Entscheidungsdatum
04.05.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
L526 2175443-2/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina SCHREY, LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten von Diakonie Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH als Mitglied der ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG iVm § 68 Abs. 1 AVG; 57 AsylG 2005, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG, § 15b AsylG 2005 sowie § 52 Abs. 2 Z 2 FPG 2005, § 52 Abs. 9 FPG, § 46 FPG, § 53 FPG und § 55 Abs. 1a FPG 2005 idgF. als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrenshergang
I.1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge auch kurz als „BF“ bezeichnet) ist Staatsangehöriger des Irak und stellte nach seiner schlepperunterstützten Einreise ins Bundesgebiet am 16.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 17.09.2015 (im Folgenden: Erstbefragung) gab der BF an, den im Spruch genannten Namen zu führen, Staatsangehöriger des Irak zu sein, der arabischen Volksgruppe anzugehören und Moslem der sunnitischen Glaubensrichtung zu sein. Er sei an dem im Spruch ersichtlichen Datum im Irak geboren. Er sei traditionell und standesamtlich verheiratet und habe keine Kinder. Zuletzt habe er in XXXX gelebt.
Zu den Gründen seiner Ausreise befragt gab der BF an, dass er Syrien wegen dem Krieg verlassen habe und das Wohngebiet bombardiert worden sei. Bei einer Rückkehr in seine Heimat habe er Angst um sein Leben. Begründend gab der BF an, dass seine Familie von Schiiten bedroht worden sei. In der Früh hätten sie zwei Warnschüsse gehört und in einem Kuvert sei ein Zettel gewesen, in dem geschrieben stand, dass sie ihr Haus verlassen sollen.
I.2. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der BF am 21.09.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, der nunmehr belangten Behörde (im Folgenden auch kurz „bB“ genannt) im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in arabischer Sprache niederschriftlich vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter einvernommen.
Eingangs bestätigte der BF, die arabische Sprache zu verstehen, gesund zu sein und im Verfahren bislang wahrheitsgemäße Angaben gemacht zu haben. Zu berichtigen sei, dass er lediglich traditionell verheiratet sei und die Hochzeit weder registriert noch vollzogen worden sei. Unrichtig sei auch, dass er 2007 nach Syrien ging. Die gesamte Familie sei bereits 2005 nach Syrien gegangen. Ferner legte der BF Dokumente bzw. Unterlagen, unter anderem einen irakischen Reisepass im Original, vor.
Zur Person und seinen Lebensumständen befragt gab der BF an, dass er sunnitischer Araber und in XXXX geboren sei. Er habe mit seiner Familie bis 2005 in XXXX gelebt. Von 2005 bis November 2013 habe er mit seiner Familie in Damaskus, Syrien, gelebt. Die Familie sei 2013 in den Irak zurückgekehrt und habe am Stadtrand von XXXX gelebt. Er wisse nicht, wo seine Familie sei und habe seit 17.05.2017 keinen Kontakt mehr zu ihr. Sein Bruder, zwei Onkel und ein Cousin würden in Österreich leben.
Nach der Rückkehr in den Irak habe die Familie dort bis Juli 2014 gelebt und sei legal ausgereist. Der BF habe im Juli 2005 in Syrien und im August 2014 in der Türkei Asyl beantragt. Der BF habe die Türkei vor seinem Einvernahmetermin im Asylverfahren ( XXXX ) verlassen. Er habe die Türkei verlassen, da sein Bruder bereits in Österreich gewesen sei und ihm mitgeteilt habe, dass Asylwerber in Österreich herzlich willkommen seien.
Zu seinen Asylgründen wurde Folgendes niedergeschrieben (Auszüge aus der Niederschrift der Einvernahme bei der bB):
„F: Aus welchem Grund suchten Sie in Österreich um Asyl an? Schildern Sie möglichst ausführlich und konkret Ihre Flucht- und Asylgründe! (Freie Erzählung)
A: Es gibt viele Gründe. Der erste Grund ist die Arbeit meines Vaters. Zweitens die Lage im Irak zwischen den Schiiten und Sunniten. Aber der Hauptgrund ist die Arbeit meines Vaters in der Zeit unter Saddam Hussein.
F: Können Sie das genauer beschreiben?
A: Mein Vater hat zur Zeit Saddams als Unteroffizier gearbeitet. Er hat im Büro von Sabawi Ibrahim Al Hassan gearbeitet. Das ist der Stiefbruder von Saddam Hussein. Der war zuständig im Innenministerium für die Sicherheit.
F: Haben sie alle Fluchtgründe genannt?
A: Ja.
F: Ansonsten haben Sie keine Fluchtgründe?
A: Nein.
F: Gab es konkrete Vorfälle, weshalb Sie den Irak dann verlassen haben?
A: Es war ein Vorfall, als ich den Irak nach Syrien verlassen habe.
F: Was war das für ein Vorfall?
A: Die Milizen haben mich angegriffen. Mein Vater war bekannt und berühmt im Ort. Am Nachmittag wurden wir in unserem Haus angegriffen. Sie haben auf unser Haus mit einer Kalaschnikow geschossen. Sie sind danach weggegangen. 2 Tage danach haben sie an unsere Tür geschrieben „gesucht“. Wir haben auch einen Brief erhalten, in dem geschrieben stand, dass wir das Haus verlassen müssen, da wir sonst tot wären.
F: Gab es auch einen Vorfall, weshalb Sie den Irak dann ein zweites Mal verlassen haben?
A: 2013 sind wir in den Irak zurückgegangen und mussten uns immer versteckt bewegen. Wir haben alle ein bis zwei Monate den Wohnort wechseln. Dann wurde mein Bruder entführt und gefoltert. Nach dem Krieg in Syrien war, mussten wir zurück in den Irak. Wir hatten keine andere Alternative.
F: Wurden Sie jemals persönlich bedroht?
