderter, dem Verordnungsgeber überhaupt nicht mehr zusinnbarer Inhalt gegeben würde (VfSlg. 18.839/2009,19.841/2014, 19.972/2015, 20.102/2016).
Die Bedenken des antragstellenden Gerichtes richten sich gegen § 1 Abs. 1 der COVID-19-Lockerungsverordnung und die darin enthaltene Vorgabe, wonach gegenüber Personen, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben, ein Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten ist. Die Bedenken des Verwaltungsgerichtes Wien ergeben sich hierbei – wie sogleich unter Punkt IV. dargelegt wird – im Wesentlichen aus der (zur Gänze) fehlenden Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen, welche die verordnungserlassende Behörde dazu veranlasst haben, die (Beibehaltung der) Verpflichtung zur Einhaltung eines Abstandes von einem Meter zu haushaltsfremden Personen zu verordnen. § 1 Abs. 1 der COVID-19-Lockerungsverordnung besteht nur aus einem einzigen Satz, eine Aufhebung von nur einem Teil des § 1 Abs. 1 leg.cit. ist nach Auffassung des Verwaltungsgerichtes Wien (sollte der Verfassungsgerichtshof die Bedenken des antragstellenden Gerichtes teilen) zur Beseitigung der Gesetzwidrigkeit der angefochtenen Bestimmung nicht möglich, zumal diesfalls bestenfalls lediglich ein sprachlich unverständlicher Torso weiterhin dem Rechtsbestand angehören würde. Aus diesem Grund sieht sich das Verwaltungsgericht Wien veranlasst § 1 Abs. 1 der COVID-19-Lockerungsverordnung zur Gänze anzufechten.
Sollte der Verfassungsgerichtshof aber der Auffassung sein, dass im vorliegenden Fall jene im Tatzeitpunkt geltenden Bestimmungen der COVID-19-Lockerungsverordnung, welche auf § 1 Abs. 1 leg.cit. verweisen, mit der zuletzt genannten Verordnungsbestimmung in untrennbaren Zusammenhang stehen, sieht sich das Verwaltungsgericht Wien veranlasst, eventualiter den letzten Satz des § 9 Abs. 1a, die Wortfolge „1 und“ in § 9 Abs. 1b und die Wortfolge „,sofern sich dies nicht ohnedies aus § 1 Abs. 1 ergibt,“ in § 10 Abs. 6 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen wurden, BGBl. II 197/2020, idF BGBl. II 207/2020, mitanzufechten.
3. Zum Antragsbegehren:
Da die angefochtene Bestimmung (sowohl in der vom Hauptantrag als auch in der vom Eventualantrag umfassten Fassung) mit BGBl. II 342/2020 aufgehoben wurde, wird von Seiten des antragstellenden Gerichts beantragt, der Verfassungsgerichtshof möge aussprechen, dass die angefochtene Bestimmung gesetzwidrig war (vgl. zu einer ebenfalls mit der Novelle BGBl. II 342/2020 aufgehobenen Wortfolge in § 1 Abs. 2 der COVID-19-Lockerungsverordnung, zu der der Gerichtshof ebenfalls ausgesprochen hat, dass diese gesetzwidrig war: VfGH 1.10.2020, G 271/2020, V463-467/2020).
IV. Bedenken:
Das Verwaltungsgericht Wien hegt gegen die angefochtene Verordnungsbestimmung folgende Bedenken:
§ 1 Abs. 1 der COVID-19-Lockerungsverordnung (sowohl in der Stammfassung als auch in der Fassung BGBl. II 266/2020) hatte seine Rechtsgrundlage in § 2 COVID-19-Maßnahmengesetz, BGBl. I 12/2020 idF der Novelle BGBl. I 23/2020 (sohin vor der Novellierung der genannten Bestimmung durch BGBl. I 104/2020). § 2 COVID-19-Maßnahmengesetz in der Fassung BGBl. II 23/2020 ermächtigte den Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz beim Auftreten von COVID-19 dazu, durch Verordnung "das Betreten von bestimmten Orten" zu untersagen, "soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist." In der Verordnung kann auch geregelt werden, "unter welchen bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen jene bestimmten Orte betreten werden dürfen."
