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E000 EU- Recht allgemeinNorm
B-VG Art133 Abs4Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des G H, derzeit in M L, vertreten durch Dr. Hans Gradischnig, Mag. Hannes Gradischnig, Rechtsanwälte in 9500 Villach, Moritschstraße 5/Stiege 1, gegen das am 12. August 2020 mündlich verkündete und mit 18. September 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, G311 2211709-1/10E, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Bundesrepublik Deutschland, lebt seit September 2006 in Österreich und war hier bis Anfang August 2014 fast durchgängig unselbständig beschäftigt. Ab Jänner 2016 bis Mitte Oktober 2017 war er im Gastgewerbe (als Betreiber einer Bar) selbständig erwerbstätig. Er führt seit 2007 mit einer polnischen Staatsangehörigen, die über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ verfügt, eine Lebensgemeinschaft. Der Beziehung entstammt ein im Oktober 2017 geborener Sohn.
2 Der Revisionswerber, der auch in Deutschland im Zeitraum bis Februar 2007 insgesamt elf Verurteilungen aufweist, wurde im Jahr 2010 wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften und im Jahr 2011 wegen Körperverletzung jeweils zu einer Geldstrafe rechtskräftig verurteilt. Mit Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt vom 28. Februar 2018 wurde der Revisionswerber sodann wegen des als Bestimmungstäter begangenen Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 zweiter Fall und Abs. 4 Z 3 SMG (Einfuhr von Suchtgift in einer das 25-fache der Grenzmenge übersteigenden Menge) sowie wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall und Abs. 4 Z 3 SMG (Überlassen von Suchtgift in einer das 25-fache der Grenzmenge übersteigenden Menge) zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von fünf Jahren rechtskräftig verurteilt, die er - unter Anrechnung des Zeitraums seit seiner Festnahme am 13. Oktober 2017 - derzeit noch verbüßt. Er befindet sich mittlerweile im gelockerten Vollzug und wird voraussichtlich nach zwei Drittel der Strafzeit am 13. Februar 2021 bedingt entlassen werden.
3 Dieser letzten Verurteilung lag zugrunde, dass der Revisionswerber im Zeitraum vom 1. September 2016 bis 13. Oktober 2017 den Mitangeklagten, einen slowenischen Staatsangehörigen, durch entsprechende Bestellungen zur Einfuhr von zumindest 3.400 Gramm Kokain und 1.000 Gramm Speed von Slowenien nach Österreich veranlasst habe. Des Weiteren wurde dem Revisionswerber zur Last gelegt, in der Zeit vom 1. September 2016 bis 12. Oktober 2017 verschiedenen Personen (insgesamt) rund 2.844 Gramm Kokain und am 13. Oktober 2017 einem verdeckten Ermittler 400 Gramm Kokain und 1.000 Gramm Speed gewinnbringend verkauft zu haben.
4 Im Hinblick darauf erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 6. November 2018 gegen den Revisionswerber gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein mit zehn Jahren befristetes Aufenthaltsverbot. Des Weiteren sprach das BFA aus, dass dem Revisionswerber gemäß § 70 Abs. 3 FPG kein Durchsetzungsaufschub erteilt und einer Beschwerde gemäß § 18 Abs. 3 FPG die aufschiebende Wirkung aberkannt werde.