A: Nein. Es wurde nur die Familie bedroht. Mein Vater wurde angerufen und es wurde ihm gesagt, dass sie den ersten Sohn hätten und auch den zweiten bekommen würden. Sie haben auch Lösegeld verlangt.
F: Wie viel Lösegeld hat Ihr Vater bezahlt?
A: Ich weiß es nicht genau aber es waren zwischen 10000.- und 15000.- US Dollar.
F: Woher hatte Ihr Vater das Geld?
A: Er hat nicht bezahlt.
F: Wurde Ihr Bruder freigelassen, obwohl nicht bezahlt wurde?
A: Ja. Sie haben ihn freigelassen, nachdem er gefoltert wurde. Er erlitt verbrennungen. Man hat uns 3 Tage gegeben. Wenn wir ihnen nicht das Geld geben wollten sie ihn töten.
F: Aber die Entführer haben kein Geld erhalten und ihn nicht getötet. Ist das korrekt?
A: Ja.
F: Hatten Sie persönlich jemals Schwierigkeiten oder Probleme mit den Behörden Ihres Heimatlandes?
A: Nein.
F: Wurde die Entführung angezeigt?
A: Wir wurden gewarnt, dass mein Bruder getötet wird, wenn wir die Clans oder die Polizei informieren.
F: Gehören Sie einer politischen Partei an?
A: Nein.
F: Wurden Sie persönlich jemals wegen Ihrer politischen Einstellung verfolgt oder bedroht?
A: Nein.
F: Ist gegen Sie im Irak oder einem anderen Drittstaat ein Gerichtsverfahren anhängig?
A: Nein.
F: Waren Sie in Haft oder wurden Sie festgenommen?
A: Nein.
F: Wurden Sie persönlich jemals wegen Ihrer Religion verfolgt oder bedroht?
A: Ja. Mehrmals.
F: Was waren das für Bedrohungen?
A: Ich habe mich an der Uni im Irak angemeldet und ich wurde nicht genommen. Da ich Sunnit bin und wegen der Arbeit meines Vaters wurde ich nicht genommen.
F: Bei welcher Uni war das?
A: Die technische Uni in Bagdad.
F: Könnte der Grund für die nichtaufnahme auch sein, da Sie kein irakisches Zeugnis haben?
A: Ja, das ist auch ein Grund.
F: Wurden Sie persönlich jemals wegen Ihrer Rasse, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (AW wirde zur sozialen Gruppe manduziert) verfolgt oder bedroht?
A: Nein.
LA: Möchten Sie, dass die aktuellen Länderfeststellungen und weitere Rechercheergebnisse zu Ihrem Herkunftsland mit Ihnen erörtert werden um eine Stellungnahme dazu abgeben zu können?
A: Nein.
Anmerkung: AW wird nochmals zur Wahrheitspflicht belehrt.
F: Weshalb haben Sie bei der Erstbefragung einen total anderen Fluchtgrund angegeben als heute?
A: Ich habe die gleichen Gründe angegeben.
F: Weshalb hat Ihr Bruder andere Angaben gemacht zu Ihrer Flucht und der Zeit in Syrien als Sie?
A: Es wurden nicht dieselben Fragen gestellt wie bei meinem Bruder.
F: Ihr Bruder hat angegeben, dass die Familie nur 2 Monate in Syrien gelebt hat. Was sagen Sie dazu?
A: Ich habe keine Ahnung. Die Papiere beweisen, dass ich über 9 Jahre in Syrien war.
F: In der Erstbefragung steht auch, dass Sie Ihre Flucht von Syrien 2015 aus begonnen haben. Heute sagen Sie was anderes. Was ist korrekt?
A: Ich bin geflüchtet von Syrien nach Irak und das 2013.
F: Sie haben gesagt, dass Sie 2014 aus dem Irak in die Türkei geflüchtet sind. Ist das korrekt?
A: Ja.
F: Was würde Sie erwarten, wenn Sie in den Irak zurückkehren würden?
A: Der Tod
F: Wer würde Sie töten?
A: Die Milizen.
F: Weshalb?
A: Wegen der Arbeit meines Vaters. Mein Vater hat diese Leute zur Zeit Saddams verfolgt und jetzt ist es umgekehrt.
F: Das heißt, dass Ihr Vater damals das selbe gemacht hat wie jetzt die Milizen?
A: Nein. Mein Vater hat für die Regierung gearbeitet.
F: Würde das heißen, wenn Sie in den Irak zurückkehren, werden Sie getötet?
A: Ja. Ich bin mir 100% sicher.
F: Sie sind allerdings nach Ihrer Flucht 2014 im Jahr 2015 nochmals in den Irak zurückgekehrt. Wie ist das möglich wenn Sie angeblich so verfolgt sind, dass Sie nicht in den Irak zurückkehren können?
A: Ich hatte Probleme mit meinem Vater.
F: Das heißt, dass Sie ohne Probleme, wegen einem Streit mit Ihren Vater, in den Irak zurückreisen konnten?
A: Ich hatte Glück. Es war ein Wunder.
F: Könnten Sie sich vorstellen in einem anderen Teil des Iraks zu leben?
A: Nein.
F: Weshalb nicht?
A: Die aktuelle Lage im Irak. Ich weiß auch nicht wo meine Familie ist.“
I.3. Mit Bescheid der bB wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 16.09.2015 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG [2005] (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG [2005] (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG [2005] nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG [2005] iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung des BF in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt IV.).
Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nach Wiedergabe der Einvernahme des BF und den Feststellungen zu dessen Person aus, dass nicht festgestellt werden konnte, dass der BF sein Heimatland aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung aufgrund der Arbeit seines Vaters während der Regierungszeit Saddam Hussein verlassen habe und habe der BF nie Probleme mit den Behörden seines Heimatlandes gehabt. Im Falle einer Rückkehr sei er keiner Gefährdung durch den irakischen Staat oder privater Personen ausgesetzt. Die Rückkehr in den Irak sei dem BF zumutbar und möglich.