§ 2 COVID-19-Maßnahmengesetz idF BGBl I 23/2020 übertrug dem Verordnungsgeber eine weitreichende Ermächtigung, zumal der Verordnungsgeber gestützt auf die erwähnte Verordnungsbestimmung auch ermächtigt ist, mitunter umfassende Beschränkung von verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten anzuordnen. Unter Beachtung des Art. 18 B-VG determiniert die erwähnte Verordnungsermächtigung den Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz als verordnungserlassende Behörde in mehrfacher Hinsicht, wie dies der Verfassungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung bereits wiederholt zum Ausdruck gebracht hat (VfGH 14.7.2020, V363/2020; 14.7.2020, V 411/2020; 1.10.2020, G 271/2020, V 463-467/2020, 1.10.2020, V 428/2020). So sind vom Verordnungsgeber insbesondere die Vorgaben des Legalitätsprinzips des Art. 18 B-VG und das System der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte und die sich daraus ergebende Grundrechtsordnung zu beachten (vgl. nochmals VfGH 1.10.2020, G 271/2020, V 463-467/2020).
Angesichts der weitreichenden Ermächtigung des Verordnungsgebers verpflichtete § 2 COVID-19-Maßnahmengesetz, BGBl. I 12/2020, idF BGBl. I 23/2020, vor dem Hintergrund des Art. 18 Abs. 2 B-VG den Verordnungsgeber im einschlägigen Zusammenhang – also bei der Setzung von Maßnahmen zur Hintanhaltung der Ausbreitung von SARS-COVID-19 – auch, die Wahrnehmung seines Entscheidungsspielraums im Lichte der gesetzlichen Zielsetzungen insoweit nachvollziehbar zu machen, als er im Verordnungserlassungsverfahren festhält, auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände die Verordnungsentscheidung fußt und die gesetzlich vorgegebene Abwägungsentscheidung erfolgt ist. Die diesbezüglichen Anforderungen dürfen naturgemäß nicht überspannt werden, sie bestimmen sich maßgeblich danach, was in der konkreten Situation möglich und zumutbar ist (vgl. nochmals VfGH 1.10.2020, G 271/2020, V 463-467/2020). Auch in diesem Zusammenhang kommt dem Zeitfaktor entsprechende Bedeutung zu. Mangelt es aber an einer entsprechenden aktenmäßigen Dokumentation, entspricht die Verordnung schon aus diesem Grund den gesetzlichen Vorgaben des § 2 COVID-19-Maßnahmengesetzes nicht. Bei der entsprechenden Beurteilung ist der Zeitpunkt der Erlassung der entsprechenden Verordnungsbestimmung und die dieser zugrundeliegenden aktenmäßigen Dokumentation maßgeblich.