5 Über die dagegen eingebrachte Beschwerde führte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) am 12. August 2020 eine mündliche Verhandlung durch, an deren Ende es das angefochtene Erkenntnis verkündete. Damit wurde der Beschwerde teilweise dahin Folge gegeben, dass die Dauer des Aufenthaltsverbotes auf sechs Jahre herabgesetzt und gemäß § 70 Abs. 3 FPG ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat erteilt werde. Im Übrigen wurde die Beschwerde „mit der Maßgabe abgewiesen, dass hinsichtlich der Erlassung des Aufenthaltsverbotes § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG iVm Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG anzuwenden ist“. Schließlich sprach das BVwG noch gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
6 Nachdem über fristgerechten Antrag des Revisionswerbers die schriftliche Ausfertigung dieses Erkenntnisses mit 18. September 2020 ergangen war, wurde die gegenständliche Revision erhoben, über deren Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage erwogen hat:
7 Nach der genannten Verfassungsbestimmung des Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
8 An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision unter dem genannten Gesichtspunkt nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
9 Gegen einen Unionsbürger, der sich unter (potentieller) Inanspruchnahme seines unionsrechtliches Freizügigkeitsrechtes in Österreich aufhält oder aufgehalten hat, kann nach § 67 Abs. 1 erster und zweiter Satz FPG ein Aufenthaltsverbot erlassen werden, wenn aufgrund seines persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist, wobei das persönliche Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen muss, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Hinsichtlich Unionsbürgern, die - gemäß § 53a Abs. 1 NAG nach einem fünfjährigen rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalt im Bundesgebiet - das Daueraufenthaltsrecht erworben haben, muss für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes der in § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG vorgesehene Gefährdungsmaßstab, der jenem in Art. 28 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) entspricht, erfüllt sein, nämlich dass der (weitere) Aufenthalt des Unionsbürgers eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Hält sich der Unionsbürger allerdings bei Erlassung des Aufenthaltsverbotes schon zehn Jahre rechtmäßig und ununterbrochen in Österreich auf, so verlangt der fünfte Satz des § 67 Abs. 1 FPG für die Zulässigkeit dieser Maßnahme, dass aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden könne, die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich werde durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet. Dieser Maßstab entspricht jenem des Art. 28 Abs. 3 lit. a der Freizügigkeitsrichtlinie (vgl. zum Ganzen unter Hinweis auf Vorjudikatur zuletzt VwGH 26.11.2020, Ro 2020/21/0013, Rn. 5).
10 Der Genuss des verstärkten Schutzes nach Art. 28 Abs. 3 lit. a der Freizügigkeitsrichtlinie, der mit § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG im innerstaatlichen Recht umgesetzt wurde, ist davon abhängig, dass sich der Betroffene in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisung im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufgehalten hat. Dieser Aufenthaltszeitraum von zehn Jahren muss grundsätzlich ununterbrochen gewesen sein und ist vom Zeitpunkt der Verfügung der Ausweisung des Betroffenen an zurückzurechnen. Zeiträume der Verbüßung einer Freiheitsstrafe finden für die Zwecke der Gewährung des verstärkten Schutzes nach der genannten Bestimmung keine Berücksichtigung und diese Zeiten können die Kontinuität des Aufenthalts im Sinne dieser Bestimmung grundsätzlich unterbrechen. Diesbezüglich ist eine die Gesamtheit der im Einzelfall relevanten Umstände berücksichtigende umfassende Beurteilung vorzunehmen, ob die zuvor mit dem Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsverbindungen durch die Verbüßung einer Freiheitsstrafe abgerissen sind. Dabei kommt es unter anderem darauf an, wie lange sich der Fremde vor dem Freiheitsentzug im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat sowie auf die Gesamtdauer der Unterbrechungen und deren Häufigkeit (siehe dazu unter Bedachtnahme auf EuGH [Große Kammer] 23.11.2010, Tsakouridis, C-145/09, und EuGH 16.1.2014, M. G., C-400/12, neuerlich VwGH 26.11.2020, Ro 2020/21/0013, nunmehr Rn. 10/11).
11 Das BVwG ging mit näherer Begründung davon aus, dass der Revisionswerber das Daueraufenthaltsrecht erworben habe und es ihm nach wie vor zukomme, sodass das gegenständliche Aufenthaltsverbot am Maßstab des § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG zu prüfen sei. Der verstärkte Schutz des § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG komme dem Revisionswerber nicht zu, weil durch die Verurteilung, der ein Tatzeitraum beginnend mit 1. September 2016 zugrunde lag, und durch die seit 13. Oktober 2017 ununterbrochene Anhaltung in Haft die „nicht unerheblichen Integrationsverbindungen zum Bundesgebiet“, die sich durch die Aufenthaltsdauer seit 2006, die Beschäftigungen und die familiären Bindungen ergäben, abgerissen seien.
12 Gegen diese Einschätzung wendet sich der Revisionswerber in der gemäß § 28 Abs. 3 VwGG erstatteten Begründung der Zulässigkeit der Revision und macht geltend, bei dieser Beurteilung sei das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (Hinweis auf VwGH 7.3.2019, Ra 2018/21/0097) abgewichen. Laut diesem Erkenntnis sei zu berücksichtigen, dass der (dortige) Revisionswerber mit seinen Verwandten während seiner Inhaftierung in Kontakt geblieben und unmittelbar nach seiner Enthaftung wieder eine unselbständige Beschäftigung gefunden habe. Das BVwG habe im vorliegenden Fall aber keine Feststellungen dazu getroffen, ob und inwieweit der Kontakt des Revisionswerbers zu seiner Familie seit dem Haftantritt weiter bestehe, und es hätte auf die Feststellung im angefochtenen Erkenntnis Bedacht nehmen müssen, dass der Revisionswerber für die Zeit nach seiner Haftentlassung über eine Einstellungszusage verfüge. Diesfalls wäre das BVwG zum Ergebnis gekommen, dass die Frage der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltsverbotes an Hand des Gefährdungsmaßstabes des § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG zu prüfen sei. Eine solche Gefährdung liege aber nicht vor, sodass das BVwG das Aufenthaltsverbot hätte ersatzlos beheben müssen.
