Entscheidungsdatum
06.11.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W245 2155254-1/10E
W245 2155252-1/11E
W245 2155249-1/10E
W245 2216008-1/21E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Bernhard SCHILDBERGER, LL.M. als Einzelrichter über die Beschwerden von 1. XXXX , geb. XXXX , 2. XXXX , geb. XXXX , 3. XXXX , geb. XXXX und 4. XXXX (alias XXXX ), geb. XXXX , alle StA. Syrien, alle vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, Wattgasse 48/3. Stock, 1170 Wien, gegen den Spruchpunkt I. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.03.2017, 1.Zahl: XXXX , 2. Zahl: XXXX , 3. Zahl: XXXX und gegen die Spruchpunkte I. bis VI. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.02.2019, 4. Zahl: XXXX betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
I. Der Beschwerde von XXXX wird stattgegeben und ihr gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
II. Den Beschwerden von XXXX und XXXX wird stattgegeben und ihnen gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
III. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX , XXXX und XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
IV. Die Beschwerde von XXXX (alias XXXX ) gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
V. Der Beschwerde von XXXX (alias XXXX ) gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX (alias XXXX ) gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat zuerkannt.
VI. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX (alias XXXX ) eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 06.11.2021 erteilt.
VII. In Erledigung der Beschwerde von XXXX (alias XXXX ) werden die Spruchpunkt III. bis VI. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
I.1. Die Erstbeschwerdeführerin XXXX (in der Folge auch „BF1“), eine syrische Staatsbürgerin, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz.
I.2. Im Rahmen der am 19.09.2015 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab die BF1 an, dass wegen des Krieges ihre Region zerstört worden sei. Es gebe keine Sicherheit. Bei einer Rückkehr habe sie Angst vor Bombardierungen und Raketen.
I.3. Die Zweitbeschwerdeführerin XXXX (in der Folge auch „BF2“) und die Drittbeschwerdeführerin XXXX (in der Folge auch „BF3“), beide syrische Staatsbürgerinnen, reisten illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellten am XXXX jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.
I.4. Im Rahmen der am XXXX erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gaben die BF2 und BF3 übereinstimmend an, dass in ihrem Heimatland Krieg herrsche. Der Hauptgrund der Flucht sei gewesen, dass sie bei ihrer Mutter in Österreich hätten leben wollen. Ihre Mutter sei bereits im Vorjahr aus Syrien geflüchtet. Bei einer Rückkehr fürchten sie den Tod. Auch fürchten sie sich vor der Einsamkeit ohne ihre Mutter.
I.5. Bei der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge „belangte Behörde“, auch „bB“) am 04.01.2017 gab die BF1 an, dass sie in XXXX gelebt habe. Dies sei am Rande von Damaskus gewesen. Das Haus ihrer Eltern sei zerstört worden. Sie hätten wo anders in Syrien hinfliehen müssen. Als Frauen seien sie oft an Checkpoints belästigt worden, da auf ihrer ID-Card gestanden habe, dass sie aus XXXX komme, wo auch die Rebellen herkommen würden. Die Behörden hätten ihr deshalb immer Probleme gemacht. Es sei ihnen vorgeworfen worden, dass sie mit den Rebellen zusammenarbeiten würden oder dass sie Terroristen wären. Dies seien alle Gründe gewesen, warum sie ihre Heimat verlassen habe. Sie sei niemals als Frau bedroht oder verfolgt worden.
Ihr Sohn XXXX (alias XXXX , in der Folge auch „BF4“) sei deshalb bedroht worden, weil ihr Ex-Mann schlecht über das Regime geredet habe. Die Nachbarn hätten ihn verraten. Deshalb werde auch ihr Sohn bedroht.
Bei einer Rückkehr habe sie Angst vor dem Krieg. Nachdem sie sich habe scheiden lassen und auch ihr Ex-Mann untergetaucht sei, sei auch ihr Sohn bedroht worden. Deshalb habe sie auch Angst um ihre Kinder.
I.6. Mit den Bescheiden vom 21.03.2017 wies die bB die Anträge der BF1, der BF2 und der BF3 auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Der BF1 wurde auf Grundlage des § 8 Abs. 1 AsylG der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ebenso wurden der BF2 und BF3 auf Grundlage des § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 34 Abs. 3 AsylG der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.). Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wurde der BF1, der BF2 und der BF3 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 21.03.2018 erteilt (Spruchpunkt III.).
I.7. Mit Verfahrensanordnung vom 28.03.2017 wurde der BF1, der BF2 und der BF3 gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.
I.8. Am 10.04.2017 erteilte die BF1 für sich und ihre minderjährigen Kinder BF2 und BF3 Vollmacht für die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe.
I.9. Gegen den Spruchpunkt I. der Bescheide der bB vom 21.03.2017 richteten sich die am 25.04.2017 fristgerecht erhobenen Beschwerden.
In den Beschwerden wurde ausgeführt, dass die BF1, die BF2 und die BF3 an den Checkpoints von Regierungsseite bedroht und belästigt worden seien, weil auf ihrem Ausweis XXXX gestanden habe. Dies sei ein Ort, aus dem Rebellen herkommen würden. Es sei der BF1, der BF2 und der BF3 vorgeworfen worden, dass sie mit den Rebellen zusammenarbeiten bzw. Terroristen sein würden.
Zudem habe sich der Ex-Mann der BF1 öffentlich gegen die Regierung geäußert. Die BF1 habe sich im Jahr 2013 scheiden lassen. Die BF2 und die BF3, die den Familiennamen des Vaters tragen, seien deshalb dauernd belästigt worden, da sich der Vater gegen die Regierung geäußert habe. Der BF4 sei einmal für zwei bis drei Tage von Regierungsseite zur Zwangsarbeit mitgenommen worden. Die BF1, die BF2 und die BF3 hätten nicht gewusst, wo der BF4 gewesen sei. Der Name des Ex-Mannes der BF1 sei bekannt und stehe auf einer Liste. Deshalb sei auch die BF1 an den Checkpoints belästigt und schikaniert worden. Trotz der Scheidung bestehe noch immer eine Verfolgung wegen der Angehörigeneigenschaft zu ihrem Ex-Mann fort. Die BF2 und die BF3 hätten auch eigene Fluchtgründe.
Als der Ex-Mann der BF1 das erste Mal entführt worden sei, sei die BF1 noch in Syrien gewesen. Auf Intervention seiner Familie sei der Ex-Mann wieder freigelassen worden.
Die BF2 und die BF3 seien erst nach der BF1 aus Syrien ausgereist. Bei der zweiten Entführung des Ex-Mannes seien die BF2 und die BF3 noch in Syrien gewesen. Die BF1, die BF2 und die BF3 würden nicht wissen, wo sich der Ex-Mann der BF1 bzw. der Vater der BF2 und BF2 aufhalte. Jedenfalls sei dieser nicht untergetaucht.
I.10. Die gegenständlichen Beschwerden der BF1, der BF2 und der BF3 und die bezugshabenden Verwaltungsakte wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge auch „BVwG“) am 03.05.2017 von der bB vorgelegt.
I.11. Der BF4, ein syrischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz.
I.12. Im Rahmen der am 08.02.2018 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF4 an, dass er hauptsächlich wegen des Krieges Syrien verlassen habe. Bei der Rückkehr fürchte er sich vor dem Tod.
