TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/27 I419 2144486-1

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Veröffentlicht am 27.11.2020
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Entscheidungsdatum

27.11.2020

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch

I419 2144486-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Tomas JOOS über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. IRAK, vertreten durch RA Mag. Michael-Thomas REICHENVATER, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 20.12.2016, Zl. XXXX, zu Recht:

A) 1. Der Beschwerde wird teilweise Folge gegeben. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wird XXXX der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuerkannt.

2. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird ihm eine für ein Jahr gültige befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt.

3. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

4. Die Spruchpunkte II, III und IV des angefochtenen Bescheids werden aufgehoben.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte im April 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit dem bekämpften Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers betreffend die Status des Asyl- und des subsidiär Schutzberechtigten bezogen auf Irak ab (Spruchpunkte I und II), erteilte keinen Aufenthaltstitel „aus berücksichtigungswürdigen Gründen“ „gemäß § 57 AsylG“, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass dessen Abschiebung in den Irak zulässig ist (Spruchpunkt III) und die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft betrage (Spruchpunkt IV).

2. Beschwerdehalber wird vorgebracht, der Beschwerdeführer habe sich an der Universität mit kritischen Äußerungen in einer Studentengruppe den Unmut eines Kommilitonen zugezogen und sei von diesem vor der Gruppe bedroht worden. Nach wenigen Tagen sei zuhause nach ihm gesucht, sein Vater geschlagen und sein Laptop entwendet worden. Es habe sich um eine schiitische Miliz gehandelt, und etwa zwei Monate nach seiner Flucht habe auch noch die Polizei das Haus nach ihm durchsucht.

Die schiitisch dominierten Behörden seien nicht in der Lage, teils nicht einmal willens, die sunnitische Bevölkerung zu schützen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der unter Punkt I beschriebene Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist Anfang 30, ledig, Sunnit und Araber. Er lebte mit seiner Familie in Bagdad, wo er aufwuchs, im sunnitischen Viertel Al Ameriya im Stadtbezirk Mansour. In Bagdad leben nach wie vor sein Bruder, Anfang 30, der verheiratet ist und beim Schwiegervater wohnt, und seine beiden verheirateten Schwestern im Alter von bald 18 und Mitte 20. Seine Eltern leben getrennt, die Mutter, Angang 50, bei ihrem Bruder im Vorort Abu Ghraib, der Vater verblieb in Bagdad. Nach eigenen Angaben kontaktiert der Beschwerdeführer derzeit nur seine Mutter.

Im Herkunftsstaat hat er von 1995 bis 2009/10 die Schule und anschließend bis 2012/13 die private Universität Dijlah University College in Bagdad besucht, wo er nach seinen Aussagen einem Betriebswirtschaftsstudium nachging. Die Familie war finanziell mittelmäßig gut situiert. Der Beschwerdeführer wohnte zuhause und arbeitete nebenher als Maler und Anstreicher, im Betrieb seines Bruders, womit er das Studium finanzierte.

Er verließ den Herkunftsstaat zu einem nicht feststellbaren Zeitpunkt frühestens Sommer 2013 und spätestens März 2015, als er in Griechenland aufgegriffen wurde. Seine Identität steht fest. Er hält sich seit seiner Antragstellung im Inland auf.

Der Beschwerdeführer spricht Arabisch und hat 2018 die Deutschprüfung auf Niveau A1 mit „sehr gut“ bestanden. Er ist gesund und arbeitsfähig, nimmt keine Medikamente regelmäßig und erhält sich als selbständiger Gebäudereiniger selbst. Das Gewerbe hat er im August 2020 angemeldet. Seither bezieht er keine Grundversorgung mehr und bezahlt auch die Miete seiner Garconniere in der Steiermark selbst. Sein Einkommen liegt auch in schlechteren Monaten über € 1.000,--.

Die Objekte, in denen er reinigt und putzt, befinden sich in Graz, zwei auch in einer Gemeinde in Niederösterreich, wo er drei bis viermal monatlich jeweils für zwei oder drei Tage zum Arbeiten hinfährt.

Er führt in Österreich kein Familienleben und hat in Europa keine Verwandten. Seine Freizeit verbringt er beim Spazierengehen oder im Fitnessstudio. Er ist in keinem Verein tätig und verfügt über einen großen Freundes- und Bekanntenkreis. Vergangenen Dezember hat er in der Wohngemeinde gegen Remuneration beim Einrichten der Einlaufhalle assistiert. Mit Stall- und Hoftätigkeiten hat er sich für Reitstunden revanchiert und so das Reiten erlernt. Ferner betreibt er auch Bogenschießen sowie Chorgesang und kocht im Freundeskreis irakische Speisen. Er hat an mehreren Marathonläufen teilgenommen und drei Medaillen erzielt.

Im Herbst 2018 hat er eine Erste-Hilfe-Veranstaltung für Studierende der Zahnmedizin besucht. Gerne geht er auch ins Kino oder in den Zirkus. Er ist strafrechtlich unbescholten und hat Empfehlungsschreiben mit zusammen 12 Unterstützungserklärungen – den Namen nach Einheimischer – vorgelegt.

Der Beschwerdeführer hat nur für sich selbst zu sorgen und wäre körperlich und geistig in der Lage, das im Herkunftsstaat wie vor seiner Ausreise zu tun.

Der Aufenthalt des Beschwerdeführers ist überwiegend durch die Verfahrensdauer begründet, die deutliche, im Beschwerdeverfahren auch überlange Verzögerungen beinhaltet, die den Behörden zurechenbar sind.

1.2 Zur Situation im Herkunftsstaat:

Im angefochtenen Bescheid wurde das „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zum Irak auf Stand 08.04.2016 zitiert. Aktuell steht ein am 17.03.2020 erschienenes zur Verfügung. Im gegebenen Zusammenhang sind davon die folgenden Informationen von Relevanz und werden festgestellt:

1.2.1 Sicherheitslage

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).

Islamischer Staat (IS)

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).

Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).

Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).

Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020). […]

Sicherheitslage Bagdad

Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).

Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).

Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).

Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)

Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen. […]

1.2.2 Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha‘bi

Der Name „Volksmobilisierungskräfte“ (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF oder popular mobilization units, PMU), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa 40 bis 70 Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen (Süß 21.8.2017; vgl. FPRI 19.8.2019; Clingendael 6.2018; Wilson Center 27.4.2018). Die PMF wurden vom schiitischen Groß-Ayatollah Ali As-Sistani per Fatwa für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ins Leben gerufen (GIZ 1.2020a; vgl. FPRI 19.8.2019; Wilson Center 27.4.2018) und werden vorwiegend vom Iran unterstützt (GS 18.7.2019). PMF spielten eine Schlüsselrolle bei der Niederschlagung des IS (Reuters 29.8.2019). Die Niederlage des IS trug zur Popularität der vom Iran unterstützten Milizen bei (Wilson Center 27.4.2018).