13 Die Frage, ob im vorliegenden Fall vor dem Hintergrund der in Rn. 10 dargestellten Judikatur von einem ununterbrochenen Aufenthalt des Revisionswerbers in den letzten zehn Jahren im Sinne des fünften Satzes des § 67 Abs. 1 FPG trotz seiner Anhaltung in Untersuchungs- und Strafhaft seit Mitte Oktober 2017 bis (voraussichtlich) Mitte Februar 2021, somit in der Dauer von insgesamt drei Jahren und vier Monaten, hätte ausgegangen werden müssen, stellt eine einzelfallbezogene Beurteilung dar. Wie auch bei anderen einzelfallbezogenen Beurteilungen läge eine grundsätzliche Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG aber nur dann vor, wenn diese Einschätzung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Weise, also krass fehlerhaft, vorgenommen worden wäre (vgl. etwa VwGH 30.4.2020, Ra 2019/21/0362 bis 0365, Rn. 15, mwN).
14 Das ist hier auch unter Einbeziehung des Revisionsvorbringens schon angesichts der sehr langen Dauer der Freiheitsentziehung von zumindest drei Jahren und vier Monaten nicht der Fall. Insoweit ist die gegenständliche Konstellation auch nicht mit jener zu vergleichen, die dem in der Revision ins Treffen geführten Erkenntnis VwGH 7.3.2019, Ra 2018/21/0097, zugrunde lag. Dort hatte sich der Revisionswerber ab seinem 15. Lebensjahr bereits achtzehn Jahre in Österreich aufgehalten, bevor er die zu beurteilende Haft in der Dauer von fünfzehn Monaten antrat. Im Übrigen war der dort revisionsführende Fremde im Zeitpunkt der Erlassung des die Beschwerde gegen das Aufenthaltsverbot abweisenden Erkenntnisses des BVwG bereits enthaftet und wieder in den Arbeitsprozess eingegliedert. Aus dieser Entscheidung lässt sich daher nicht ableiten, das vom BVwG im vorliegenden Fall erzielte Ergebnis sei unvertretbar.
15 Dass angesichts der dem Revisionswerber zur Last liegenden Straftaten und der daraus ableitbaren Gefährlichkeit, für deren Wegfall es nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erst eines ausreichend langen Wohlverhaltens nach Verbüßung der Freiheitsstrafe bedarf (vgl. etwa VwGH 4.3.2020, Ra 2020/21/0035, Rn. 11), der Maßstab des § 66 Abs. 1 letzter Satzteil FPG erfüllt ist, wird aber auch in der Revision nicht in Frage gestellt.
16 Soweit in der weiteren Begründung der Revision noch die nach § 9 BFA-VG vorgenommene Interessenabwägung kritisiert wird, genügt es auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach bei derart schweren Verbrechen im Zusammenhang mit Suchtmitteln weder ein langjähriger Aufenthalt in Österreich noch eine sonst vollkommene soziale Integration im Inland einem Aufenthaltsverbot entgegen stehen (siehe etwa VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0207, Rn. 13, mit dem Hinweis u.a. auf VwGH 4.4.2019, Ra 2019/21/0081, Rn. 11, jeweils mwN). Den familiären Interessen an einem Verbleib in Österreich trug das BVwG ohnehin durch Herabsetzung der Dauer des Aufenthaltsverbotes - jedenfalls vor dem Hintergrund einer allfällig möglichen weiteren Verkürzung im Wege des § 69 Abs. 2 FPG - ausreichend Rechnung. Auch diesbezüglich liegt daher eine zumindest vertretbare Beurteilung vor, die der Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision auch insoweit entgegensteht (vgl. beispielsweise VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0199, Rn. 20, mwN).
17 Insgesamt werden daher in der Revision keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Sie war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
Wien, am 22. Dezember 2020
Schlagworte
Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210452.L00Im RIS seit
08.02.2021Zuletzt aktualisiert am
08.02.2021