I.13. Bei der Einvernahme durch die bB am 06.02.2019 gab der BF4 an, dass er vom syrischen Regime gefoltert worden sei. Er habe Splitter im linken Unterarm, im Unterbauch und im rechten Bein gehabt. Der BF4 und sein Vater seien schlimm geschlagen und gefoltert worden. Der BF4 habe als Geisel für das syrische Regime arbeiten müssen; er habe Sandsäcke tragen und Tunnel graben müssen. Er sei von den syrischen Behörden aufgefordert worden, sich bei ihnen zu melden. Er habe immer für zwei bis drei Tage mit Sandsäcken Mauern bauen müssen. Auch habe das syrische Regime gewollt, dass der BF4 mit ihnen zusammenarbeite. Wenn der BF4 etwas gehörte hätte, hätte er dies dem Regime sofort melden sollen. Der Hauptgrund, warum der BF4 Syrien verlassen habe, sei das Verschwinden seines Vaters gewesen. Der BF4 habe nicht mehr in Syrien bleiben wollen. Dies seien alle Fluchtgründe gewesen, weshalb der BF4 Syrien im Dezember 2015 verlassen habe.
Nachgefragt führte der BF4 aus, dass er am 17.03.2015 gemeinsam mit seinem Vater von syrischen Beamten festgenommen worden sei. Sie wären an einem Kontrollpunkt kontrolliert worden. Dem BF4 sei das T-Shirt über den Kopf gezogen, seine Augen seien verbunden und seine Hände gefesselt worden. Danach sei er für zwei bis drei Monate in Haft gewesen. Der BF4 wisse nicht, warum sie festgenommen worden seien, er nehme aber an, dass die Festnahme etwas damit zu tun gehabt habe, dass sie aus XXXX stammen würden. Der BF4 wisse nicht, wohin sein Vater gebracht worden sei. Der BF4 sei bei einem Kontrollpunkt in XXXX freigelassen worden. Ein Offizier habe dem BF4 einen Zettel gegeben, dass er sich nach 15 Tagen bei der Sicherheitsbehörde melden solle. Nachdem der BF4 sich bei der Sicherheitsbehörde gemeldet habe, habe er dort zunächst einen Kaffee bekommen. Er habe vier Stunden warten müssen. Anschließend sei er aufgefordert worden, dass er sich mit einem Zettel bei seinem Sicherheitsbezirk melde. Nachdem sich der BF4 dort gemeldet habe, sei er acht Tage in Haft genommen und geschlagen worden. Er habe sich alleine in einer Zelle aufgehalten und sei zu seinem Vater befragt worden. Nach seiner Freilassung habe er nur mehr Probleme an den Checkpoints gehabt; er sei dort für zwei bis drei Tage festgehalten worden.
Zum Militärdienst führte der BF4 aus, dass er im Alter von 18 Jahren von der syrischen Armee gemustert worden sei. Da er der einzige Sohn der Familie gewesen sei, sei er vom Wehrdienst befreit worden. Es sei ihm aber angeboten worden, dass er sich freiwillig beim Militär melde, jedoch habe er das nicht gemacht. Er habe wegen des Militärdienstes nie Probleme in Syrien gehabt.
Bei einer Rückkehr fürchte sich der BF4 vor dem Krieg. Er könne sich nicht vorstellen, dass er in Syrien unter dem Regime leben könne, zumal auch sein Vater verschollen sei.
I.14. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 13.02.2019 wies die bB den Antrag des BF4 auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkt I. und II.). Es wurde dem BF4 kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass eine Abschiebung nach Syrien zulässig sei (Spruchpunkt III.-V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit XXXX ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Der Bescheid wurde am 18.02.2019 vom BF4 übernommen.
I.15. Mit Verfahrensanordnung vom 14.02.2019 wurde dem BF4 gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 14.02.2019 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.
I.16. Am 26.02.2019 erteilte der BF4 der ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe Vollmacht.
I.17. Gegen den Bescheid der bB vom 13.02.2019 richtete sich die am 13.03.2019 fristgerecht erhobene Beschwerde.
In der Beschwerde wurde auf mangelhafte Feststellungen und mangelhafte Beweiswürdigung hingewiesen. Insbesondere führte der BF4 in Bezug auf Spruchpunkt II. – subsidiärer Schutz – aus, dass sich die bB mit den Länderfeststellungen und aktuellen Länderberichten zur Situation in Syrien nicht entsprechend auseinandergesetzt habe.
I.18. Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem BVwG am 14.03.2019 von der bB vorgelegt.
I.19. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 12.08.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der die Beschwerdeführer (in der Folge auch „BF“) im Beisein ihrer bevollmächtigten Vertreterin persönlich teilnahmen. Ein Vertreter der bB nahm an der Verhandlung nicht teil.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
II.1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.
II.1.1. Zum sozialen Hintergrund der BF:
II.1.1.1. Zum sozialen Hintergrund der BF1:
Die BF1 führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Sie ist Staatsangehörige der Arabischen Republik Syrien. Sie ist Angehörige der Volksgruppe der Araber und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache der BF1 ist Arabisch.
Die BF1 wurde nach ihren Angaben in Damaskus geboren. Sie lebte dort bis zu ihrem vierten Lebensjahr. Danach ist sie mit ihrer Familie nach XXXX gezogen. Dort hat sie bis zum 15. Lebensjahr gelebt. Nachdem sie im Jahr 1992 geheiratet hatte, ist sie zu ihrem Ehemann in den Ort XXXX gezogen. Dort lebte sie für 20 Jahre. Nach der Scheidung ist die BF1 zu ihrer Familie nach Damaskus gezogen. Die BF1 hat ca. zwei Jahre bei ihrer Familie gelebt und hat anschließend Syrien verlassen.
Die BF1 ist gesund.
Die BF1 hat in Syrien die sechsjährige Volksschule abgeschlossen. Danach hat sie zwei Jahre den Beruf der Schneiderin erlernt. Nach der Heirat war sie in Syrien Hausfrau und hat für ihre Kinder zu Hause geschneidert. Die BF1 verfügt in Syrien über kein Vermögen.
Während der Ehe wurde die BF1 von ihrem Ex-Mann versorgt. Nach der Scheidung lebte die BF1 bei ihrer Familie.
Die BF1 ist seit dem Jahr 2013 geschieden. Die Scheidung erfolgte auf Initiative der BF1, da sie von ihrem Ex-Mann beschimpft und geschlagen wurde.
Die BF1 hat in Syrien zwei Brüder und drei Schwestern. Ihre Mutter lebt abwechselnd bei einem Bruder und einer Schwester in der Umgebung von Damaskus in XXXX . Die BF1 hat sporadisch Kontakt mit ihrer Familie. Ihr Vater ist im Jahr 1997 verstorben. Die BF1 hat drei Onkel und drei Tanten väterlicherseits sowie zwei Onkel und drei Tanten mütterlicherseits. Diese Verwandten leben in Damaskus.
Die BF1 ist strafgerichtlich unbescholten. Nach ihren eigenen Angaben ist sie in ihrem Herkunftsstaat nicht vorbestraft. Sie ist politisch nicht aktiv. Sie hatte in ihrem Herkunftsstaat Probleme mit den Kontrollposten und wurde von Polizisten am ganzen Körper durchsucht.
Die BF1 hat Syrien am 01.09.2015 verlassen und hat am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
Die BF1 ist die Mutter der BF2, der BF3 und des BF4.
II.1.1.2. Zum sozialen Hintergrund der BF2:
Die BF2 führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Sie ist Staatsangehörige der Arabischen Republik Syrien. Sie ist Angehörige der Volksgruppe der Araber und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache der BF2 ist Arabisch.