Die verschiedenen unter den PMF zusammengefassten Milizen sind sehr heterogen und haben unterschiedliche Organisationsformen, Einfluss und Haltungen zum irakischen Staat. Sie werden grob in drei Gruppen eingeteilt: Die pro-iranischen schiitischen Milizen, die nationalistisch-schiitischen Milizen, die den iranischen Einfluss ablehnen, und die nicht schiitischen Milizen, die üblicherweise nicht auf einem nationalen Level operieren, sondern lokal aktiv sind. Zu letzteren zählen beispielsweise die mehrheitlich sunnitischen Stammesmilizen und die kurdisch-jesidischen „Widerstandseinheiten Schingal“. Letztere haben Verbindungen zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei und zu den Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien (Clingendael 6.2018). Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig (USDOS 11.3.2020; vgl. Clingendael 6.2018). In einigen Städten, vor allem in Gebieten, die früher vom IS besetzt waren, dominieren PMF die lokale Sicherheit. In Ninewa stellen sie die Hauptmacht dar, während die reguläre Armee zu einer sekundären Kraft geworden ist (Reuters 29.8.2019).

Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten, wie dem Iran oder Saudi-Arabien, unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mossul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt (AA 12.1.2019). Vertreter und Verbündete der PMF haben Parlamentssitze inne und üben Einfluss auf die Regierung aus (Reuters 29.8.2019).

Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten (AA 12.1.2019; vgl. FPRI 19.8.2019). Leiter der PMF-Dachorganisation, der al-Hashd ash-Sha‘bi-Kommission, ist Falah al-Fayyad, dessen Stellvertreter Abu Mahdi al-Mohandis eng mit dem Iran verbunden war (Al-Tamini 31.10.2017). Viele PMF-Brigaden nehmen Befehle von bestimmten Parteien oder konkurrierenden Regierungsbeamten entgegen, von denen der mächtigste Hadi Al-Amiri ist, Kommandant der Badr Organisation (FPRI 19.8.2019). Obwohl die PMF laut Gesetz auf Einsätze im Irak beschränkt sind, sollen sie, ohne Befugnis durch die irakische Regierung, in einigen Fällen Einheiten des Assad-Regimes in Syrien unterstützt haben. Die irakische Regierung erkennt diese Kämpfer nicht als Mitglieder der PMF an, obwohl ihre Organisationen Teil der PMF sind (USDOS 13.3.2019).

Alle PMF-Einheiten sind offiziell dem Nationalen Sicherheitsberater unterstellt. In der Praxis gehorchen aber mehrere Einheiten auch dem Iran und den iranischen Revolutionsgarden. Es ist keine einheitliche Führung und Kontrolle der PMF durch den Premierminister und die ISF feststellbar, insbesondere nicht der mit dem Iran verbundenen Einheiten. Das Handeln dieser unterschiedlichen Einheiten stellt zeitweise eine zusätzliche Herausforderung in Bezug auf die Sicherheitslage dar, insbesondere - aber nicht nur - in ethnisch und religiös gemischten Gebieten des Landes (USDOS 13.3.2019).

In vielen der irakischen Sicherheitsoperationen übernahm die PMF eine Führungsrolle. Als Schnittstelle zwischen dem Iran und der irakischen Regierung gewannen sie mit der Zeit zunehmend an Einfluss (GS 18.7.2019).

Am 1.7.2019 hat der irakische Premierminister Adel Abdul Mahdi verordnet, dass sich die PMF bis zum 31.7.2019 in das irakische Militär integrieren müssen (FPRI 19.8.2019; vgl. TDP 3.7.2019; GS 18.7.2019), oder entwaffnet werden müssen (TDP 3.7.2019; vgl GS 18.7.2019). Es wird angenommen, dass diese Änderung nichts an den Loyalitäten ändern wird, dass aber die Milizen aufgrund ihrer nun von Bagdad bereitgestellte Uniformen nicht mehr erkennbar sein werden (GS 18.7.2019). Einige Fraktionen werden sich widersetzen und versuchen, ihre Unabhängigkeit von der irakischen Regierung oder ihre Loyalität gegenüber dem Iran zu bewahren (FPRI 19.8.2019). Die Weigerung von Milizen, wie der 30. Brigade bei Mossul, ihre Posten zu verlassen, weisen auf das Autoritätsproblem Bagdads über diese Milizen hin (Reuters 29.8.2019).

Die Schwäche der ISF hat es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, den Asa‘ib Ahl al-Haqq und den Kata’ib Hisbollah, erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Die PMF waren und sind ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen, wurden jedoch zuletzt in Kämpfen um sensible sunnitische Ortschaften nicht an vorderster Front eingesetzt. Es gab eine Vielzahl an Vorwürfen bezüglich Plünderungen und Gewalttaten durch die PMF (AA 12.1.2019).

Die PMF gehen primär gegen Personen vor, denen eine Verbindung zum IS nachgesagt wird, bzw. auch gegen deren Familienangehörigen. Betroffen sind meist junge sunnitische Araber und in einer Form der kollektiven Bestrafung sunnitische Araber im Allgemeinen. Es kann zu Diskriminierung, Misshandlungen und auch Tötungen kommen (DIS/Landinfo 5.11.2018; vgl. USDOS 21.6.2019). Einige PMF gehen jedoch auch gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor (USDOS 11.3.2020).

Die PMF sollen, aufgrund guter nachrichtendienstlicher Möglichkeiten, die Fähigkeit haben jede von ihnen gesuchte Person aufspüren zu können. Politische und wirtschaftliche Gegner werden unabhängig von ihrem konfessionellen oder ethnischen Hintergrund ins Visier genommen. Es wird als unwahrscheinlich angesehen, dass die PMF über die Fähigkeit verfügen, in der Kurdischen Region im Irak (KRI) zu operieren. Dementsprechend gehen sie nicht gegen Personen in der KRI vor. Nach dem Oktober 2017 gab es jedoch Berichte über Verstöße von PMF-Angehörigen gegen die kurdischen Einwohner in Kirkuk und Tuz Khurmatu, wobei es sich bei den angegriffenen zumeist um Mitglieder der politischen Partei KDP und der Asayish gehandelt haben soll (DIS/Landinfo 5.11.2018).