In rechtlicher Hinsicht folgerte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, dass der BF keine Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention glaubhaft machen konnte, sodass kein internationaler Schutz zu gewähren sei. Dem BF sei der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, da keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention drohe. Dem BF sei kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 zu erteilen, die Rückkehrentscheidung und seine Abschiebung gemäß § 50 FPG seien zulässig. Besondere Umstände, die die Verlängerung der Frist der freiwilligen Ausreise erforderlich machen, liegen keine vor.
I.4. Am XXXX führte das Bundesverwaltungsgericht in der Außenstelle Graz eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des BF, seiner rechtsfreundlichen Vertreterin und einer Dolmetscherin für die arabische Sprache durch.
I.5. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom XXXX wurde die Beschwerde in allen Spruchpunkten als unbegründet abgewiesen.
I.6. Am XXXX stellt der BF einen weiteren, den gegenständlichen, Antrag auf die Gewährung von internationalen Schutz. Dazu wurde er wieder einer Erstbefragung unterzogen und in der Folge von einem Organwalter des Bundesasylamtes niederschriftlich einvernommen.
Anlässlich der Erstbefragung begründete der BF seinen nunmehrigen Antrag damit, dass er nach Erhalt des negativen Asylbescheides psychisch krank geworden sei. Er könne nicht mehr schlafen und habe Angst vor der Abschiebung. Wenn man ihn in den Irak schicke, habe er Angst, dass ihn die Milizen dort ermorden würden. Die Bedrohungen seien dieselben, wie bei seinem ersten Asylantrag im Jahr 2015.
I.7. Mit Verfahrensanordnung vom XXXX wurde dem BF mitgeteilt, dass er in einem in der Verfahrensanordnung näher bezeichneten Quartier Unterkunft zu nehmen habe. Die Verfahrensanordnung wurde dem BF am XXXX persönlich übergeben.
I.8. Am 13.2.2020 wurde der BF von der bB einvernommen. Anlässlich dieser Einvernahme gab der BF an, gesund zu sein und keine Medikamente zu nehmen. Zu den Gründen für die neue Antragstellung gab der BF an, er könne im Irak nicht leben. Die Behörde müsse das verstehen. Wenn er zurückkehren könne, hätte er das schon vor fünf Jahren gemacht. Ferner gab der BF an, dass sein Bruder und seine zwei Onkel zum gleichen Zeitpunkt wie er eingereist seien und diese Asyl erhalten hätten. Er habe eine negative Entscheidung bekommen, was er bis jetzt nicht verstehe. Das habe ihn psychisch sehr belastet. Teilweise habe er Suizidgedanken, er rauche täglich zwei Packungen Zigaretten und könne „nicht mehr als 23 Stunden täglich schlafen“. Er sei noch nicht beim Arzt gewesen, denn er habe Angst, dass ihn die Behörden finden und ihn nach XXXX bringen würden. Dort würde sich seine Lage verschlimmern. Es sei bekannt, dass es sich bei der dortigen Einrichtung um ein Abschiebelager handelt. Weitere Gründe habe er nicht. Wenn die schiitischen Milizen den Irak verlassen, würde er freiwillig dorthin zurückkehren.
Zu den in Österreich lebenden Verwandten gab der BF an, dass seine zwei Onkel und sein Bruder in XXXX leben würden und er eine gute Verbindung zu ihnen habe. Früher hätten sie sich regelmäßig besucht. In den letzten Monaten habe er bei verschiedenen Freunden gelebt. Es habe trotzdem regelmäßigen Kontakt gegeben.
Finanziell sei er von seinen Angehörigen abhängig, weil sie alles für ihn bezahlen würden. Die Verwandten hätten genug Geld, da sie arbeiten. Auf Vorhalt, dass der BF Mittel aus der Grundversorgung erhalten würde, gab er an, er bekomme von jedem etwa 100 Euro, insgesamt also 300 Euro. Er dürfe auch bei ihnen wohnen. Bisher seien sie nicht an derselben Adresse gemeldet gewesen, da das von der Caritas nicht genehmigt worden sei. Das sei „wegen dem Deutschniveau“ so gewesen. Er befinde sich in der Grundversorgung, möchte aber so bald wie möglich bei seinem Bruder wohnen. Er könne sich dort anmelden.
Auch habe er sich um Arbeit bemüht und er könne jederzeit Arbeit finden, aber auch das sei nicht genehmigt worden. Er habe keine Deutschkurse absolviert und die Arbeit als Zeitungsverteiler nicht mehr ausüben dürfen. Seine Deutschkenntnisse schätzte er als gut ein. Er habe kein Geld für Prüfungen gehabt, die Prüfung für A2 könne er aber „locker schaffen“, für B1 müsste er etwas lernen. Ehrenamtliche Tätigkeiten könne er nicht ausüben, da er auf einem Berg in XXXX wohne. Deshalb sei er auch nicht Mitglied in einem Verein. Er habe aber viele Freunde gewonnen.
Zu seinen Angehörigen im Irak befragt gab der BF an, es seien alle auf der Flucht und in der Türkei aufhältig. Er habe Onkeln und Tanten in XXXX und XXXX , bei diesen handle es sich aber nicht um seine Kernfamilie. Er habe nur schwachen Kontakt zu ihnen; zu den Festen.