Die BF2 wurde nach ihren Angaben in Damaskus geboren. Sie hat bis zu ihrer Ausreise in Damaskus bzw. in der Umgebung von Damaskus gelebt.
Die BF2 ist gesund.
Die BF2 hat in Syrien wegen des Krieges die Schule mit Unterbrechungen besucht. Zuletzt besuchte sie die zweite Mittelschule. Sie verfügt über keine Berufserfahrungen. Die BF2 verfügt in Syrien über kein Vermögen.
Die BF2 wurde in Syrien von ihrem Vater und ihrem Bruder, dem BF4, versorgt.
Die BF2 hat vereinzelt Kontakt zu ihren Tanten in Syrien.
Die BF2 ist strafgerichtlich unbescholten. Nach ihren eigenen Angaben ist sie in ihrem Herkunftsstaat nicht vorbestraft. Sie ist politisch nicht aktiv. Sie hatte in ihrem Herkunftsstaat keine Probleme mit den Behörden.
Die BF2 hat Syrien am 15.01.2016 verlassen und hat am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
II.1.1.3. Zum sozialen Hintergrund der BF3:
Die BF3 führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Sie ist Staatsangehörige der Arabischen Republik Syrien. Sie ist Angehörige der Volksgruppe der Araber und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache der BF3 ist Arabisch.
Die BF3 wurde nach ihren Angaben in Damaskus geboren. Sie hat bis zu ihrer Ausreise in Damaskus bzw. in der Umgebung von Damaskus gelebt.
Die BF3 ist gesund.
Die BF3 hat in Syrien fünf Jahre die Volksschule besucht. Sie verfügt über keine Berufserfahrungen. Die BF3 verfügt in Syrien über kein Vermögen.
Die BF3 wurde in Syrien von ihrem Vater und ihrem Bruder, dem BF4, versorgt.
Die BF3 hat vereinzelt Kontakt zu ihren Cousinen in Syrien.
Die BF3 ist strafgerichtlich unbescholten. Nach ihren eigenen Angaben ist sie in ihrem Herkunftsstaat nicht vorbestraft. Sie ist politisch nicht aktiv. Sie hatte in ihrem Herkunftsstaat keine Probleme mit den Behörden.
Die BF3 hat Syrien am 15.01.2016 verlassen und hat am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
II.1.1.4. Zum sozialen Hintergrund des BF4:
Der BF4 führt den Namen XXXX (alias XXXX ) und ist am XXXX geboren. Er ist Staatsangehöriger der Arabischen Republik Syrien. Er ist Angehöriger der Volksgruppe der Araber und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF4 ist Arabisch.
Der BF4 wurde nach seinen Angaben in Damaskus geboren. Er lebte in XXXX . Nach dem Beginn des Krieges, also ab 2012/2013 ist er nach XXXX gezogen. Dort lebte er bis zu seiner Ausreise.
Der BF4 ist gesund.
Der BF4 hat in Syrien sechs Jahre die Volksschule besucht. Berufserfahrungen sammelte der BF4 zunächst im Restaurant seines Onkels mütterlicherseits. Danach hat der BF4 seinem Vater beim Verteilen von Lebensmitteln geholfen. Der BF4 war nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen. Das selbstverdiente Geld war für Miete und andere Sachen nicht ausreichend. Der BF4 wurde von seinem Vater unterstützt. Der BF4 verfügt in Syrien über kein Vermögen.
Der BF4 hat Kontakt zu seinen Onkeln, Tanten und Cousins in Syrien.
Der BF4 ist strafgerichtlich unbescholten. Nach seinen eigenen Angaben ist er in seinem Herkunftsstaat nicht vorbestraft. Er ist politisch nicht aktiv. Es wird festgestellt, dass der BF4 keine Probleme mit Behörden in Syrien gehabt hat.
Der BF4 hat Syrien im Dezember 2015 verlassen und hat am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
II.1.2. Zu den Fluchtgründen der BF:
Die Herkunftsregion der BF – Stadt Damaskus und Umgebung – wird von der syrischen Regierung kontrolliert.
Die BF haben wegen des Krieges ihr Herkunftsland verlassen.
Es wird festgestellt, dass keine konkreten, persönlichen Umstände im Verfahren hervorgekommen sind, dass die BF als tatsächliche oder vermeintliche Gegner der Regierung wahrgenommen werden. Es wird festgestellt, dass den BF nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit droht, im Falle ihrer Rückkehr nach Syrien aufgrund (unterstellter) oppositioneller Gesinnung Repressalien ausgesetzt zu sein.
Es wird festgestellt, dass der Ex-Mann der BF1 bzw. der Vater der BF2, der BF3 und des BF4 entgegen des Vorbringens der BF weder verschollen ist noch entführt wurde.
Der BF4 ist der einzige Sohn der Familie. Es wird festgestellt, dass dem BF4 nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit droht, im Falle seiner Rückkehr nach Syrien zum Militär eingezogen zu werden.
Die BF1 und der BF4 sind legal ausgereist. Die BF2 und BF3 sind illegal ausgereist. Es wird festgestellt, dass die BF2 und die BF3 weder wegen ihrer illegalen Ausreise bedroht oder verfolgt wurden, noch dass sie dies im Falle einer Rückkehr zu befürchten hätten. Dies gilt auch für die Asylantragstellung der BF im Ausland.
Es wird festgestellt, dass die BF1 aufgrund ihrer Scheidung von ihren Familienangehörigen ausgegrenzt wurde und dass sie bei einer allfälligen Rückkehr von ihren Familienangehörigen nicht unterstützt wird.
Aufgrund der persönlichen Situation der BF1 (Scheidung, Ausgrenzung seitens ihrer Familie) ist sie als alleinstehend anzusehen. Die BF1 wäre bei einer allfälligen Rückkehr ohne männlichen Schutz.
II.1.3. Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF4:
Dem BF4 könnte bei einer Rückkehr nach Syrien aufgrund der dort herrschenden schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.
Dem BF4 steht eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in Syrien nicht zur Verfügung.
Syrien befindet sich in einem Bürgerkrieg.
II.1.4. Zur maßgeblichen Situation in Syrien:
II.1.4.1. Sicherheitslage (LIB, Punkt 2):
Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention des Iran in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden. Mitte des Jahres 2016 kontrollierte die syrische Regierung ca. ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, inklusive der „wichtigsten“ Städte im Westen, in denen der Großteil der Syrer lebt.
Am Beginn des Jahres 2019 sind noch drei größere Gebiete außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung: die Provinz Idlib und angrenzende Gebiete im Westen der Provinz Aleppo und Norden der Provinz Hama; die Gebiete im Norden und Osten Syriens, die unter Kontrolle der kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) stehen; außerdem die Konfliktschutzzone (de-confliction zone) bei Tanf in Homs bzw. in der Nähe des Rukban Flüchtlingslagers.
Trotz weitreichender militärischer Erfolge des syrischen Regimes und seiner Unterstützer sind Teile Syriens noch immer von Kampfhandlungen betroffen, allen voran die Provinzen Idlib, Teile Aleppos, Raqqas und Deir ez-Zours.
Laut UNMAS (United Nations Mine Action Service) sind 43% der besiedelten Gebiete Syriens mit Mienen und Fundmunition kontaminiert. Es kommt immer wieder zu Zwischenfällen mit derartigen Hinterlassenschaften des bewaffneten Konfliktes zum Beispiel im Osten der Stadt Aleppo, Ost-Ghouta und im Osten Hamas.