Geleitet wurden die PMF von Jamal Jaafar Mohammad, besser bekannt unter seinem Nom de Guerre Abu Mahdi al-Mohandis, einem ehemaligen Badr-Kommandanten, der als rechte Hand von General Qasem Soleimani, dem Chef der iranischen Quds-Brigaden fungierte (GS 18.7.2019). Am 3.1.2020 wurden Abu Mahdi Al-Muhandis und Generalmajor Qassem Soleimani bei einem US-Drohnenangriff in Bagdad getötet (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Als Rechtfertigung diente unter anderem ein Raketenangriff, der der Kataib-Hezbollah (KH) zugeschrieben wurde, auf einen von US-Soldaten genutzten Stützpunkt in Kirkuk, bei dem ein Vertragsangestellter getötet wurde (MEMO 21.2.2020). Infolge dessen kam es innerhalb der PMF zu einem Machtkampf zwischen den Fraktionen, die einerseits dem iranischen Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei, andererseits dem irakischen Großayatollah Ali as-Sistani nahestehen (MEE 16.2.2020).

Der iranische Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei ernannte Brigadegeneral Esmail Ghaani als Nachfolger von Soleimani (Al Monitor 23.2.2020). Am 20.2.2020 wurde Abu Fadak Al-Mohammedawi zum neuen stellvertretenden Kommandeur der PMF ernannt (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Vier PMF-Fraktionen, die dem schiitischen Kleriker Ayatollah Ali as-Sistani nahestehen, haben sich gegen die Ernennung Mohammadawis ausgesprochen und alle PMF-Fraktionen aufgefordert, sich in die irakischen Streitkräfte unter dem Oberbefehl des Premierministers zu integrieren (Al Monitor 23.2.2020). […]

Die Asa‘ib Ahl al-Haqq (AAH; Liga der Rechtschaffenen oder Khaz‘ali-Netzwerk, League of the Righteous) wurde 2006 von Qais al-Khaz‘ali gegründet und bekämpfte zu jener Zeit die US-amerikanischen Truppen im Irak (Süß 21.8.2017). Sie ist eine Abspaltung von As-Sadrs Mahdi-Armee und im Gegensatz zu As-Sadr pro-iranisch (Clingendael 6.2018). Asa‘ib Ahl al-Haqq unternahm den Versuch, sich als politische Kraft zu etablieren, konnte bei den Parlamentswahlen 2014 allerdings nur ein einziges Mandat gewinnen. Ausgegangen wird von einer Gruppengröße von mindestens 3.000 Mann; einige Quellen sprechen von 10.000 bis 15.000 Kämpfern (Süß 21.8.2017). Asa‘ib Ahl al-Haqq bildet die 41., 42. und 43. der PMF-Brigaden (Wilson Center 27.4.2018; vgl. Al-Tamini 31.10.2017). Die Miliz erhält starke Unterstützung vom Iran und ist wie die Badr-Oganisation und Kata’ib Hizbullah vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv. Sie gilt heute als gefürchtetste, weil besonders gewalttätige Gruppierung innerhalb der Volksmobilisierungskräfte, die religiös-politische mit kriminellen Motiven verbindet. Ihr Befehlshaber Qais al Khaz‘ali ist einer der bekanntesten Anführer der PMF (Süß 21.8.2017; vgl. Wilson Center 27.4.2018).

1.2.3 Sunnitische Araber

Die arabisch-sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes bildete, wurde nach der Entmachtung Saddam Husseins 2003, insbesondere in der Regierungszeit von Ex-Ministerpräsident Al-Maliki (2006 bis 2014), aus öffentlichen Positionen gedrängt. Mangels anerkannter Führungspersönlichkeiten fällt es den sunnitischen Arabern weiterhin schwer, ihren Einfluss auf nationaler Ebene geltend zu machen. Oftmals werden Sunniten einzig aufgrund ihrer Glaubensrichtung als IS-Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt (AA 12.1.2019). Bei willkürlichen Verhaftungen meist junger sunnitischer Männer wird durch die Behörden auf das Anti-Terror-Gesetz verwiesen, welches das Recht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren vorenthält (USDOS 21.6.2019). Zwangsmaßnahmen und Vertreibungen aus ihren Heimatorten richten sich vermehrt auch gegen unbeteiligte Familienangehörige vermeintlicher IS-Anhänger (AA 12.1.2019).

Es gibt zahlreiche Berichte über Festnahmen und die vorübergehende Internierung von überwiegend sunnitisch-arabischen IDPs durch Regierungskräfte, PMF und Peshmerga (USDOS 11.3.2020). Noch für das Jahr 2018 gibt es Hinweise auf außergerichtliche Hinrichtungen von sunnitischen Muslimen in und um Mossul (USCIRF 4.2019).

1.2.4 Meinungs- und Pressefreiheit

Die Verfassung garantiert die Meinungs- und Pressefreiheit, solange diese nicht die öffentliche Ordnung und Moral verletzt (AA 12.1.2019), Unterstützung für die verbotene Ba‘ath-Partei ausdrückt oder die gewaltsame Änderung der Grenzen des Landes befürwortet. Einzelpersonen und Medien betreiben jedoch Selbstzensur aufgrund der begründeten Furcht vor Repressalien durch die Regierung, politische Parteien, ethnische und konfessionellen Kräfte, terroristische und extremistische Gruppen oder kriminelle Banden. Kontrolle und Zensur der Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung behindern manchmal den Medienbetrieb, was mitunter die Schließung von Medien, Einschränkungen der Berichterstattung und Behinderung von Internetdiensten zur Folge hat. Einzelpersonen können die Regierung öffentlich oder privat kritisieren, jedoch nicht ohne Angst vor Vergeltung (USDOS 11.3.2020). […]

Auch Lehrer sind im Irak seit langem mit der Gefahr von Gewalt oder anderen Auswirkungen konfrontiert, wenn sie Themen unterrichten oder besprechen, die mächtige staatliche oder nicht staatliche Akteure für verwerflich halten. Politischer Aktivismus von Universitätsstudenten kann zu Schikane oder Einschüchterung führen (FH 4.3.2020). Sozialer, religiöser und politischer Druck schränken die Entscheidungsfreiheit in akademischen und kulturellen Angelegenheiten ein. In allen Regionen des Landes versuchen verschiedene Gruppen die Ausübung der formalen Bildung und die Vergabe von akademischen Positionen zu kontrollieren (USDOS 11.3.2020).

1.3 Zum Fluchtvorbringen:

1.3.1 Erstbefragt hat der Beschwerdeführer angegeben, er sei Sunnit und werde sowohl von schiitischen Milizen als auch vom Daesh mit dem Tod bedroht. Knapp 17 Monate später vom BFA einvernommen, erklärte er, dass ihn der Daesh nicht bedroht habe und er auch nie wegen seiner Religion verfolgt worden sei.