Am XXXX wurde der BF neuerlich von der bB einvernommen, wo er im Wesentlichen angab, sein Gesundheitszustand habe sich seit der letzten Einvernahme nicht geändert und es seien auch keine Korrekturen der letzten Niederschrift notwendig. Er habe lediglich Ergänzungen zur aktuellen Lage im Irak. Dazu gab der BF dann an, dass die letzten Ereignisse im Irak sehr gefährlich gewesen seien. Das Land sei im Chaos und die Milizen hätten das Haus seines Onkels gestürmt und dessen Sohn, seinen Cousin, abgeführt, weil dieser an Demonstrationen teilgenommen habe. Sie hätten ihn zusammengeschlagen und vergewaltigt und dann auf der Straße liegen gelassen. Er sei dann in die Türkei geflüchtet. Der BF habe darüber etwas in den sozialen Medien gelesen und einen Anruf von seinem Onkel in XXXX erhalten. Der Cousin, von dem er gesprochen habe, sei der Cousin, der in den Irak zurückgegangen sei. Befragt, weshalb der BF glaube, dass dieser Vorfall Auswirkungen auf ihn haben könne, gab er an, dass er Angst habe, ihm würde das Gleiche passieren, wenn er zurückkehre, weil viele junge Männer an Demonstrationen teilnehmen und dann viele Familienmitglieder festgenommen würden. Weil er mit seinem Cousin verwandt sei, gerate er ebenfalls unter Verdacht.
I.9. Mit Verfahrensanordnung vom XXXX wurde dem BF mitgeteilt, dass er in einem anderen in der Verfahrensanordnung näher bezeichneten Quartier Unterkunft zu nehmen habe. Die Verfahrensanordnung wurde dem BF am XXXX persönlich übergeben.
I.10. In der Folge wurde eine Verständigung von der Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft XXXX vom 10.12.2019 wegen § 83 Abs. 1 StGB, § 125 StGB, § 15 StGB § 83 StGB zum Akt genommen.
I.11. Mit im Spruch ersichtlichen Bescheid wurde der Antrag gemäß § 68 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz, BGBl. Nr. 51/1991 idgF (AVG) hinsichtlich des Status des Asylberechtigten und hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten zurückgewiesen (Spruchpunkt I und Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß §§ 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III). Gemäß § 10 AsylG iVm § 9 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 FPG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF erlassen (Spruchpunkt IV). Es wurde gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG in den Irak zulässig ist (Spruchpunkt V). Gemäß § 55 Absatz 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise. (Spruchpunkt VI). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG wurde ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII). Gemäß § 15b Abs. 1 AsylG wurde dem BF aufgetragen von 5.2.2020 bis XXXX in einem im Bescheid näher bezeichneten Quartier Unterkunft zu nehmen (Spruchpunkt VIII). Gemäß § 15b Abs. 1 AsylG wurde dem BF aufgetragen ab XXXX in einem anderen im Bescheid ebenfalls näher bezeichneten Quartier Unterkunft zu nehmen (Spruchpunkt IX).
Der angefochtene Bescheid wurde im Wesentlichen damit begründet, dass die Gründe, welche im Vorverfahren angegeben worden seien, weiter aufrecht blieben und es keine wesentliche Änderung im Vergleich zu jenen Entscheidungen gab, in denen letztmalig inhaltlich über den Antrag entschieden wurde. Der neu hinzugekommenen Grund, nämlich dass ein Cousin des BF wegen der Teilnahme an Demonstrationen im Irak misshandelt worden sei, habe nicht schlüssig und glaubhaft dargelegt werden können. Die Behörde gehe in diesem Zusammenhang von einer unwahren Steigerung des Fluchtvorbringens aus und es liege damit keine glaubhafte Neuerung im Vergleich zu jenem Sachverhalt, der schon im Vorverfahren festgestellt wurde, vor.
Die Voraussetzungen zur Erteilung eines Aufenthaltsrechts liegen nicht vor und insbesondere stellte eine Rückkehrentscheidung keinen unzulässigen Eingriff in das Privat- und Familienleben des BF dar.
Der angefochtene Bescheid enthält Feststellungen zur asyl- und abschiebungsrelevanten im Herkunftsstaat des BF.
Mit Verfahrensanordung vom 19.3.2020 wurde dem BF ein Rechtsberater gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig zur Seite gestellt.
I.12. Gegen den oa. Bescheid wurde mit im Akt ersichtlichen Schriftsatz innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.
Im Wesentlichen wurde vorgebracht, dass es die Behörde unterlassen habe, Untersuchungen des Gesundheitszustandes vorzunehmen, zumal der BF vorgebracht habe, er leide unter Suizidgedanken. Ferner habe der BF vorgebracht, sein Cousin sei festgenommen und vergewaltigt worden, als er im Irak an einer Demonstration teilgenommen habe. Auch der BF fürchte deshalb Verfolgung. Die bB hätte jedenfalls genauer nachfragen müssen.
Ferner habe es im Irak am 19.3.2020 bereits 192 bestätigte CoVID 19-Fälle gegeben. Die bB hätte sich jedenfalls genauer mit der Situation im Land auseinandersetzen und zur Ansicht gelangen müssen, dass sich die Sachlage seit Rechtskraft der früheren Entscheidung erheblich verschlechtert hat. Zu berücksichtigen sei auch die mangelnde Gesundheitsversorgung im Irak. Der BF sei auf die Hilfe seines Bruders angewiesen, zu dem er ein sehr enges Verhältnis habe. Er sei aufrecht bei seinem Bruder gemeldet und dieser sorge auch für ihn. Mit Ausnahme der Krankenversicherung beziehe der BF keine Mittel aus der Grundversorgung mehr. Die bB hatte den BF nicht zu seinem Privatleben befragt und hätte auch den Bruder als Zeugen einvernehmen müssen. Zumal das Verfahren mangelhaft geblieben sei, dürften auch neue Tatsachen vorgebracht und neue Beweismittel vorgelegt werden. Es werde ausdrücklich die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt. In der Folge werden Ausführungen zur Allgemeinen Lage im Irak getätigt und beanstandet, dass die von der bB verwendeten Länderberichte unvollständig und veraltet seien. Abschließend wird die mangelhafte Beweiswürdigung und die unrichtige rechtliche Beurteilung durch die bB gerügt.
In der Beilage wurde eine Vollmacht sowie ein Dokument der bB über die Leistungen der Grundversorgung des Bundes beigelegt.