Der sogenannte Islamische Staat (IS) kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens und des Irak. Ende März 2019 wurde mit Baghuz die letzte Bastion des IS von den oppositionellen „Syrian Democratic Forces“ erobert. Der IS ist zwar zerschlagen, verfügt aber noch immer über militärische Einheiten, die sich in den Wüstengebieten Syriens und des Irak versteckt halten. Schläferzellen des IS sind sowohl im Irak als auch in Syrien weiterhin aktiv. Gegenwärtig sollen im Untergrund mehr als 20.000 IS-Kämpfer auf eine Gelegenheit zur Rückkehr warten.
US-Präsident Donald Trump kündigte im Dezember 2018 an, alle 2.000 US-Soldaten aus Syrien abziehen zu wollen. Nachdem Trump Anfang Oktober 2019 erneut ankündigte, die US-amerikanischen Truppen aus der syrisch-türkischen Grenzregion abzuziehen, startete die Türkei am 9. Oktober 2019 eine Luft- und Bodenoffensive im Nordosten Syriens. Durch den Abzug der US-Streitkräfte aus Nordsyrien und die türkische Offensive und damit einhergehende Schwächung der kurdischen Sicherheitskräfte wird ein Wiedererstarken des IS befürchtet.
Die NGO Syrian Network for Human Rights (SNHR) versucht die Zahlen ziviler Todesopfer zu erfassen, für die einzelnen Monate des Jahres 2018 finden sich deren Daten in der unten befindlichen Grafik. Getötete Kämpfer werden in dem Bericht nicht berücksichtigt. Betont wird außerdem, dass die Organisation in vielen Fällen Vorkommnisse nicht dokumentieren konnte, besonders im Fall von „Massakern“, bei denen Städte und Dörfer komplett abgeriegelt wurden. Die hohe Zahl solcher Berichte lässt darauf schließen, dass die eigentlichen Zahlen ziviler Opfer weit höher als die unten angegebenen sind.
Laut SNHR wurden im Jahr 2018 6964 Zivilisten und im Jahr 2019 bis August 2564 Zivilisten getötet.
II.1.4.1.1. Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien (LIB, Punkt 2.4):
Seit Mai 2018 hat sich die allgemeine Sicherheitslage in den von der Regierung kontrollierten Gebieten Syriens, darunter finden sich auch die wichtigsten Städte wie Lattakia, Homs, Hama, Tartous und Damaskus, deutlich verbessert. Im Allgemeinen kam es im Vergleich mit den Zahlen vor Juli 2018 zu einem signifikanten Rückgang der militärischen Auseinandersetzungen und der sicherheitsrelevanten Vorfälle in von der Regierung kontrollierten Gebieten. Die Situation bleibt in einigen Gegenden jedoch angespannt, wie im Osten der Provinz Lattakia, im Westen der Provinz Aleppo und im Norden der Provinz Hama. In Bezug auf die Art der sicherheitsrelevanten Vorfälle gibt es Berichte von Beschuss, bewaffneten Zusammenstößen, Entführungen sowie Explosionen von Kampfmittelresten.
Die Küstenregion wurde im Großen und Ganzen vom militärischen Konflikt verschont. Der Norden sieht sich gleichwohl mit einem gelegentlichen „Spillover“ von Idlib aus konfrontiert. So gibt es aktuell im ländlichen Lattakia Auseinandersetzungen zwischen syrischer Armee und Rebellen. In den größeren Städten und deren Einzugsgebieten wie Damaskus und Homs stellt sich die Sicherheitslage als relativ stabil dar, auch wenn es immer wieder zu gezielten Anschlägen zumeist auf regierungsnahe Personen kommt.
Die Regierung besitzt nicht die nötigen Kapazitäten, um alle von ihr gehaltenen Gebiete auch tatsächlich zu kontrollieren. Daher greift die Regierung auf unterschiedliche Milizen zurück, um manche Gegenden und Checkpoints in Aleppo, Lattakia, Tartous, Hama, Homs und Deir ez-Zour zu kontrollieren. Es gibt auch Berichte, wonach es in einigen Gebieten zu Zusammenstößen sowohl zwischen den unterschiedlichen Pro-Regierungs-Milizen als auch zwischen diesen und Regierungstruppen gekommen ist.
In den ersten Monaten des Jahres 2018 erlebte Ost-Ghouta, nahe der Hauptstadt Damaskus, die heftigste Angriffswelle der Regierung seit Beginn des Bürgerkrieges. Mitte April 2018 wurde die Militäroffensive der syrischen Armee auf die Rebellenenklave von Seiten der russischen Behörden und der syrischen Streitkräfte für beendet erklärt. Ende Mai 2018 zogen sich die letzten Rebellen aus dem Großraum Damaskus zurück, wodurch die Hauptstadt und ihre Umgebung erstmals wieder in ihrer Gesamtheit unter der Kontrolle der Regierung standen. Seitdem hat sich die Sicherheitslage in Damaskus und Damaskus-Umland deutlich verbessert. Im Januar kam es zu zwei Bombenanschlägen in Damaskus Stadt. Einem in der Nähe eines Büros des Militärischen Nachrichtendienstes im Süden mit mehreren Todesopfern, und einem mittels einer Autobombe in der Nähe der russischen Botschaft mit Verletzten. Einer internationalen humanitären Organisation zufolge ist es weniger wahrscheinlich, dass Angriffe dieser Art in Damaskus (im Gegensatz zu anderen großen Städten) passieren, weil die Hauptstadt durch Sicherheitskräfte schwer bewacht ist.
Seit 2012 führte Israel dutzende Luftschläge auf syrischem Staatsgebiet durch, hauptsächlich auf Orte oder Konvois in der Nähe der libanesischen Grenze, die mit Waffenlieferungen an die Hizbollah in Verbindung stehen, bzw. generell auf iranische Ziele und Ziele mit dem Iran verbündeter Milizen. Es soll etwa ein bis zweimal im Monat zu Angriffen der israelischen Luftwaffe auf Ziele in der Provinz Damaskus kommen. Bis Ende Januar 2019 äußerte sich die israelische Armee nicht oder nur selten und erst nach einiger Zeit über Spekulationen zu Luftangriffen auf syrischem Staatsgebiet, für die die israelische Armee verantwortlich sein soll. Ende Januar berichteten die israelischen Streitkräfte beinahe zeitgleich über einen Angriff auf iranische Ziele in Syrien. Laut dem pensionierten Generalstabsschef der israelischen Streitkräfte Gadi Eisenkot hätte Israel sogar tausende Luftangriffe durchgeführt. Seit 2017 soll es nahezu täglich zu israelischen Angriffen kommen. Im Jahr 2018 wurden demnach 2.000 Bomben abgeworfen. Syrischen Staatsmedien zufolge wurden Anfang Juli 2019, bei israelischen Luftangriffen nahe der Hauptstadt Damaskus und in der Provinz Homs, vier Zivilisten getötet und 21 Personen verletzt.