Er sei als Student Mitglied eines Vereins „Al R.“ gewesen, der Feiern und Lesungen organisiert, die Studierenden unterstützt und auch zum Gedankenaustausch gedient habe. Auf der Vollversammlung am 1. oder 2. Juni 2014 habe er seine Ideen geäußert und Aufklärung über den Terror allgemein und die Milizen angeregt. Er habe den Leuten erklären wollen, dass die Milizen und der Daesh die gleichen Ziele verfolgten. Seine Ideen hätten sich primär auf die Universität bezogen, allerdings wünsche er sich, dass auch einmal das ganze Land sie wahrnähme.

Ein Mann namens Al J. habe ihn dann auf der Versammlung bedroht, ihm üble Nachrede gegenüber den Leuten unterstellt, die ihm nach Ansicht von Al J. überlegen seien und das Land schützen würden, und ihn vor der Universität als abschreckendes Beispiel erhängen wollen.

Drei oder vier Tage später seien Milizen zu ihm nach Hause gekommen, welche wisse er nicht, und hätten seinen Vater bedroht. Sie hätten dem Beschwerdeführer Unfug unterstellt, den Vater geschlagen und mit dem Tod bedroht, sowie ferner das Gold der Mutter und einen Laptop gestohlen. Zwei Monate nach seiner Ausreise sei auch noch die Polizei gekommen und habe den Vater nach dem Beschwerdeführer gefragt. Diese kooperiere mit den Milizen.

1.3.2 In der Beschwerde wird weiter vorgebracht, der Verein „Al R.“ sei weder politisch noch konfessionell ausgerichtet gewesen und habe sportliche und kulturelle Aktivitäten sowie Kongresse und Promotionsfeiern organisiert. Bei einer der meist wöchentlichen Sitzungen habe sich der Beschwerdeführer zu Wort gemeldet und die Frage gestellt, wie man die vor allem konfessionellen Auseinandersetzungen im Staat von der Uni fernhalten könne. Seiner Ansicht nach hätten konfessionelle Ideen dort nichts verloren, und die Milizen stünden den Terror betreffend dem Daesh in nichts nach.

Im folgenden Tumult habe der Mitstudent Al J. ihn angeschrien, wie er denn jene schlechtmachen könne, die ihn schützen würden. Wenn er noch etwas sage, würde er ihn erhängen, an ihm ein Exempel statuieren. Bereits der Vorname des Beschwerdeführers lade dazu ein.

Der Beschwerdeführer habe dann den Campus verlassen und sei daheim geblieben. Als er wenige Tage später einkaufen und der Vater allein zuhause gewesen sei, hätten fünf oder sechs Männer teils in ziviler, teils in militärischer Kleidung das Haus nach ihm durchsucht, den Vater geschlagen und diesem erklärt, sie würden den Beschwerdeführer schon finden und umbringen, egal wo er sei. Etwa zwei Monate nach der Abreise des Beschwerdeführers, der am 12.06.2014 Bagdad verlassen habe, hätten wieder Männer das Haus nach ihm durchsucht, diesmal in Polizeiuniform. Der Vater habe sich aus Angst vor Racheaktionen vom Beschwerdeführer distanziert und den Polizisten zu verstehen gegeben, sie könnten mit diesem machen was sie wollten, wenn sie ihn fänden.

In Bagdad operiere nicht der Daesh, jedoch unzählige schiitische Milizen, sodass der Beschwerdeführer davon ausgehe, dass es, nachdem er mit Kritik an diesen aufgefallen und deswegen bedroht worden sei, solche Milizen waren, denen der Überfall auf den Vater, die Hausdurchsuchung und die Drohungen gegen den Beschwerdeführer zuzuschreiben seien.

1.3.3 In der Beschwerdeverhandlung befragt, gab der Beschwerdeführer an, die wöchentlichen Sitzungen des Vereins seien nicht an einem bestimmten Tag gewesen. Als einfache Studenten, die sie gewesen seien, hätten sie sich untereinander verabredet. Er habe einmal wöchentlich teilgenommen, die Sitzungen seien immer abgehalten worden, wenn die Uni Besuch bekommen oder eine staatliche Feier oder ein anderes Ereignis stattgefunden habe.

Betreffend die Sicherheitslage im Herkunftsstaat brachte er vor, dass sich diese seit seiner Ankunft in Österreich zwar verbessert habe, aber im Hinblick auf den Einfluss der – vor allem schiitischen – Milizen auf die staatliche und gesellschaftliche Struktur keine hinreichende Sicherheit für den Fall einer Rückkehr des Beschwerdeführers bestehe.

1.3.4 Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Juni 2014 oder zu einem anderen Zeitpunkt einem am Dijlah University College aktiven Verein von Studierenden angehört hätte. Ferner kann nicht festgestellt werden, dass er bei einem Treffen von Mitgliedern eines solchen Vereins im Juni oder sonst im Jahr 2014 das Wort ergriffen und dabei Milizen mit dem Daesh verglichen hätte.

1.3.5 Es kann nicht festgestellt werden, aus welchem Grund der Beschwerdeführer den Herkunftsstaat verlassen hat. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer eine Beschimpfung oder die Ankündigung, erhängt zu werden, wegen seiner Ansichten über Milizen von einem Mitstudenten erhalten oder eine Bedrohung durch schiitische oder andere Milizen erlitten hätte, um ihn zum Schweigen oder zum Unterlassen von Äußerung über konfessionellen Streit an der Uni oder über seine Meinung zu Milizen zu bewegen.

1.3.6 Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer aus anderen, sei es auch unterstellten, Gründen der politischen Gesinnung, Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Herkunftsstaat staatliche Verfolgung oder eine private Verfolgung drohen würde, gegen die der Staat keinen Schutz bieten könnte oder wollte, auch nicht als Sunnit und Araber.

1.3.7 Aus spezifischen Länderberichten ergibt sich im Zusammenhang mit der vorgebrachten kriminellen Aktivität von Milizen und der Bedrohung unter Hinweis auf den Vornamen Folgendes:

„Die PMF haben sich zu einem veritablen Machtfaktor entwickelt und umfassen 150.000 Mann. Per Gesetz sind die PMF seit 2016 in die Sicherheitsstrukturen eingegliedert und die Gehälter werden aus dem Budget gezahlt. […] Einzelne Milizen haben sich zu starken politischen Akteuren entwickelt. Die PMFs stellen über 60 Abgeordnete, haben politische Vorfeldorganisationen und sind tlw. wirtschaftlich stark verankert. Andere wiederum gleichen eher kriminellen Organisationen und finanzieren sich zusätzlich durch Schutzgelderpressung, illegale Wegzölle und Entführungen. Eine Demobilisierung der PMF ist insofern schwierig, da keine Arbeitsplätze vorhanden sind und es nicht im Interesse des Staates ist, frustrierte und militärisch geschulte junge Männer in die Arbeitslosigkeit zu schicken. Premierminister Mustafa AL-KADHIMI ist bemüht die PMF Milizen unter staatliche Kontrolle zu bringen - auch auf Druck der USA. […]“