I.13. Hinsichtlich des Verfahrensherganges bzw. dem Beschwerdevorbringen im Detail wird auf den Akteninhalt bzw. die entsprechenden Stellen des gegenständlichen Erkenntnisses verwiesen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt)
II.1.1. Der BF führt den im Erkenntniskopf angeführten Namen und wurde am dort angeführten Datum geboren. Seine Identität steht fest. Der BF ist Staatsangehöriger des Irak, lediglich traditionell verheiratet und kinderlos. Der BF stellte am 17.9.2015 einen ersten Antrag auf internationalen Schutz, welcher mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom XXXX rechtskräftig abgewiesen wurde.
II.1.2. Verfahrensgang und Sachverhalt (oben Pkt I.) ergeben sich aus dem Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsverfahrensakten der bB zum vorangegangenen und gegenständlichen Verfahren sowie aus dem Gerichtsakten des Bundesverwaltungsgerichtes Außenstelle Graz. Eine relevante Änderung des vorgebrachten Sachverhaltes im maßgeblichen Zeitraum konnte nicht festgestellt werden.
II.1.3. Dem BF droht im Irak keine aktuelle, konkrete und individuelle Verfolgung seiner Person. Ebenso kann nicht festgestellt werden, dass der BF in eine seine Existenz bedrohende Notlage geraten wird. Auch hat sich die allgemeine Situation im Herkunftsstaat des BF in Bezug auf die bereits im vorangegangenen Asylverfahren behandelten Aspekte und soweit sie den BF betrifft nicht geändert. Der BF wird auch aufgrund der Situation im Zusammenhang mit den im Irak stattfindenden Protesten eine unmittelbare persönliche Gefährdung nicht zu befürchten haben.
II.1.4. Der BF leidet an keiner unmittelbar mit Lebensgefährdung oder einem schweren Leiden verbunden Krankheit. Er nimmt keine Medikamente.
II.1.5. Der BF verfügt auch über eine grundlegende Schulbildung und über Berufserfahrung im Bereich der XXXX . Er hat familiäre Anknüpfungspunkte in XXXX .
II.1.6. Der BF erhielt bis 27.2.2020 volle Unterstützung aus den Mitteln der Grundversorgung in Österreich. Seit 8.4.2020 erhält er Unterstützung lediglich in Form einer Krankenversicherung.
Der BF ist nicht selbsterhaltungsfähig und verblieb nach rechtskräftigem Abschluss seines ersten Asylverfahrens rechtswidrig in Österreich. Nach rechtskräftigem Abschluss des ersten Asylverfahrens ignorierte der BF die gesetzliche Verpflichtung zum Verlassen des Bundesgebietes.
Der BF verstößt auch gegen eine ihm mit Verfahrensanordnung im gegenständlichen Verfahren aufgetragene Unterkunftnahme. Seit 28.2.2020 wohnt der BF in der Wohnung seines Bruders. Er wird finanziell von diesem und von seinen zwei Onkeln, die ebenfalls in Österreich leben, unterstützt. Seine Krankenversicherung wird weiterhin aus Mitteln der öffentlichen Hand finanziert.
Eine entscheidungsrelevante Integrationsverfestigung liegt nicht vor.
Die Staatsanwaltschaft XXXX hat Anklage wegen § 83 Abs. 1 StGB, § 125 StGB, § 15 StGB § 83 StGB (Sachbeschädigung und Körperverletzung) gegen den BF erhoben.
II.1.7. Zur gegenwärtigen Lage im Irak betreffend den den Corona-Virus und die daraus resultierende Lungenkrankheit CoVID-19 wird Folgendes festgestellt:
Am 4.5.2020 waren im Irak 2296 Corona-Falle bekannt, 97 Personen sind gestorben und 1.490 Personen haben sich von einer Infizierung erholt (https://www.worldometers.info/coronavirus/country/iraq/).
Die Ausbreitung der Atemwegserkrankung COVID-19 führt vielerorts zu verstärkten Einreisekontrollen, Gesundheitsprüfungen mit Temperaturmessungen und Einreisesperren.
Ausländischen Reisenden, die sich seit dem 14. Januar 2020 in China aufgehalten haben, wird die Einreise in den Irak, einschließlich der Region Kurdistan-Irak, nicht gestattet. Seit 20. Februar 2020 sind die Grenzübergänge zum Iran aufgrund der dortigen Corona-Virus Infektionen mit ersten Todesfällen geschlossen; auch die Grenze zu Kuwait wurde zwischenzeitlich für die Einreise ausländischer Staatsangehöriger gesperrt. Mit Ausnahme von irakischen Staatsangehörigen, die in den Irak zurückkehren, darf die Grenze nicht mehr passiert werden (https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/irak-node/iraksicherheit/202738).
II.1.8. Zur sonstigen allgemeinen Lage im Irak werden folgende Feststellungen getroffen:
II.1.8.1. Aktuelle Informationen:
Zur politischen Situation:
Im November 2019 trat Premierminister Adel Abdul Mahdi als Folge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste gegen die Korruption, den sinkenden Lebensstandard und den ausländischen Einfluss im Land, insbesondere durch den Iran, aber auch durch die Vereinigten Staaten (RFE/RL 24.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020) zurück. Präsident Barham Salih ernannte am 1.2.2020 Muhammad Tawfiq Allawi zum neuen Premierminister (RFE/RL 6.2.2020). Dieser scheiterte mit der Regierungsbildung und verkündete seinen Rücktritt (Standard 2.3.2020; vgl. Reuters 1.3.2020). Am 17.3.2020 wurde der als sekulär geltende Adnan al-Zurfi, ehemaliger Gouverneur von Najaf als neuer Premierminister designiert (Reuters 17.3.2020).
Im Dezember 2019 hat das irakische Parlament eine der Schlüsselforderung der Demonstranten umgesetzt und einem neuen Wahlgesetz zugestimmt (RFE/RL 24.12.2019; vgl. NYT 24.12.2019). Das neue Wahlgesetz sieht vor, dass zukünftig für Einzelpersonen statt für Parteienlisten gestimmt werden soll. Hierzu soll der Irak in Wahlbezirke eingeteilt werden. Unklar ist jedoch für diese Einteilung, wie viele Menschen in den jeweiligen Gebieten leben, da es seit über 20 Jahren keinen Zensus gegeben hat (NYT 24.12.2019).