II.1.4.2. Rechtsschutz / Justizwesen (LIB, Punkt 3):
II.1.4.2.1. Gebiete unter der Kontrolle des syrischen Regimes (LIB, Punkt 3.1):
Das Justizsystem Syriens besteht aus Zivil-, Straf-, Militär-, Sicherheits- und religiösen Gerichten sowie einem Kassationsgericht. Gerichte für Personenstandsangelegenheiten regeln das Familienrecht. 2012 wurde in Syrien ein Anti-Terror-Gericht (Counter Terrorism Court – CTC) eingerichtet. Dieses soll Verhandlungen aufgrund „terroristischer Taten“ gegen Zivilisten und Militärpersonal führen, wobei die Definition von Terrorismus im entsprechenden Gesetz sehr weit gefasst ist. Verschiedene Organisationen kritisieren das Anti-Terror-Gericht (CTC) und die Militärgerichte wegen Mängeln bezüglich des fairen Verfahrens. Die Verhandlungen dauern angeblich oft nur wenige Minuten und enthalten als Beweise oft nur unter Folter erzwungene Geständnisse. Für die Militärgerichte gibt es keine Berufungsmöglichkeit und sie können die Bestellung eines Rechtsanwaltes verweigern.
Die Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Behörden üben auf die Gerichte jedoch oft politischen Einfluss aus. Staatsanwälte und Strafverteidiger sind oft Gegenstand von Einschüchterung und Misshandlung. Die Ergebnisse von Fällen mit politischem Kontext scheinen schon vorbestimmt zu sein. Das Recht auf ein öffentliches Verfahren ist in der Verfassung festgehalten, wird jedoch in der Praxis nicht respektiert. Regierungsbehörden verhafteten Zehntausende Menschen, u.a. Menschenrechtsaktivisten, Journalisten, religiöse Führer sowie Mitarbeiter von NGOs, Hilfsorganisationen und medizinischen Einrichtungen ohne diesen Zugang zu einem fairen öffentlichen Verfahren zu garantieren. Berichten zufolge werden Verdächtige auch ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) und für überlange Zeit festgehalten. Bei Vorwürfen, welche die nationale Sicherheit oder politische Vergehen betreffen, soll es häufig zu geheimen Verhaftungen kommen.
In Syrien vorherrschend und von langer Tradition ist eine Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Recht und der Implementierung der Gesetze in der Praxis. Die in den letzten Jahren noch angewachsene und weit verbreitete Korruption hat diese Diskrepanz noch zusätzlich verstärkt. Das Justizsystem in Syrien kann nicht als unabhängig und transparent angesehen werden und steht unter der Kontrolle der Exekutivgewalt und ihrer Zweige. Das deutsche Auswärtige Amt beurteilte die Unabhängigkeit der syrischen Justiz bereits vor dem Aufstand als mangelhaft. Der Aufstand und der bewaffnete Konflikt in Syrien gehen mit massiver Repression, grassierender Korruption und einer Politisierung des Gerichtswesens durch die Regierung einher. Mittlerweile sind syrische Gerichte, ganz gleich ob Straf-, Zivil- oder Verwaltungsgerichtsbarkeit, korrupt, nicht unabhängig, und werden für politische Zwecke missbraucht. In keinem Teil Syriens gibt es Rechtssicherheit oder verlässlichen Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Rechtsstaatlichkeit ist schwach ausgeprägt, wenn nicht mittlerweile gänzlich durch eine Situation der Straffreiheit untergraben, in der Angehörige von Sicherheitsdiensten ohne strafrechtliche Konsequenzen und ohne jegliche zivile Kontrolle operieren können. Generell ist die Willkür in Syrien seit dem Ausbruch des Konfliktes gestiegen.
Die Verwaltung, in den von der Regierung kontrollierten Gebieten, arbeitet in Routineangelegenheiten mit einer gewissen Zuverlässigkeit, vor allem in Personenstandsangelegenheiten. Die religiösen Gerichte behandeln das Familien- und Personenstandsrecht und regeln Angelegenheiten wie Eheschließungen, Scheidungen, Erb- und Sorgerecht. Hierbei sind Scharia-Gerichte für sunnitische und schiitische Muslime zuständig. Drusen, Christen und Juden haben ihre eigenen gerichtlichen Strukturen. Für diese Gerichte gibt es auch eigene Berufungsgerichte. Manche Personenstandsgesetze wenden die Scharia unabhängig von der Religionszugehörigkeit der Beteiligten an.
II.1.4.3. Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen (LIB, Punkt 4):
Die Regierung hat zwar die effektive Kontrolle über die uniformierten Polizei-, Militär- und Staatssicherheitskräfte, nicht jedoch über ausländische und einheimische militärische oder paramilitärische Einheiten, z.B. russische Streitkräfte, Hisbollah, Islamische Revolutionsgarden und nicht uniformierte Milizen wie die National Defense Forces (NDF). Der Präsident stützt seine Herrschaft auf die Loyalität der Streitkräfte sowie der militärischen und zivilen Geheimdienste. Die Befugnisse dieser Dienste, die von Verwandten oder engen Vertrauten des Präsidenten geleitet werden und sich auch gegenseitig kontrollieren, unterliegen keinen definierten Beschränkungen. Straflosigkeit unter den Sicherheitsbehörden bleibt ein weit verbreitetes Problem. Das Generalkommando der Armee und der Streitkräfte kann im Fall von Verbrechen von Militäroffizieren, Mitgliedern der internen Sicherheitskräfte oder Zollpolizeioffizieren im Rahmen ihrer beruflichen Pflichten, einen Haftbefehl ausstellen. Solche Fälle müssen vor einem Militärgericht verhandelt werden. In der Praxis sind keine Fälle von Strafverfolgung oder Verurteilung von Polizei- und Sicherheitskräften hinsichtlich Misshandlung und Korruption bekannt. Die Sicherheitskräfte operieren unabhängig und im Allgemeinen außerhalb der Kontrolle des Justizwesens. Es gibt auch keine Berichte von Maßnahmen der Regierung, um die Einhaltung der Menschenrechte durch die Sicherheitskräfte zu verbessern.
Russland, Iran, die libanesische Hizbollah und Einheiten mit irakischen Kämpfern unterstützen die syrische Regierung, unter anderem mit Einsätzen an der Seite der syrischen Streitkräfte.
Es ist schwierig Informationen über die Aktivitäten von spezifischen Regierungs- oder regierungstreuen Einheiten zu spezifischen Zeiten oder an spezifischen Orten zu finden, weil die Einheiten seit dem Beginn des Bürgerkrieges oft nach Einsätzen organisiert („task-organized“) sind oder aufgeteilt oder für spezielle Einsätze mit anderen Einheiten zusammengelegt werden. Berichte sprechen oft von einer speziellen Militäreinheit an einem bestimmten Einsatzort (z.B. einer Brigade) wobei die genannte Einheit aus Teilen mehrerer verschiedener Einheiten nur für diesen speziellen Einsatz oder eine gewisse Zeit zusammengesetzt wurde.
II.1.4.3.1. Streitkräfte (LIB, Punkt 4.1):
Die syrischen Streitkräfte bestehen aus dem Heer, der Marine, der Luftwaffe und den Geheimdiensten. Vor dem Konflikt soll die syrische Armee eine Mannstärke von geschätzt 295.000 Personen gehabt haben. Der Aufbau der syrischen Armee basiert auf dem sogenannten Quta‘a-System [arab. Sektor, Landstück]. Hierbei wird jeder Division (firqa) ein bestimmtes Gebiet (quta‘a) zugeteilt. Mit diesem System wurde in der Vergangenheit verhindert, dass Offiziere überlaufen. Gleichzeitig gab die Armee dem Divisionskommandeur für den Fall eines Zusammenbruchs der Kommunikation oder für Notfälle, freie Hand über dieses Gebiet. Gleichzeitig kann dadurch der Präsident den Einfluss einzelner Divisionskommandeure einschränken, indem er sie gegeneinander ausspielt. Im Zuge des Konfliktes hat das Regime loyale Einheiten in größere Einheiten eingegliedert, um eine bessere Kontrolle ausüben und ihre Effektivität im Kampf verbessern zu können.