„Sicherheit: Während für den Gesamtirak weiterhin ein hohes Sicherheitsrisiko besteht, stellt sich die kampf- und terrorbezogene Sicherheitslage in der RK-I relativ besser dar. Die in den letzten Jahren verhältnismäßig stabile Sicherheitssituation in Bagdad hat sich seit Beginn der Proteste im Oktober 2019 wieder verschlechtert. Terroristische Gruppierungen fokussierten sich auf andere Landesteile. Nach der militärischen Niederlage des Da‘esh ist jedoch eine Zunahme an Anschlägen aus dem Untergrund wahrscheinlich. Der Großteil der Anschläge in Bagdad hat einen religiösen oder ethnischen Hintergrund und richtete sich gegen schiitische Ansammlungen, Checkpoints und Ministerien. Schiitische Milizen operieren in fast allen Stadtteilen Bagdads (auch in nicht-schiitischen) weitgehend außerhalb der Kontrolle der Zentralregierung. […]“

(„Asylländerbericht – Irak“ der Österreichischen Botschaft Amman, Oktober 2020, www.ecoi.net/en/file/local/2038669/IRAK_ÖB_Asylländerbericht_2020_10.pdf)

Traditionell sind Namen wie Omar, Abu Bakr und Yazid sunnitische Namen, während Ali, Hassan und Hussein als schiitisch gelten. […] Omar scheint einer der Namen zu sein, die Sunniten Probleme bereiten. So gab es bereits während des Bürgerkriegs 2006 Probleme in Bezug auf den Namen Omar. Im Juli 2006 fand die Polizei 14 junge Männer tot in Bagdad auf. Die mit Kopfschüssen getöteten Männer waren alles Sunniten, die den Vornamen Omar trugen. […]

Heutzutage kann es für Eltern einfacher sein, ihrem Neugeborenen einen neutralen Namen zu geben, der nicht eindeutig sunnitisch oder schiitisch ist. Aus Angst vor Konflikten geben einige irakische Eltern ihren Kindern Namen, die keine bestimmte religiöse Orientierung widerspiegeln.

(BFA Staatendokumentation: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Irak: Schiitische und sunnitische Namensgebung, 17. Juni 2019)

1.3.8 Die Kurzübersichten über Konfliktvorfälle aus dem „Armed Conflict Location & Event Data Project“ ACLED berichten für die Provinz Bagdad von 181 Vorfällen im ersten Quartal 2020, davon 43 mit 69 Toten. Im 4. Quartal 2019 waren es 172, davon 64 mit 254 Todesopfern. Das waren mehr als im 3. Quartal, wo 36 Vorfälle berichtet wurden, davon 9 mit 20 Todesopfern. Im gesamten Jahr 2019 waren es 268 Vorfälle, davon 95 mit 339 Toten. In allen Berichten ist der Bezirk Mansour jeweils unter den Orten dieser Vorfälle.

(www.ecoi.net/en/file/local/2025387/2019q3Iraq_de.pdf www.ecoi.net/en/file/local/2031973/2019q4Iraq_de.pdf www.ecoi.net/en/file/local/2031969/2019yIraq_de.pdf www.ecoi.net/en/file/local/2031975/2020q1Iraq_en.pdf etc. - Abfrage jeweils 28.10.2020)

Das bedeutet, dass in den beiden jüngsten berichteten Quartalen, also von Oktober 2019 bis März 2020, im Monatsdurchschnitt 59 Vorfälle in Bagdad stattfanden, davon 18 mit Todesopfern, und dabei 54 Personen gestorben sind. Das ist im Vergleich mit den drei Quartalen davor eine Zunahme auf jeweils das Fünf- bis Sechsfache, von 11 auf 59, von 3 auf 18 und von 9 auf 54.

1.3.9 Für eine Rückkehr des Beschwerdeführers kommt angesichts seiner mehrjährigen Abwesenheit und seines früheren langjährigen Wohnsitzes primär Bagdad infrage. Da sich auch nur dort Angehörige mit festgestelltem Wohnort befinden, ist eine Alternative in einem anderen Landesteil des Irak nicht feststellbar, wo es dem Beschwerdeführer möglich wäre, sich niederzulassen (z. B. in der oben als „RK-I“ erwähnten kurdischen Autonomieregion). Bagdad ist für den Beschwerdeführer wie auch andere arabische Sunniten erreichbar.

Aufgrund dieser Feststellungen in 1.2.1, 1.2.2, 1.3.7 und 1.3.8 ist allerdings von einer derzeit neuerlich sehr instabilen Sicherheitslage in Bagdad und verstärkten Aktivitäten des Daesh, vor allem aber auch (unter anderem krimineller Teile) schiitischer Milizen auszugehen, die den Beschwerdeführer im Konfrontationsfall aufgrund seines Namens als nicht ihrer Konfession zugehörig zuordnen können, und vor denen hinreichender staatlicher Schutz aktuell nicht besteht, sodass dort deswegen in Summe eine Gefahr für die körperliche Unversehrtheit des Beschwerdeführers, unabhängig von seiner Haltung gegenüber den Milizen und dem Daesh in deren innerstaatlichem Konflikt, vorliegt.

2. Beweiswürdigung:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde Beweis erhoben im Rahmen der Verhandlung, wo der Beschwerdeführer als Partei befragt wurde, und durch die Einsichtnahme in die Akten des BFA unter zentraler Berücksichtigung der Angaben des Beschwerdeführers, ferner in die vom Beschwerdeführer vorgelegten Urkunden. Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR), dem Gewerbeinformationssystem und dem Betreuungsinformationssystem der Grundversorgung (GVS) wurden ergänzend eingeholt.

2.1 Zum Verfahrensgang:

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem Inhalt des Aktes des BFA und des vorliegenden Gerichtsakts.

2.2 Zur Person des Beschwerdeführers:

2.2.1 Die Feststellungen zu seinen Lebensumständen, seinem Gesundheitszustand, seiner Arbeitsfähigkeit sowie seiner Glaubenszugehörigkeit gründen sich auf die diesbezüglichen glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers und die Feststellungen des Bescheids, ebenso jene zur Familie und zur Ausbildung und Tätigkeit des Beschwerdeführers, jeweils aktualisiert durch die jüngsten Angaben, zuletzt bei der Verhandlung.

2.2.2 Die Dauer des Universitätsstudiums wurde anhand des vorgelegten Studierendenausweises festgestellt, der bis 01.10.2013 galt. Der Beschwerdeführer hat in der Verhandlung angegeben, er habe im August oder September 2013 das Zeugnis über seine letzte absolvierte Prüfung erhalten. Wenn er darüber hinaus noch behauptete, 2014 weiterstudiert zu haben, ohne eine Prüfung abzulegen, konnte dem nicht gefolgt werden, weil der Beschwerdeführer das Fehlen eines Ausweises oder sonstiger Unterlagen für das betreffende Studienjahr nicht erklären konnte.

