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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §8 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. April 2020, W114 2202043-1/16E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: H S in W), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang (Spruchpunkte A.II. bis IV.) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein im Jahr 2000 geborener Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 7. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheid vom 19. Juni 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Mitbeteiligten sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkt II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.), und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt VI.).
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde des Mitbeteiligten gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides (Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten) ab (Spruchpunkt A.I.), gab ihr jedoch hinsichtlich von Spruchpunkt II. des Bescheides statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt A.II.), erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A.III.) und hob die Spruchpunkte III. bis VI. des Bescheides ersatzlos auf (Spruchpunkt A.IV.). Unter einem sprach das BVwG aus, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.).
4 Begründend stellte das BVwG - soweit hier in Bezug auf die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten maßgeblich - fest, der Mitbeteiligte leide an keiner lebensbedrohlichen Krankheit. Beim Mitbeteiligten sei eine posttraumatische Belastungsstörung verbunden mit Ein- und Durchschlafstörungen diagnostiziert worden, wofür ihm ein näher genanntes Medikament verordnet worden sei, welches er jedoch im Entscheidungszeitpunkt nicht mehr einnehme. Er stehe derzeit nicht in einer fachärztlichen (psychiatrischen) oder therapeutischen Behandlung, sondern habe nur alle sechs bis acht Wochen einen Kontrolltermin bei einem Allgemeinmediziner. Beim Mitbeteiligten sei im Mai 2018 auch eine behandlungsbedürftige juvenile arterielle Hypertonie („umgangssprachlich: Bluthochdruck“) diagnostiziert worden, welche seither konstant mit einem näher genannten Medikament behandelt werde. Weitere Medikamente, insbesondere Psychopharmaka, nehme der Mitbeteiligte nicht ein.
5 Die Sicherheitslage in der Heimatprovinz des Mitbeteiligten (Baghlan) sei relativ volatil, sodass er nicht dorthin zurückkehren könne. Ausgehend von den Länderfeststellungen und den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 sowie der EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 stünde dem Mitbeteiligten grundsätzlich eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Herat und Mazare Sharif zur Verfügung.
6 Ein behandelter Bluthochdruck sei in „normalen Zeiten“ keine lebensbedrohliche Krankheit. Der Mitbeteiligte gehöre wegen dieser Erkrankung jedoch zur Risikogruppe von Personen, die an einer Vorerkrankung litten, sodass sie bei einer allfälligen Ansteckung mit dem Covid-19-Virus besonders gefährdet seien, an einer Lungenerkrankung oder an multiplem Organversagen zu sterben. Angesichts der von der Staatendokumentation berichteten Massenabschiebungen von mehr als 100.000 Afghanen aus dem Covid-19-„Hochsicherheitsstaat“ (gemeint wohl: Hochrisikostaat) Iran nach Afghanistan könne nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass der Mitbeteiligte bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit dem Covid-19-Virus in Berührung komme, erkranke und infolge seiner Vorerkrankung daran versterben werde. Infiziere sich der Mitbeteiligte nämlich mit dem Virus, wäre seine medizinische Versorgung sowohl in Herat als auch in Mazar-e Sharif auf Grund der katastrophalen Unterversorgung des Landes mit verfügbaren Intensivbetten samt Beatmungsgeräten nicht gesichert. Selbst wenn es in Herat und Mazar-e Sharif Krankenhäuser mit kardiologischen Abteilungen gebe und ein (näher genanntes) Medikament, welches ebenfalls zur Behandlung von arterieller Hypertonie verwendet werde, in Afghanistan in beiden Großstädten erhältlich sei, drohe dem Mitbeteiligten auf Grund der aktuellen weltweiten Covid-19-Pandemie bei einer Rückkehr ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit bzw. Lebensgefahr.
7 Im Rahmen der Feststellungen gab das BVwG auch folgende Informationen der Homepage des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) zur Frage, welche Personen in Hinblick auf die Covid-19-Pandemie zur „Risikogruppe“ zählten, wieder:
„Jüngere Menschen sind seltener von schweren COVID-Krankheitsverläufen betroffen. Eine chronische Erkrankung zu haben, erhöht das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf noch nicht (z.B. Personen, deren hoher Blutdruck gut mit Medikamenten eingestellt ist). Wenn allerdings Personen mit einer schweren chronischen Grunderkrankung zusätzlich an COVID-19 erkranken, ist das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs erhöht. Dieses erhöhte Risiko trifft glücklicherweise nur auf einen kleinen Anteil von Personen zu. Zu dieser Personengruppe zählen unter anderem Menschen mit schweren chronischen Lungenerkrankungen (z.B. mit COPD im fortgeschrittenen Stadium oder mit zystischer Fibrose), mit fortgeschrittenen chronischen Nierenerkrankungen (z.B. Personen nach Nierentransplantation oder die Dialyse benötigen), mit fortgeschrittener Herzinsuffizienz sowie Menschen, die aktuell eine Krebstherapie erhalten oder diese erst innerhalb der letzten 6 Monate abgeschlossen haben. Erkrankungen wie diese können einen ungünstigen Erkrankungsverlauf annehmen lassen. Daher sollen sie zusätzlichen Anspruch auf Schutzmaßnahmen erhalten.“