Nach Auffassung des antragstellenden Gerichtes mangelt es – nach Durchsicht der von der verordnungserlassenden Behörde vorgelegten Verordnungsakten – im Hinblick auf die COVID-19-Lockerungsverordnung, BGBl. II 197/2020, und somit auch im Hinblick auf § 1 Abs. 1 leg.cit. an einer entsprechenden aktenmäßigen Dokumentation hinsichtlich der von der Verordnungserlassenden Behörde gesetzten Maßnahmen:
In dem vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz vorgelegten Verordnungsakt, der der Erlassung der (Stammfassung der) COVID-19-Lockerungsverordnung, BGBl II 197/2020, zugrunde liegt, wird unter der Rubrik "Sachverhalt" ausgeführt: "Inliegend der Entwurf der LockerungsVO, welche die VO 96/2020 idgF und 98/2020 idgF ablöst. Es sind darin die ab 1. Mai gelten Regelungen hinsichtlich der Maßnahmen in Betriebsstätten, bei Veranstaltungen, in Massenbeförderungsmitteln, etc. geregelt. Die inliegende VO wäre nunmehr durch HBM zu unterfertigen und der Kundmachung zuzuleiten". Darüber hinaus finden sich in diesem Verwaltungsakt keine weiteren, im Hinblick auf die gesetzliche Grundlage des § 2 COVID-19-Maßnahmengesetz relevanten Ausführungen oder Unterlagen, sondern lediglich zwei Entwürfe (vom 28. April 2020, 22.00 Uhr, und vom 30. April 2020, 17.00 Uhr), eine "finale Version" (ebenfalls vom 30. April 2020) sowie die vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz unterfertigte Verordnung, jeweils ohne Anmerkungen. Es ist somit in den vorgelegten Verordnungsakten keinerlei „aktenmäßige Dokumentation“ enthalten, welche als (Entscheidungs)Grundlage für die Erlassung der COVID-19-Maßnahmenverordnung – und somit auch der angefochtenen Bestimmung – gedient hat.
Fehlt es aber einer Verordnung, deren gesetzliche Grundlage bei der Erlassung § 2 COVID-19-Maßnahmengesetz, BGBl. I 12/2020, idF BGBl. 23/2020, gebildet hat, an jeglicher aktenmäßigen Dokumentation jener Gründe, die die verordnungserlassende Behörde zur Setzung bestimmter Maßnahmen (im konkreten Fall der Anordnung der Einhaltung eines Mindestabstandes von einem Meter zu nicht im gleichen Haushalt lebenden Personen) bestimmt hat, so ist die Verordnung schon aus diesem Grund gesetzwidrig (vgl. zu einer Wortfolge in § 1 Abs. 2 COVID-19-Lockerungsverordnung: VfGH 1.10.2020, G 271/2020, V 463-467/2020).
Das Verwaltungsgericht Wien ist daher der Ansicht, dass die angefochtene Verordnungsbestimmung des § 1 Abs. 1 der COVID-19-Lockerungsverordnung mangels entsprechender aktenmäßiger Dokumentation seiner Entscheidungsgrundlagen seinen gesetzlichen Grundlagen nicht entspricht und daher – weil zwischenzeitig außer Kraft getreten – gesetzwidrig war.
V. Auswirkungen auf den Anlassfall:
Sollte der Verfassungsgerichtshof antragsgemäß aussprechen, dass der angefochtene Teil der gegenständlichen Verordnung gesetzwidrig war, hätte dies gemäß Art. 139 Abs. 6 B-VG zur Folge, dass die Verordnung im Anlassfall nicht mehr anzuwenden wäre. Der Beschwerde im Anlassfall wäre folglich stattzugeben, das angefochtene Straferkenntnis aufzuheben und das Verwaltungsstrafverfahren gemäß § 45 Abs. 1 Z 1 VStG einzustellen. Unabhängig davon, ob die beschwerdeführende Partei im Anlassfall einen Mindestabstand von 1 m zu anderen Personen, nicht im gemeinsamen Haushalt lebenden Personen eingehalten hat oder nicht, würde dieses Verhalten im Fall des Zutreffens der Bedenken des Verwaltungsgerichtes Wien keine Verwaltungsübertretung bilden.
Daher ist die Gesetzmäßigkeit der angefochtenen Verordnung eine Vorfrage im Sinne des § 57 Abs. 2 VfGG für die Entscheidung der beim antragstellenden Gericht anhängigen Rechtssache.
Schlagworte
Normprüfungsantrag; Abstand; haushaltsfremde Person; aktenmäßige Dokumentation; EntscheidungsgrundlageAnmerkung
VfGH v. 16.6.2021, V 34/2021; Bestimmung war gesetzwidrigEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:LVWGWI:2021:VGW.031.019.10231.2020.4Zuletzt aktualisiert am
30.06.2021