Im Detail ist zu beachten, dass er dazu beim BFA angab, die Dokumente (Studentenausweis, Personalausweis, Staatsbürgerschaftsnachweis) habe ihm sein Freund Youssef aus der Türkei geschickt (AS 44), und von diesem, mit dem er dort in einer WG gewohnt haben will, weder Nachname noch Telefonnummer wusste. In der Verhandlung gab er an, er habe aus dem Irak nur den Personalausweis mitgenommen, und sich bei der Ankunft in der Türkei seine Unterlagen von der Familie schicken lassen. Die Familie habe den neuen Studentenausweis nicht gefunden und ihm deshalb den vorherigen geschickt. Als er die Türkei verlassen habe, hätte er die Dokumente bei Youssef gelassen. (S. 10) Schon das befremdet angesichts dessen, dass er nicht einmal den Nachnamen dieses Youssef wusste, der schon vor ihm in der WG war (AS 45), und bei seiner Weiterreise nach Österreich, angeblich ein halbes Jahr oder mehr später, aus der Türkei nicht einmal Kopien davon mitnahm oder z. B. im Internet als E-Mail speicherte.

In der Beschwerdeschrift heißt es zum Thema, hätte das BFA den Beschwerdeführer damit konfrontiert, dann hätte dieser die Möglichkeit gehabt, seine Inskription „durch Beischaffung entsprechender Belege unter Beweis zu stellen“. (AS 135)

In der Verhandlung danach gefragt, warum der Beschwerde dann zwar andere Urkunden beigelegt gewesen seien, aber keine betreffend das Studium im Jahr 2014, erklärte er sinngemäß, er hätte, weil er in dem Jahr keine Prüfung abgelegt habe, eine Nachzahlung leisten müssen, um eine Studienbestätigung („seine Unterlagen […], mit denen man eine andere Universität besuchen könnte“) zu bekommen.

Weder erklärt diese Antwort, warum eine solche Bestätigung nicht (zumindest) im Beschwerdeverfahren vorgelegt wurde, noch erklärt sie, warum der Ausweis für 2014 nicht zwischenzeitlich aufgefunden wurde, immerhin hat sich der ehemalige Haushalt des Beschwerdeführers nun auf mehrere Haushalte (durch das Wegziehen der Mutter und der drei Geschwister) aufgeteilt, sodass beim Räumen und Packen wohl ein solcher Ausweis zu finden sein müsste, wenn nicht ohnehin gezielt nach ihm gesucht wird, weil er ein wichtiges Beweismittel ist.

Es widerspräche auch der Lebenserfahrung, wenn der Beschwerdeführer den alten Ausweis bei seinen Urkunden gehabt hätte, den neuen aber weder dort noch bei sich. Das Gericht geht daher, und auch, weil der Ausweis von 2013 noch vorhanden war, was sich mit einem gewissen Erinnerungswert erklären lässt, aber nicht mit spezieller Verwendbarkeit, hätte es einen neueren gegeben, davon aus, dass es keinen für 2014 gab.

2.2.3 Der Ausreisezeitpunkt war nicht genauer feststellbar, weil der Beschwerdeführer angab, er sei nach der Abreise aus Bagdad illegal in der Türkei gewesen, habe dort die Abschiebung gefürchtet und die Zeit zuhause in der WG verbracht. (AS 43) Laut Erstbefragung hielt er sich ca. ein halbes Jahr in Istanbul auf und reiste am 17.03.2015 mit einem Boot nach Griechenland weiter (AS 7). In der Verhandlung gab er an, er glaube, etwas mehr als 6 Monate in der Türkei gewesen zu sein, und habe dort von dem Geld gelebt, das er früher gespart und bei sich gehabt habe. (S. 7 f)

Ausgehend von der Reisebeschreibung und dem Aufgriff (am 25.03.2015) in Kos wäre er ab ca. Mitte September 2014 in der Türkei gewesen, wenn er aber etwas mehr als sechs Monate dort war, dann ab August/September 2014. Damit bleiben bei einer angeblichen Abreise aus Bagdad am 12.06.2014 zwei bis drei Monate ungeklärten Aufenthalts. Zudem ist es wenig lebensnah, wenn der Beschwerdeführer angibt, er habe in dieser Zeit, also sechs oder mehr Monate in der Sommerzeit in der 15-Millionen-Stadt Istanbul, aus Furcht vor Abschiebung nicht das Haus verlassen. Es wäre unter dieser Annahme auch erstaunlich, hätte der Beschwerdeführer bis Mitte März 2015 gewartet (und die Unannehmlichkeiten samt Risiko ertragen), bis er nach Griechenland weiterreiste.

Wenig wahrscheinlich erscheint auch, dass er so lange Zeit von Ersparnissen gelebt haben will, nachdem er seinen Angaben zufolge (Verhandlung S. 7) vorher bereits € 2.000,-- für die Fahrt nach Istanbul bezahlt und anschließend noch € 3.000,-- für die Weiterreise nach Österreich übrig hatte.

Dazu kommt, dass der Beschwerdeführer erstbefragt auch angab, er habe nach dem 25.03.2015 (der erkennungsdienstlichen Behandlung in Griechenland) zwei Wochen in Saloniki verbracht und sei anschließend etwa eine Woche (bis zur Befragung am 06.04.2015) nach Österreich unterwegs gewesen. Demnach hätte er hier allerdings frühestens ca. am 15.04.2015 eintreffen können.

Den Angaben betreffend die Zeit zwischen dem Verlassen Bagdads und seiner Antragstellung in Österreich kann also nicht gefolgt werden, soweit sich nicht durch das Vorliegen anderer Beweismittel gestützt wurden.

Damit bleibt unklar, wo er sich zwischen Sommer 2013, als er noch Student war, und März 2015 aufhielt, als er in Kos aufgegriffen wurde.

2.3 Zum Herkunftsstaat

Die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat beruhen auf dem aktuellen Länderinformationsbericht der Staatendokumentation für Irak samt den dort publizierten Quellen und Nach-weisen Dieser Länderinformationsbericht stützt sich auf Berichte verschiedener ausländischer Behörden, etwa die allgemein anerkannten Berichte des Deutschen Auswärtigen Amtes, als auch jene von Nichtregierungsorganisationen, wie z. B. Open Doors, sowie Berichte von allgemein anerkannten unabhängigen Nachrichtenorganisationen.

Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie des Umstands, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängigen Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wissentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

Der Beschwerdeführer hat in der Verhandlung zu den Länderfeststellungen (zusammengefasst) angegeben, die Milizen seien immer anwesend und zwar überall, nicht nur in Bagdad. Im Oktober 2019 hätten die Iraker gegen diese Milizen protestiert. Deren Anführer hätten sich in Gefahr gefühlt und deswegen sei es zu vielen Vorfällen mit Todesopfern gekommen.

Diese Milizen hätten eigentlich die Macht, vor allem Asa‘ib Ahl al-Haqq, und seien auch im Parlament vertreten. Auf You Tube sei zu sehen, wie diese Aktivisten andere brutal umbrächten, zum Beispiel Hisham al-Hashemi (der Sicherheitsberater des Premierministers al-Kadhimi und offener Kritiker der Rolle der Milizen war, Anm.). Gegen die Iraker, die protestierten, hätten nicht nur die Milizen, sondern auch die Polizei reagiert. Viele seien offen auf der Straße ermordet worden. Die Milizen hätten sich in Gefahr gefühlt und Angst gehabt, dass sie durch diese Proteste beseitigt werden. Bei diesen Milizen handle es sich um kriminelle Personen. Sie reagierten aggressiv, wenn jemand etwas über sie in den Medien sage.

Wenn jemand sie auch nur mit einem Wort kritisiere, reagierten sie brutal. Das Problem sei, dass es einfache Iraker gebe, welche mit den Milizen sympathisieren. Diese hätten keine Ahnung, Milizen seien für sie ein Vorbild. Meinungsverschiedenheiten verstünden sie nicht. Sie dächten, sie hätten immer Recht. Irak als Staat sei fertig. Die Polizisten seien tagsüber Polizisten und am Abend bei den Milizen.

Damit hat er die Länderfeststellungen teils bestätigt, teils ergänzt und interpretiert, ist ihnen jedoch nicht qualifiziert entgegengetreten.

2.4 Zum Fluchtvorbringen und zur Rückkehrperspektive

2.4.1 Wie bereits beim BFA vermochte der Beschwerdeführer auch in der Verhandlung kein plausibles Verfolgungsszenario seine Person betreffend darzulegen, das ihn zur Flucht veranlasste.

Von einer konkret gegen den Beschwerdeführer gerichteten Verfolgung oder Bedrohung – speziell aus dem Grund, dass er sich bei einem Studententreffen zu Wort gemeldet und die Milizen kritisiert hätte, worauf ein Tumult entstanden sei und ein Kommilitone ihm mit dem Erhängen gedroht habe – ging das BFA nicht aus (S. 29 f, AS 85 f). Auch das Verwaltungsgericht kann eine solche nicht feststellen, und damit auch nicht, dass dem Beschwerdeführer Verfolgung wegen einer (unterstellten) Gesinnung oder politischen Haltung einer Miliz gegenüber droht, und zwar aus diesen Gründen:

2.4.2 Erstbefragt hatte der Beschwerdeführer noch angegeben (AS 9), dass er aufgrund seiner Religionszugehörigkeit verfolgt werde, als Sunnit von Milizen und dem Daesh, und mit dem Tod bedroht. Einvernommen bestritt er ausdrücklich, vom Daesh bedroht oder jemals wegen seiner Religion verfolgt worden zu sein. Von seiner Vereinstätigkeit habe er erstbefragt nichts gesagt, weil er nur aufgefordert worden sei, „den Fluchtgrund im Groben zu schildern“. (AS 439)

Beim BFA hat er damit den Fluchtgrund allerdings nicht detaillierter als bei der Erstbefragung dargelegt, sondern ausgetauscht. Die Erklärung „Ich habe auf das Interview gewartet. Mir wurde gesagt, dass ich dann alles erzählen soll. Der Dolmetscher ist schuld.“ überzeugt nicht, zumal die Erstbefragung laut Niederschrift rund 40 min gedauert und eine Rückübersetzung beinhaltet hat.

2.4.3 Wie das BFA betrachtet auch das Verwaltungsgericht den fehlenden Studiennachweis des Beschwerdeführers als gravierende Beeinträchtigung der Glaubhaftmachung des Fluchtgrundes, speziell – wie oben dargetan (2.2.2) – angesichts des Vorhandenseins eines Ausweises für das Jahr davor und der Nichtvorlage eines Beweismittels (zumindest) im Beschwerdeverfahren, obwohl die Beschwerde eine Beweisbarkeit behauptet.

Dazu kommt eine Reihe von Ungereimtheiten, die der Beschwerdeführer auch in der Verhandlung nicht ausräumen konnte.

2.4.5 Betreffend den angeblichen Verein „Al R.“ hat der Beschwerdeführer beim BFA angegeben (und in der Beschwerde teils ergänzt), dass es sich um einen handle, der an jeder Uni existiere, auf die Verbesserung der Situation der Studierenden zielende Gemeinschaft handle, die (zusammengefasst) Service von der kulturellen Veranstaltungsorganisation bis zu Gesprächstreffen biete. In der Verhandlung hat er noch angegeben, dass der Verein sich um die Solidarität der Studierenden bemühe und immer Lösungen finde, wenn diese ein Problem bekämen, z. B. bei Prüfungen.

Gefragt, warum der Verein dann nur „über 50 Mitglieder“ habe, wenn die Uni mehr als 6.000 Studierende verzeichne, erklärte er sinngemäß, es handle sich um eine Art Schichtbetrieb an der Uni, wobei seine Gruppe aus denen bestanden habe, die vormittags da waren, während es andere gegeben habe, die nur nachmittags auf der Uni gewesen seien, was aber nicht die geringe Mitgliederzahl zu begründen vermochte.

Erstaunlich ist auch, dass der Beschwerdeführer beim BFA im September 2016 angab, dass der Verein noch existiere, er aber noch nie dessen Homepage besucht habe. (AS 41 f) Dies erstaunt nicht nur, weil die Information auf einer Homepage eine naheliegende Variante der Mitgliederbetreuung ist (Termine, Serviceangebot etc.), sondern dem Beschwerdeführer auch (spätestens im Interesse seines Asylverfahrens) nahegelegen hätte sein müssen, auf der Seite des Vereins nachzusehen, ob es dort mehr über den Mitstudenten Al J. zu erfahren gibt, der ihn angeblich bedroht hat.