II.1.4.3.2. Zivile und militärische Sicherheits- und Nachrichtendienste, Polizei (LIB, Punkt 4.2):
Die zahlreichen syrischen Sicherheitsbehörden arbeiten autonom und ohne klar definierte Grenzen zwischen ihren Aufgabenbereichen. Das Innenministerium kontrolliert vier verschiedene Abteilungen der Polizei: Notrufpolizei, Verkehrspolizei, Nachbarschaftspolizei und Bereitschaftspolizei („riot police“).
Es gibt vier Hauptzweige der Sicherheits- und Nachrichtendienste: den Militärischen Nachrichtendienst, den Luftwaffennachrichtendienst, das Direktorat für Politische Sicherheit und das Allgemeine Nachrichtendienstdirektorat. Diese vier Dienste arbeiten unabhängig voneinander und größtenteils außerhalb des Justizsystems, überwachen einzelne Staatsbürger und unterdrücken oppositionelle Stimmen innerhalb Syriens. Jeder Geheimdienst unterhält eigene Gefängnisse und Verhöreinrichtungen, bei denen es sich de facto um weitgehend rechtsfreie Räume handelt. Die Geheimdienste haben ihre traditionell starke Rolle im Zuge des Konfliktes verteidigt oder sogar weiter ausgebaut. Vor 2011 war die vorrangige Aufgabe der Nachrichtendienste die syrische Bevölkerung zu überwachen. Seit dem Beginn des Konfliktes nutzte Assad den Sicherheitssektor, um die Kontrolle zu behalten. Diese Einheiten überwachten, verhafteten, folterten und exekutierten politische Gegner sowie friedliche Demonstranten. Um seine Kontrolle über die Sicherheitsdienste zu stärken, sorgte Assad künstlich für Feindschaft und Konkurrenz zwischen ihnen. Um die Loyalität zu sichern wurde einzelnen Behörden bzw. Beamten die Kontrolle über alle Bereiche des Staatswesens in einem bestimmten Gebiet überlassen, was für diese eine enorme Geldquelle darstellt.
Die Sicherheitskräfte nutzen eine Reihe an Techniken, um Bürger einzuschüchtern oder zur Kooperation zu bringen. Diese Techniken beinhalten im besten Fall Belohnungen, andererseits jedoch auch Zwangsmaßnahmen wie Reiseverbote, Überwachung, Schikanen von Individuen und/oder deren Familienmitgliedern, Verhaftungen, Verhöre oder die Androhung von Inhaftierung. Die Zivilgesellschaft und die Opposition in Syrien erhalten spezielle Aufmerksamkeit von den Sicherheitskräften, aber auch ganz im Allgemeinen müssen Gruppen und Individuen mit dem Druck der Sicherheitsbehörden umgehen.
Der Sicherheitssektor stellt die allgegenwärtige Kontrolle über die Gesellschaft (sowohl informell als auch formell) wieder her. Festnahmen und Inhaftierungen werden genutzt, um Informationen zu erhalten, jene, die als illoyal gesehen werden, zu bestrafen und um Geld für die Freilassung der Inhaftierten zu erpressen.
II.1.4.3.3. Volkskomitees, National Defence Forces, Viertes Korps, Fünftes Korps (LIB, Punkt 4.3):
Die National Defence Forces (NDF) sind eine Dachorganisation für verschiedene Pro-Regime-Milizen und wurden aus sogenannten Volkskomitees gegründet. Der Iran und die libanesische Hizbollah spielten eine wichtige Rolle bei der Gründung der NDF nach dem Vorbild der iranischen paramilitärischen Basij-Einheiten. Die NDF sind nicht Teil der syrischen Armee, aber offiziell als „Verbündete“, als legitime Institutionen anerkannt, die Waffen tragen dürfen und zudem operative und logistische Unterstützung durch die syrische Armee erhalten.
Die regierungstreuen Milizen stellen für die Regierung jedoch auch eine Konkurrenz dar, z.B. im Zusammenhang mit Rekrutierung, da die Milizen teilweise über bessere Finanzierung verfügen und somit höheren Sold bezahlen können. Manche der bewaffneten Gruppen kritisieren die syrische Regierung und ihre Geheimdienste auch vergleichsweise offen. Laut Expertenmeinungen wird die syrische Regierung diese Konkurrenz um Rekruten und Ressourcen nach Ende der Kampfhandlungen nicht mehr tolerieren.
Im Oktober 2015 wurde das sogenannte Vierte Korps (Fourth Storming Corps/Fourth Assault Corps) und im November 2016 das Fünfte Korps (Fifth Storming Corps/Fifth Assault Corps) gegründet. Ähnlich wie die NDF sollten auch diese beiden Einheiten Strukturen bieten, in denen regierungstreue Milizen integriert und so unter die Kontrolle der Regierung gebracht werden können. Zudem sollte das Fünfte Korps um freiwillige Rekruten werben. Rekruten können, ähnlich wie bei den NDF, ihren Wehrdienst anstatt in der regulären syrischen Armee, auch im Fünften Korps, ableisten.
II.1.4.3.4. Ausländische Kämpfer, bzw. Angehörige ausländischer Streitkräfte, auf Seiten des Regimes (LIB, Punkt 4.4):
Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Unterstützung mit fortschrittlichen Waffentechnologien, Spezialeinheiten und aus der Luft, sowie die ausgeweitete Bodenintervention des Iran konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden. Die iranische Koalition besteht aus iranischen Kämpfern (Teileinheiten aus dem Islamic Revolutionary Guard Corps und Mitgliedern der regulären iranischen Streitkräfte – sogenannte „Artesh“-Kämpfer) und ausländischen Kämpfern, darunter Pakistanis und Afghanen. Zudem unterstützt der Iran auch lokale paramilitärische Gruppen. Diese Koalition stellt einen überproportionalen Anteil der Infanterie, die in größeren Operationen auf Seiten der Regierung eingesetzt wird.
Die iranischen Offiziere unterstützen Einheiten der syrischen Armee, regierungstreue Milizen, die Hizbollah und irakische schiitische Milizen bei der Planung und Koordination von Einsätzen. Die afghanischen und pakistanischen Kämpfer werden von den iranischen Einheiten rekrutiert, ausgebildet, versorgt und ihre Führung im Kampf wird von iranischer Seite organisiert. Die Truppenstärke der afghanischen Fatemiyoun-Brigade, die seit Ende 2013 in Syrien eingesetzt wird, beläuft sich je nach Quelle auf 2.000-4.000 bzw. 6.000-10.000 Kämpfer. Die aus pakistanischen Kämpfern zusammengesetzte Einheit der Zainabiyoun-Brigade, die seit 2015 in Syrien eingesetzt wird, besitzt eine wahrscheinliche Truppenstärke von durchschnittlich unter 1.000 Kämpfern.
Hochrangige syrische Funktionäre erlebten durch die iranische und russische Dominanz einen Machtverlust, der wiederholt zu Spannungen in der iranisch-russisch-syrischen Militärkooperation führte. Im Zuge dessen kam es auch zu „Säuberungen, Exekutionen und Versetzungen“ von niederrangigen oder auch höherrangigen syrischen Offizieren, die sich gegen die Ausweitung des iranischen Einflusses wehrten.