Die nächsten Wahlen im Irak sind die Provinzwahlen am 20.4.2020, wobei es sich um die zweite Verschiebung des ursprünglichen Wahltermins vom 22.12.2018 handelt. Es ist unklar, ob die Wahl in allen Gouvernements des Irak stattfinden wird, insbesondere in jenen, die noch mit der Rückkehr von IDPs und dem Wiederaufbau der Infrastruktur zu kämpfen haben. Die irakischen Provinzwahlen umfassen nicht die Gouvernements Erbil, Sulaymaniyah, Duhok und Halabja, die alle Teil der KRI sind, die von ihrer eigenen Wahlkommission festgelegte Provinz- und Kommunalwahlen durchführt (Kurdistan24 17.6.2019).
Zur Sicherheitslage:
Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).
Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).
Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).
Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen:
Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).
Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).
Die folgende Grafik von ACCORD zeigt im linken Bild, die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle mit mindestens einem Todesopfer im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt. Auf der rechten Karte ist die Zahl der Todesopfer im Irak, im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt, dargestellt (ACCORD 26.2.2020).
(ACCORD 26.2.2020)
Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken) (IBC 2.2020).
IBC 2.2020)
Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle dokumentierte IBC im Oktober 2019 361 zivile Todesopfer im Irak, im November 274 und im Dezember 215, was jeweils einer Steigerung im Vergleich zum Vergleichszeitraum des Vorjahres entspricht. Im Jänner 2020 wurden 114 zivile Todesopfer verzeichnet, was diesen Trend im Vergleich zum Vorjahr wieder umdrehte (IBC 2.2020).
(IBC 2.2020)
Quellen:
- ACCORD (26.2.2020): Irak, 4. Quartal 2018: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), https://www.ecoi.net/en/file/local/2025321/2018q4Iraq_de.pdf, Zugriff 13.3.2020
- IBC - Iraq Bodycount (2.2020): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019,https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html, Zugriff 13.3.2020
Sicherheitslage Bagdad
Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).
Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).
Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).
Dabei wurden am 7. und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).
Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)
Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).
Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.
Sicherheitslage Nord- und Zentralirak:
Der Islamische Staat (IS) ist im Zentralirak nach wie vor am aktivsten (Joel Wing 3.2.2020), so sind Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala nach wie vor die Hauptaktionsgebiete der Aufständischen (Joel Wing 2.12.2019).
In den sogenannten „umstrittenen Gebieten“, die sowohl von der Zentralregierung als auch von der kurdischen Regionalregierung (KRG) beansprucht werden, und wo es zu erheblichen Sicherheitslücken zwischen den zentralstaatlichen und kurdischen Einheiten kommt, verfügt der IS nach wie vor über operative Kapazitäten, um Angriffe, Bombenanschläge, Morde und Entführungen durchzuführen (Kurdistan24 7.8.2019). Die Sicherheitsaufgaben in den „umstrittenen Gebieten“ werden zwischen der Bundespolizei und den Volksmobilisierungskräften (al-Hashd ash-Sha‘bi/PMF) geteilt (Rudaw 31.5.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).
Zu Rechtsschutz und Justizwesen:
Die Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Justiz (Stanford 2013; vgl. AA 12.1.2019; USDOS 11.3.2020). Jedoch schränken bestimmte gesetzliche Bestimmungen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ein (USDOS 11.3.2020). Die Rechtsprechung ist in der Praxis von einem Mangel an kompetenten Richtern, Staatsanwälten sowie Justizbeamten gekennzeichnet. Eine Reihe von Urteilen lassen auf politische Einflussnahme schließen. Hohe Richter werden oftmals auch unter politischen Gesichtspunkten ausgewählt (AA 12.1.2019). Zudem ist die Justiz von Korruption, politischem Druck, Stammeskräften und religiösen Interessen beeinflusst. Aufgrund von Misstrauen gegenüber Gerichten oder fehlendem Zugang wenden sich viele Iraker an Stammesinstitutionen, um Streitigkeiten beizulegen, selbst wenn es sich um schwere Verbrechen handelt (FH 4.3.2020).
Die Verfassung garantiert das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess für alle Bürger (USDOS 11.3.2020) und das Recht auf Rechtsbeistand für alle verhafteten Personen (CEDAW 30.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Dennoch verabsäumen es Beamte routinemäßig, Angeklagte unverzüglich oder detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu informieren. In zahlreichen Fällen dienen erzwungene Geständnisse als primäre Beweisquelle. Beobachter berichteten, dass Verfahren nicht den internationalen Standards entsprechen (USDOS 11.3.2020).