8 Rechtlich führte das BVwG aus, für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten genüge es nicht, sich bloß auf eine allgemein schlechte Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan zu berufen. Es müssten vielmehr vom Betroffenen auch individuelle Umstände glaubhaft gemacht werden, die im Fall der Rückkehr nach Afghanistan eine reale Gefahr der Verletzung von Art. 3 EMRK für maßgeblich wahrscheinlich erscheinen ließen. Solche Umstände habe der Mitbeteiligte dargelegt, da bei ihm die Wahrscheinlichkeit, dass er bei einer Infektion mit dem Covid-19-Virus einem schweren Krankheitsverlauf, verbunden mit Lebensgefahr und notwendiger intensivmedizinischer Behandlung ausgesetzt wäre, um ein Vielfaches höher wäre. Seine medizinische Versorgung wäre aber in Herat und in Mazar-e Sharif nicht gesichert. „Konkrete Anhaltspunkte“ dafür, dass gerade der Mitbeteiligte einer solchen Gefahr ausgesetzt wäre, ergäben sich auf Grund der Prognosen des afghanischen Gesundheitsministeriums, wonach insgesamt 16 Millionen Einwohner an Covid-19 erkranken könnten und 700.000 Menschen in einem Krankenhaus, davon 220.000 Menschen möglicherweise auf Intensivstationen, behandelt werden müssten. Es bestehe daher eine „sehr hohe Wahrscheinlichkeit“, dass sich der Mitbeteiligte bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit dem Virus infizieren werde. Die Städte Herat und Mazar-e Sharif zählten nämlich zu den am stärksten vom Covid-19-Virus betroffenen Städten in Afghanistan. Der Mitbeteiligte habe dort keine Familienangehörigen, die ihm direkt nach Ankunft eine hygienische Unterkunft, wo sich der Mitbeteiligte für die Dauer der Covid-19-Pandemie isolieren könne und er mit Lebensmitteln versorgt würde, zur Verfügung stellen könnten. Dem Mitbeteiligten sei daher eine Ansiedlung in den Städten Herat und Mazar-e Sharif nicht zumutbar, weswegen ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen gewesen sei.
9 Gegen die Spruchpunkte A.II. bis IV. dieses Erkenntnisses, sohin gegen das gesamte Erkenntnis mit Ausnahme der Abweisung der Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten, richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in welchem der Mitbeteiligte keine Stellungnahme erstattet hat, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG habe die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten maßgeblich darauf gestützt, dass der Mitbeteiligte einer Risikogruppe angehöre, bei der ein schwerer Verlauf einer Covid-19-Erkrankung zu befürchten sei. Diese Annahme setze jedoch medizinisches Fachwissen voraus. Das BVwG lege aber weder dar, dass es selbst über solches Fachwissen verfüge, noch habe es ein entsprechendes Sachverständigengutachten eingeholt. Dieser Verfahrensmangel sei auch wesentlich, weil vor dem Hintergrund der vom BVwG festgestellten Informationen des BMSGPK nicht nachvollziehbar begründet sei, warum der Mitbeteiligte einer Risikogruppe angehören solle.
12 Die Revision ist zulässig und auch begründet.
13 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0221, mwN).
14 Das BVwG stützt die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten maßgeblich auf die Annahme, der Mitbeteiligte gehöre auf Grund seiner Vorerkrankung einer Risikogruppe an, sodass er bei einer Erkrankung an Covid-19 besonders gefährdet sei, wegen der ungenügenden medizinischen Versorgung in seinem Herkunftsstaat zu sterben.
15 Die Revision bringt zu Recht vor, dass diese Annahme mit jenen Feststellungen in Widerspruch steht, die das BVwG in Form einer Wiedergabe von Informationen des BMSGPK getroffen hat. Nach diesen Feststellungen erhöht nämlich eine „chronische Erkrankung“ das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf gerade nicht, wobei als Beispiel Personen genannt werden, deren hoher Blutdruck gut mit Medikamenten eingestellt ist. Würden hingegen Personen mit einer „schweren chronischen Grunderkrankung“ zusätzlich an Covid-19 erkranken, sei das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufes erhöht. Der Mitbeteiligte, der nach den Feststellungen des angefochtenen Erkenntnisses an Bluthochdruck leidet, zählt daher nicht zu den in den Informationen des BMSGPK beispielhaft angeführten Gruppen von Personen mit einer „schweren chronischen Grunderkrankung“.
16 Das BVwG lässt offen, ob die medikamentöse Behandlung der arteriellen Hypertonie des Mitbeteiligten bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat weiterhin möglich wäre. Wenn das BVwG aber ausführt, dem Mitbeteiligten drohe selbst dann, wenn eine solche medikamentöse Behandlung in seinem Herkunftsstaat möglich wäre, die aktuelle Gefahr einer schweren, unter den dortigen medizinischen Gegebenheiten nicht behandelbaren Erkrankung und daher ein Eingriff in seine Rechte nach Art. 3 EMRK, setzt es sich mit den oben genannten Feststellungen in Widerspruch, dass bei Personen, deren Bluthochdruck gut mit Medikamenten eingestellt ist, eine chronische Erkrankung das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufes gerade nicht erhöht.
17 Schon damit hat aber das BVwG sein Erkenntnis mit einem Verfahrensmangel belastet, dessen Relevanz in der Revision auch dargelegt wird.
18 Das angefochtene Erkenntnis war daher im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich seiner Spruchpunkte A.II. bis IV., gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Wien, am 13. Jänner 2021
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020190171.L00Im RIS seit
15.02.2021Zuletzt aktualisiert am
15.02.2021