II.1.4.4. Folter, Haftbedingungen und unmenschliche Behandlung (LIB, Punkt 5.5):
Das Gesetz verbietet Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen oder Strafen, wobei das Strafgesetzbuch eine Strafe von maximal drei Jahren Gefängnis für Täter vorsieht. Nichtsdestotrotz wenden die Sicherheitskräfte in Tausenden Fällen solche Praktiken an. Willkürliche Festnahmen, Misshandlung, Folter und Verschwindenlassen sind in Syrien weit verbreitet. Sie richten sich von Seiten der Regierung insbesondere gegen Oppositionelle oder Menschen, die vom Regime als oppositionell wahrgenommen werden.
NGOs berichten glaubhaft, dass die syrische Regierung und mit ihr verbündete Milizen physische Misshandlung, Bestrafung und Folter an oppositionellen Kämpfern und Zivilisten begehen. Vergewaltigung und sexueller Missbrauch von Frauen, Männern und Minderjährigen sind weit verbreitet. Die Regierung soll hierbei auch auf Personen abzielen, denen Verbindungen zur Opposition vorgeworfen werden. Es sind zahllose Fälle dokumentiert, bei denen Familienmitglieder wegen der als regierungsfeindlich wahrgenommenen Tätigkeit von Verwandten inhaftiert und gefoltert wurden, auch wenn die als regierungsfeindlich wahrgenommenen Personen ins Ausland geflüchtet waren.
Systematische Folter und die Bedingungen in den Haftanstalten führen häufig zum Tod der Insassen. Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Hygiene und Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung. Diese Bedingungen waren so durchgängig, dass die UN Commission of Inquiry zu dem Schluss kam, diese seien Regierungspolitik. Laut Berichten von NGOs gibt es zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leerstehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festhalten werden. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) an unbekannten Orten fest. Von Familien von Häftlingen wird Geld verlangt, dafür dass die Gefangenen Nahrung erhalten und nicht mehr gefoltert werden, was dann jedoch nicht eingehalten wird. Große Summen werden gezahlt, um die Freilassung von Gefangenen zu erwirken.
In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht. Im Zuge dieses Prozesses kommt es zu Folter und Todesfällen. Selten wird ein Häftling freigelassen. Unschuldige bleiben oft in Haft, um Geldsummen für ihre Freilassung zu erpressen oder um sie im Zuge eines „Freilassungsabkommens“ auszutauschen.
Seit Sommer 2018 werden von den Regierungsbehörden Sterberegister veröffentlicht, wodurch erstmals offiziell der Tod von 7.953 Menschen in Regierungsgewahrsam bestätigt wurde, wenn auch unter Angabe wenig glaubwürdiger amtlich festgestellter natürlicher Todesursachen (Herzinfarkt, etc.). Berichte von ehemaligen Insassen sowie Menschenrechtsorganisationen benennen als häufigste Todesursachen Folter, Krankheit als Folge mangelnder Ernährung und Hygiene in den Einrichtungen und außergerichtliche Tötung. Die syrische Regierung übergibt die Überreste der Verstorbenen nicht an die Familien.
Mit Stand Dezember 2018 ist der Verbleib von 100.000 syrischen Gefangenen noch immer unbekannt. Laut Menschenrechtsgruppen und den Vereinten Nationen sind wahrscheinlich Tausende, wenn nicht Zehntausende davon umgekommen.
Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind jedoch keine Neuerung der Jahre seit Ausbruch des Konfliktes, sondern waren bereits zuvor gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien.
Russland, der Iran und die Türkei haben im Zusammenhang mit den Astana-Verhandlungen wiederholt zugesagt, sich um die Missstände bezüglich willkürlicher Verhaftungen und Verschwindenlassen zu kümmern. Im Dezember 2017 gründeten sie eine Arbeitsgruppe zu Inhaftierungen und Entführungen im syrischen Konflikt, es waren bisher jedoch nur geringe Fortschritte zu verzeichnen.
Auch die Rebellengruppierungen werden außergerichtlicher Tötungen und der Folter von Inhaftierten beschuldigt. Opfer sind vor allem (vermutete) regierungstreue Personen und Mitglieder von Milizen oder rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Zu den Bedingungen in den Hafteinrichtungen der verschiedenen regierungsfeindlichen Gruppen ist wenig bekannt, NGOs berichten von willkürlichen Verhaftungen, Folter und unmenschlicher Behandlung. Der IS bestrafte häufig Opfer in der Öffentlichkeit und zwang Bewohner, darunter auch Kinder, Hinrichtungen und Amputationen mitanzusehen. Es gibt Berichte zu Steinigungen und Misshandlungen von Frauen. Dem sogenannten Islamischen Staat (IS) werden systematische Misshandlungen von Gefangenen der Freien Syrischen Armee (FSA) und der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) vorgeworfen. Berichtet werden auch Folter und Tötungen von Gefangenen durch den IS.
II.1.4.5. Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen (LIB, Punkt 7):
II.1.4.5.1. Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst (LIB, Punkt 7.2):
Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von 18 oder 21 Monaten gesetzlich verpflichtend. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit eines freiwilligen Militärdienstes. Frauen können ebenfalls freiwillig Militärdienst leisten. Palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht, dienen jedoch in der Regel in der Palestinian Liberation Army (PLA) unter palästinensischen Offizieren. Diese ist jedoch de facto ein Teil der syrischen Armee. Auch Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert.
Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Erreichen des 42. Lebensjahres in den aktiven Dienst einberufen werden. Vor dem Ausbruch des Konflikts bestand der Reservedienst im Allgemeinen nur aus mehreren Wochen oder Monaten Ausbildung zur Auffrischung der Fähigkeiten, und die Regierung berief Reservisten nur selten ein. Seit 2011 hat sich das jedoch geändert. Es liegen außerdem einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z.B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung). Manche Personen werden wieder zum aktiven Dienst einberufen, andere wiederum nicht, was von vielen verschiedenen Faktoren abhängt. Es ist sehr schwierig zu sagen, ob jemand tatsächlich zum Reservedienst einberufen wird. Männer können ihren Dienst-/Reservedienststatus bei der Militärbehörde überprüfen. Die meisten tun dies jedoch nur auf informellem Weg, um zu vermeiden, sofort rekrutiert zu werden.
Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Militärbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit, oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten. Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen.
Die syrische Armee hat durch Verluste, Desertion und Überlaufen zu den Rebellen einen schweren Mangel an Soldaten zu verzeichnen.
Aktuell ist ein „Herausfiltern“ von Militärdienstpflichtigen im Rahmen von Straßenkontrollen oder an einem der zahlreichen Checkpoints weit verbreitet. In der Praxis wurde die Altersgrenze erhöht und auch Männer in ihren späten 40ern und frühen 50ern sind gezwungen Wehr-/Reservedienst zu leisten. Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab, als vom allgemeinen Gesetz. Dem Experten zufolge würden jedoch jüngere Männer genauer überwacht, ältere könnten leichter der Rekrutierung entgehen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht. Die Behörden ziehen vornehmlich Männer bis 27 ein, während Ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise nach oben angehoben, sodass auch Männer bis zu einem Alter von 55 Jahren eingezogen wurden, bzw. Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen können. Ebenso wurden seit Ausbruch des Konflikts aktive Soldaten auch nach Erfüllung der Wehrpflicht nicht aus dem Wehrdienst entlassen.