Die Behörden verletzen systematisch die Verfahrensrechte von Personen, die verdächtigt werden dem IS anzugehören, sowie jene anderer Häftlinge (HRW 14.1.2020). Die Verurteilungsrate der im Schnelltempo durchgeführten Verhandlungen tausernder sunnitischer Moslems, denen eine IS-Mitgliedschaft oder dessen Unterstützung vorgeworfen wurde, lag 2018 bei 98% (USCIRF 4.2019). Menschenrechtsgruppen kritisierten die systematische Verweigerung des Zugangs der Angeklagten zu einem Rechtsbeistand und die kurzen, summarischen Gerichtsverfahren mit wenigen Beweismitteln für spezifische Verbrechen, abgesehen von vermeintlichen Verbindungen der Angeklagten zum IS (FH 4.3.2020; vgl. CEDAW 30.9.2019). Rechtsanwälte beklagen einen häufig unzureichenden Zugang zu ihren Mandanten, wodurch eine angemessene Beratung erschwert wird. Viele Angeklagte treffen ihre Anwälte zum ersten Mal während der ersten Anhörung und haben nur begrenzten Zugang zu Rechtsbeistand während der Untersuchungshaft. Dies gilt insbesondere für die Anti-Terror-Gerichte, wo Justizbeamte Berichten zufolge versuchen, Schuldsprüche und Urteilsverkündungen für Tausende von verdächtigen IS-Mitgliedern in kurzer Zeit abzuschließen (USDOS 11.3.2020). Anwälte und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die Familien mit vermeintlicher IS-Zugehörigkeit unterstützen, sind gefährdet durch Sicherheitskräfte bedroht oder sogar verhaftet zu werden (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Laut einer Studie über Entscheidungen von Berufungsgerichten in Fällen mit Bezug zum Terrorismus, haben erstinstanzliche Richter Foltervorwürfe ignoriert, auch wenn diese durch gerichtsmedizinische Untersuchungen erhärtet wurden und die erzwungenen Geständnisse durch keine anderen Beweise belegbar waren (HRW 25.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Für das Anti-Terror-Gericht in Ninewa beobachtete HRW im Jahr 2019 eine Verbesserung bei den Gerichtsverhandlungen. So verlangten Richter einen höheren Beweisstandard für die Inhaftierung und Verfolgung von Verdächtigen, um die Abhängigkeit des Gerichts von Geständnissen, fehlerhaften Fahndungslisten und unbegründeten Anschuldigungen zu minimieren (HRW 14.1.2020).
Am 28.3.2018 kündigte das irakische Justizministerium die Bildung einer Gruppe von 47 Stammesführern an, genannt al-Awaref, die sich als Schiedsrichter mit der Schlichtung von Stammeskonflikten beschäftigen soll. Die Einrichtung dieses Stammesgerichts wird durch Personen der Zivilgesellschaft als ein Untergraben der staatlichen Institution angesehen (Al Monitor 12.4.2018). Das informelle irakische Stammesjustizsystem überschneidet und koordiniert sich mit dem formellen Justizsystem (TCF 7.11.2019).
Nach Ansicht der Regierung gibt es im Irak keine politischen Gefangenen. Alle inhaftierten Personen sind demnach entweder strafrechtlich verurteilt oder angeklagt oder befinden sich in Untersuchungshaft. Politische Gegner der Regierung behaupteten jedoch, diese habe Personen wegen politischer Aktivitäten oder Überzeugungen unter dem Vorwand von Korruption, Terrorismus und Mord inhaftiert oder zu inhaftieren versucht (USDOS 11.3.2020).
Zu den irakischen Sicherheitskräften:
Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Einheiten, die vom Innen- und Verteidigungsministerium, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF), und dem Counter-Terrorism Service (CTS) verwaltet werden. Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig. Es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Erdöl-Infrastruktur verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der CTS ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören (USDOS 11.3.2020).
Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ohnehin gibt es kein Polizeigesetz, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt (AA 12.1.2019).
Straffreiheit ist ein Problem. Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen im ganzen Land in Einrichtungen des Innen- und Verteidigungsministeriums, sowie über extra-legale Tötungen (USDOS 11.3.2020).
Zu den Volksmobilisierungskräften:
Die PMF gehen primär gegen Personen vor, denen eine Verbindung zum IS nachgesagt wird, bzw. auch gegen deren Familienangehörigen. Betroffen sind meist junge sunnitische Araber und in einer Form der kollektiven Bestrafung sunnitische Araber im Allgemeinen. Es kann zu Diskriminierung, Misshandlungen und auch Tötungen kommen (DIS/Landinfo 5.11.2018; vgl. USDOS 21.6.2019). Einige PMF gehen jedoch auch gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor (USDOS 11.3.2020).
Geleitet wurden die PMF von Jamal Jaafar Mohammad, besser bekannt unter seinem Nom de Guerre Abu Mahdi al-Mohandis, einem ehemaligen Badr-Kommandanten, der als rechte Hand von General Qasem Soleimani, dem Chef der iranischen Quds-Brigaden fungierte (GS 18.7.2019). Am 3.1.2020 wurden Abu Mahdi Al-Muhandis und Generalmajor Qassem Soleimani bei einem US-Drohnenangriff in Bagdad getötet (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Als Rechtfertigung diente unter anderem ein Raketenangriff, der der Kataib-Hezbollah (KH) zugeschrieben wurde, auf einen von US-Soldaten genutzten Stützpunkt in Kirkuk, bei dem ein Vertragsangestellter getötet wurde (MEMO 21.2.2020). Infolge dessen kam es innerhalb der PMF zu einem Machtkampf zwischen den Fraktionen, die einerseits dem iranischen Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei, andererseits dem irakischen Großayatollah Ali as-Sistani nahe stehen (MEE 16.2.2020).
Der iranische Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei ernannte Brigadegeneral Esmail Ghaani als Nachfolger von Soleimani (Al Monitor 23.2.2020). Am 20.2.2020 wurde Abu Fadak Al-Mohammedawi zum neuen stellvertretenden Kommandeur der PMF ernannt (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020). Vier PMF-Fraktionen, die dem schiitischen Kleriker Ayatollah Ali as-Sistani nahe stehen, haben sich gegen die Ernennung Mohammadawis ausgesprochen und alle PMF-Fraktionen aufgefordert, sich in die irakischen Streitkräfte unter dem Oberbefehl des Premierministers zu integrieren (Al Monitor 23.2.2020).
Zur allgemeinen Menschenrechtslage:
Zu den wesentlichsten Menschenrechtsfragen im Irak zählen unter anderem: Anschuldigungen bezüglich rechtswidriger Tötungen durch Mitglieder der irakischen Sicherheitskräfte, insbesondere durch einige Elemente der PMF; Verschwindenlassen; Folter; harte und lebensbedrohliche Haftbedingungen; willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen; willkürliche Eingriffe in die Privatsphäre; Einschränkungen der Meinungsfreiheit, einschließlich der Pressefreiheit; Gewalt gegen Journalisten; weit verbreitete Korruption; gesetzliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen; Rekrutierung von Kindersoldaten durch Elemente der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Shingal Protection Units (YBS) und PMF-Milizen; Menschenhandel; Kriminalisierung und Gewalt gegen LGBTIQ-Personen. Es gibt auch Einschränkungen bei den Arbeitnehmerrechten, einschließlich Einschränkungen bei der Gründung unabhängiger Gewerkschaften (USDOS 11.3.2020).