2.4.6 Zu den Treffen des Vereins machte er durchwegs unterschiedliche Angaben. Beim BFA gab er an, es habe meist wöchentliche Sitzungen gegeben, sie hätten sich aber in kleineren Gruppen täglich gesehen. Die Wortmeldung betreffend die Milizen und den Daesh habe er bei einer Vollversammlung abgegeben. (AS 41 f)

In der Verhandlung sagte er dazu, er sei einmal in der Woche bei den Sitzungen gewesen, die an keinem bestimmten Tag stattgefunden hätten. Sie seien einfache Studenten gewesen und hätten das untereinander vereinbart. (S. 9) Wenn – laut Beschwerde – Zusammenkünfte von ca. 50 Studierenden stattfanden (AS 133, 136), so muss auch eine Art von Monatsprogramm, Jour Fixe, Stammtisch oder ähnliches bekannt gewesen sein, weil nach der Lebenserfahrung ein Vereinsleben mit 50 teilnehmenden Mitgliedern nicht ohne jede Struktur von Termin zu Termin „vereinbart“ werden kann.

2.4.7 Zur Person des Vorsitzenden des Vereins gab der Beschwerdeführer beim BFA an, dieser hieße mit Nachnamen A., den Vornamen wisse er nicht, und er habe ihn nie gesehen. (AS 41)

Angesichts angeblich meist wöchentlicher Sitzungen und der angeblich ebenso wöchentlichen Teilnahme des Beschwerdeführers daran, der von 2012 bis 2014 Mitglied gewesen sein will, verwundert dieses Nichtbegegnen und Nichtwissen ebenso wie das Unwissen des Beschwerdeführers betreffend die Person des als Bedroher genannten Al J., der nach den Einlassungen des Beschwerdeführers nicht nur ebenso „einfaches Mitglied“ im Verein war wie er (AS 42), sondern auch dasselbe Studienfach hatte. (Verhandlung S. 10) Da Al J. wie der Beschwerdeführer bei den Treffen der „Vormittagsschicht“ teilgenommen hätte haben müssen, ist es nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer keinen Kontakt im Zuge des gemeinsamen Betriebswirtschaftsstudiums zu ihm gehabt hätte.

In der Beschwerde wird zwar das Vorbringen betreffend den Vorsitzenden abgeschwächt, nämlich dahin, dass der Beschwerdeführer diesen (erst) seit seiner Flucht nicht gesehen habe (AS 136), hingegen betreffend Al J. nur ergänzt, dass diesem Mitstudenten der Vorname des Beschwerdeführers bekannt gewesen sei, welcher auf dessen Konfession hinweise.

Letzteres erweitert das geschilderte Bedrohungsgeschehen um einen Aspekt, der vorher im Verfahren keine Erwähnung fand, obwohl sich der Beschwerdeführer spätestens beim BFA daran hätte erinnern hätte müssen, als er Zeugen für den Zwischenfall aufzählte, darunter einen mit demselben Vornamen, den er trägt. (AS 41)

2.4.8 Neben dem Widerspruch zwischen einem Routinetreffen („bei einem dieser Treffen“, Beschwerde AS 133) und der Vollversammlung des Vereins (BFA AS 42) fällt ferner auf, dass der Beschwerdeführer beim BFA angab, am Beginn der Sitzung bedroht worden zu sein (AS 42), was bei einer Vollversammlung einen ungewöhnlichen Ablauf bedeuten würde, die bei Vereinen im Allgemeinen mit Formalpunkten (Tagesordnung, Protokoll, Berichte des Vorstands etc.) beginnt.

2.4.9 Schließlich ist nicht zu verkennen, dass sich das Fluchtvorbringen kontinuierlich steigerte, wie sich in der Beschwerde (neben dem Hinzukommen des Vornamens bei der Bedrohung) auch anhand der Schilderung der Suche nach dem Beschwerdeführer im Elternhaus zeigt, „Sie […] schlugen meinen Vater und haben mit dem Tod gedroht.“ (AS 41) versus „Die Männer […] schlugen den Vater des BF auf den Kopf, schrien ihn an […]. Die Nachbarn kamen dem auf dem Boden liegenden, aufgrund der Schläge benommenen Vater zu Hilfe und brachten ihn in das Haus des Onkels […]. Von dort rief der Vater […] an und warnte ihn, keinesfalls nach Haus zu kommen.“ (AS 133) Außer der Steigerung ist noch bemerkenswert, dass der Angriff ursprünglich drei bis vier Tage nach dem 1. oder 2. Juni stattgefunden haben soll (AS 40), also am 04., 05. oder 06.06.2014, was rund eine Woche vor dem angeblichen Aufbruch des Beschwerdeführers läge, sodass in der Beschwerde dann so modifiziert wird: „Er blieb einige Tage zu Hause. Wenige Tage später tauchten fünf oder sechs Männer […] auf.“ (AS 133)

2.4.10 Unter Berücksichtigung all dessen ist es nicht glaubhaft, die Abläufe hätten dem Geschilderten entsprochen. Es konnte daher weder die angebliche Vereinsmitgliedschaft festgestellt werden, noch die behauptete Wortmeldung des Beschwerdeführers oder die geschilderte folgende beschimpfende Bedrohung. Ob und von wem der Vater des Beschwerdeführers überfallen wurde, kann demnach dahinstehen, weil – selbst wenn dabei dem Beschwerdeführer „Unfug“ unterstellt worden wäre (AS 41) – ein Zusammenhang wie der behauptete zum Statement bei der Vereinssitzung nicht feststellbar wäre, weil schon nicht festgestellt werden kann, dass er überhaupt ein Statement abgegeben hat.

Demnach ist es dem Beschwerdeführer wie bereits beim BFA nicht gelungen, substantiiert und nachvollziehbar darzutun, dass ihm im Fall seiner Rückkehr seine Meinung zu den Milizen vorgeworfen würde, und auch nicht, dass er deshalb bedroht worden wäre.

2.4.11 Sein bisheriges Leben in Bagdad ist in 1.1 festgestellt worden, ebenso der Aufenthalt seiner Angehörigen. Die Feststellungen in 1.3.7 und 1.3.8 ergeben sich aus den dort angeführten Quellen.

Dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Bagdad aufgrund der aktuell wieder instabilen Sicherheitslage gefährdet wäre, ergibt sich aus den oben referenzierten Feststellungen in 1.2.1, 1.2.2, 1.3.7 und 1.3.8. Wie sich aus den aktuellen Berichten zur Lage im Irak ergibt, hat sich die Situation konkret auch in Bagdad in den letzten Monaten anders als in der Zeit davor nicht verbessert, sondern tendenziell verschärft. Der Beschwerdeführer kann im Fall von Angriffen auch nicht gegenüber anderen Personen verbergen, Sunnit zu sein, was das Risiko erhöht, in einem solchen Fall zu Schaden zu kommen.

Das Bundesverwaltungsgericht geht daher davon aus, dass der Beschwerdeführer, anders als z. B. noch im ersten Halbjahr 2019, gegenwärtig in Bagdad, auch wenn er zum Vater und in sein ursprüngliches Wohnviertel zurückkehrt - auch ungeachtet der nicht festgestellten persönlichen Ve

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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