Die Militärpolizei verhaftet in Gebieten unter der Kontrolle der Regierung junge Männer, die für den Wehrdienst gesucht werden. Nachdem die meisten fixen Sicherheitsbarrieren innerhalb der Städte aufgelöst wurden, patrouilliert nun die Militärpolizei durch die Straßen. Diese Patrouillen stoppen junge Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln und durchsuchen Wohnungen von gesuchten Personen. Es gab in der Vergangenheit Fälle, in denen Familienmitglieder von Wehrdienstverweigerern oder Deserteuren Vergeltungsmaßnahmen wie Unterdrucksetzung und Inhaftierung ausgesetzt waren.
Im November 2017 beschloss das syrische Parlament eine Gesetzesnovelle der Artikel 74 und 97 des Militärdienstgesetzes. Die Novelle besagt, dass jene, die das Höchstalter für die Ableistung des Militärdienstes überschritten haben und den Militärdienst nicht abgeleistet haben, aber auch nicht aus etwaigen gesetzlich vorgesehenen Gründen vom Wehrdienst befreit sind, eine Kompensationszahlung von 8.000 USD oder dem Äquivalent in SYP leisten müssen. Diese Zahlung muss innerhalb von drei Monaten nach Erreichen des Alterslimits geleistet werden. Wenn diese Zahlung nicht geleistet wird, ist die Folge eine einjährige Haftstrafe und die Zahlung von 200 USD für jedes Jahr, um welches sich die Zahlung verzögert, wobei der Betrag 2000 USD oder das Äquivalent in SYP nicht übersteigen soll. Jedes begonnene Jahr der Verzögerung wird als ganzes Jahr gerechnet. Außerdem kann basierend auf einem Beschluss des Finanzministers das bewegliche und unbewegliche Vermögen der Person, die sich weigert den Betrag zu bezahlen, konfisziert werden.
II.1.4.5.2. Befreiung und Aufschub (LIB, Punkt 7.3):
Der einzige Sohn einer Familie, Studenten oder Regierungsangestellte können vom Wehrdienst befreit werden oder diesen aufschieben. Auch medizinische Gründe können Befreiung oder Aufschub bedingen. Diese Ausnahmen sind theoretisch immer noch als solche definiert, in der Praxis gibt es jedoch mittlerweile mehr Beschränkungen und es ist unklar, wie die entsprechenden Gesetze derzeit umgesetzt werden. Es scheint, dass es schwieriger wird, einen Aufschub zu erlangen, je länger der Konflikt andauert. Das Risiko der Willkür ist immer gegeben.
Seit einer Änderung des Gesetzes über den verpflichtenden Wehrdienst im Juli 2019 ist die Aufschiebung des Militärdienstes jedenfalls nur bis zum Alter von 37 Jahren möglich, zudem kann die Aufschiebung durch Befehl des Oberbefehlshabers beendet werden.
Unbestätigte Berichte legen nahe, dass der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit über den Wegfall von Aufschubgründen informiert ist, und diese auch digital überprüft werden. Zuvor mussten Studenten den Status ihres Studiums selbst dem Militär melden, mittlerweile wird der Status der Studenten jedoch aktiv überprüft. Generell werden Universitäten nun strenger überwacht und von diesen wird nun verlangt, dass sie das Militär über die Anwesenheit bzw. Abwesenheiten der Studenten informieren. Einem Bericht zufolge gibt es nun in Bezug auf ein Studium als Befreiungsgrund auch Altersgrenzen für den Abschluss des Studiums. Ein weiterer Bericht gibt an, dass gelegentlich Studenten trotz einer Befreiung bei Checkpoints rekrutiert wurden.
Syrische Männer mit Wohnsitz und Aufenthaltserlaubnis im Ausland können sich gegen Zahlung eines „Wehrersatzgeldes“ vom Wehrdienst befreien lassen. Laut Wehrpflichtgesetz Art. 46 von 2012 beträgt diese Zahlung je nach Wohnort zwischen 4.000 und 5.000 USD. Gemäß Gesetz Nr. 33 vom August 2014 müssen bei einem Auslandsaufenthalt von über vier Jahren 8.000 USD bezahlt werden. Für im Ausland geborene und weiterhin wohnhafte Syrer im wehrpflichtigen Alter beträgt diese Zahlung 2.500 USD. Es ist jedoch nicht bekannt, ob dies auch für syrische Männer gilt, die seit Beginn des Bürgerkriegs ins Ausland geflüchtet sind.
Es gibt Beispiele, wo Männer sich durch die Bezahlung von Bestechungsgeldern vom Wehrdienst freigekauft haben, was jedoch keineswegs als einheitliche Praxis betrachtet werden kann. So war es vor dem Konflikt gängige Praxis sich vom Wehrdienst freizukaufen, was einen aber nicht davor schützt, im Zuge des aktuellen Konfliktes - manchmal sogar Jahre danach - trotzdem eingezogen zu werden.
Christliche und muslimische religiöse Führer können weiterhin aus Gewissensgründen vom Militärdienst befreit werden, wobei muslimische Führer dafür eine Abgabe bezahlen müssen. Es gibt Berichte, dass in einigen ländlichen Gebieten Mitgliedern der religiösen Minderheiten die Möglichkeit geboten wurde, sich lokalen regierungsnahen Milizen anzuschließen anstatt ihren Wehrdienst abzuleisten. In den Städten gab es diese Möglichkeit im Allgemeinen jedoch nicht und die Mitglieder der Minderheiten wurden unabhängig von ihrem religiösen Hintergrund zum Militärdienst eingezogen.
Von Staatsangestellten wird erwartet, dass sie dem Staat zur Verfügung stehen. Laut Legislativdekret Nr. 33 von 2014 wird das Dienstverhältnis von Staatsangestellten beendet, wenn sie sich der Einberufung zum Wehr- oder Reservedienst entziehen. Hierzu gab es Ende 2016 ein Dekret, welches jedoch nicht umfassend durchgesetzt wurde. Im November 2017 gab es eine erneute Direktive des Premierministers, der bereits eine nicht bekannte Anzahl von Entlassungen folgte.
II.1.4.5.3. Wehrdienstverweigerung / Desertion (Punkt 7.4):
Im Verlauf des syrischen Bürgerkrieges verlor die syrische Armee viele Männer aufgrund von Wehrdienstverweigerung, Desertion, Überlaufen und zahlreichen Todesfällen.
Wehrdienstverweigerer werden laut Gesetz in Friedenszeiten mit ein bis sechs Monaten Haft bestraft, die Wehrpflicht besteht dabei weiterhin fort. In Kriegszeiten wird Wehrdienstverweigerung laut Gesetz, je nach den Umständen, mit Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren bestraft. Bezüglich der Konsequenzen einer Wehrdienstverweigerung gehen die Meinungen der Quellen auseinander. Während manche die Ergreifung eines Wehrdienstverweigerers mit Foltergarantie und Todesurteil gleichsetzen, sagen andere, dass Betroffene sofort eingezogen würden. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab.
Berichten zufolge betrachtet die Regierung Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen zu schützen.
Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt.
Desertion wird gemäß dem Militärstrafgesetz von 1950 in Friedenszeiten mit ein bis fünf Jahren Haft bestraft und kann in Kriegszeiten bis zu doppelt so lange Haftstrafen nach sich ziehen. Deserteure, die zusätzlich außer Landes gefloh