Die Verfassung und das Gesetz verbieten Enteignungen, außer im öffentlichen Interesse und gegen eine gerechte Entschädigung. In den vergangenen Jahren wurden Häuser und Eigentum von mutmaßlichen IS-Angehörigen, sowie Mitgliedern religiöser und konfessioneller Minderheiten, durch Regierungstruppen und PMF-Milizen konfisziert und besetzt (USDOS 11.3.2020).
Die Regierung, einschließlich des Büros des Premierministers, untersucht Vorwürfe über Missbräuche und Gräueltaten, bestraft die Verantwortlichen jedoch selten (USDOS 11.3.2020).
Im Zuge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste haben Sicherheitskräfte unter anderem scharfe Munition gegen Demonstranten eingesetzt und hunderte Menschen getötet (HRW 31.1.2020).
Der IS begeht weiterhin schwere Gräueltaten, darunter Tötungen durch Selbstmordattentate und improvisierte Sprengsätze (IEDs). Die Behörden untersuchen IS-Handlungen und verfolgen IS-Mitglieder nach dem Anti-Terrorgesetz von 2005 (USDOS 11.3.2020).
Zur Versammlungsfreiheit
Die Verfassung sieht das Recht auf Versammlung und friedliche Demonstration „nach den Regeln des Gesetzes“ vor (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020). Entsprechend einfach gesetzlichen Bestimmungen fehlen jedoch. Im Alltag wird die Versammlungs- und Meinungsfreiheit durch das seit dem 7.11.2004 geltende „Gesetz zur Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit“ eingeschränkt, das u.a. die Verhängung eines bis zu 60-tägigen Ausnahmezustands ermöglicht (AA 12.1.2019).
Die gesetzlichen Regelungen schreiben vor, dass die Veranstalter sieben Tage vor einer Demonstration um Genehmigung ansuchen und detaillierte Informationen über Veranstalter, Grund des Protests und Teilnehmer einreichen müssen. Die Vorschriften verbieten jegliche Slogans, Schilder, Druckschriften oder Zeichnungen, die Konfessionalismus, Rassismus oder die Segregation der Bürger zum Inhalt haben. Die Vorschriften verbieten auch alles, was gegen die Verfassung oder gegen das Gesetz verstößt; alles, was zu Gewalt, Hass oder Mord ermutigt; und alles, was eine Beleidigung des Islam, der Ehre, der Moral, der Religion, heiliger Gruppen oder irakischer Einrichtungen im Allgemeinen darstellt. Die Behörden erteilen Genehmigungen in der Regel in Übereinstimmung mit diesen Vorschriften (USDOS 11.3.2020).
Demonstranten sind häufig der Gefahr von Gewalt oder Verhaftung ausgesetzt (FH 4.3.2020). Als die Demonstrationen ab Oktober 2019 eskalierten, versäumten es die Behörden, die Demonstranten vor Gewalt zu schützen (USDOS 11.3.2020).
Zu den Protestbewegungen:
Seit 2014 gibt es eine Protestbewegung, in der zumeist junge Leute in Scharen auf die Straße strömen, um bessere Lebensbedingungen, Arbeitsplätze, Reformen, einen effektiven Kampf gegen Korruption und die Abkehr vom religiösen Fundamentalismus zu fordern (WZ 9.10.2018).
So kam es bereits 2018 im Südirak zu weitreichenden Protesten in Basra, nahe den Ölfeldern West Qurna und Zubayr. Diese eskalierten, nachdem die Polizei in West Qurna auf Demonstranten schoss (ICG 31.7.2018). Ebenso kam es im Jahr 2019 zu Protesten, wobei pro-iranische Volksmobilisierungskräfte (PMF) beschuldigt wurden, sich an der Unterdrückung der Proteste beteiligt und Demonstranten sowie Menschenrechtsaktivisten angegriffen zu haben (Diyaruna 7.8.2019; vgl. Al Jazeera 25.10.2019).
Seit dem 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiya, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019). Die Proteste richten sich gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Strom- und Wasserversorgung (Al Mada 2.10.2019; vgl. BBC 4.10.2019), aber auch gegen den iranischen Einfluss auf den Irak (ISW 22.10.2019). Eine weitere Forderung der Demonstranten ist die Abschaffung des ethnisch-konfessionellen Systems (muhasasa) zur Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019).
Im Zusammenhang mit diesen Demonstrationen wurden mehrere Regierungsgebäude sowie Sitze von Milizen und Parteien in Brand gesetzt (Al Mada 2.10.2019). Im Zuge der Proteste kam es in mehreren Gouvernements von Seiten anti-iranischer Demonstranten zu Brandanschlägen auf Stützpunkte pro-iranischer PMF-Fraktionen und Parteien, wie der Asa‘ib Ahl al-Haq, der Badr-Organisation, der Harakat al-Abdal, Da‘wa und Hikma (Carnegie 14.11.2019; vgl. ICG 10.10.2019), sowie zu Angriffen auf die iranischen Konsulate in Kerbala (RFE/RL 4.11.2019) und Najaf (RFE/RL 1.12.2019).
Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) gingen unter anderem mit scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Außerdem gibt es Berichte über nicht identifizierte Scharfschützen, die sowohl Demonstranten als auch Sicherheitskräfte ins Visier genommen haben sollen (ISW 22.10.2019). Premierminister Mahdi kündigte eine Aufklärung der gezielten Tötungen an (Rudaw 13.10.2019). Zeitweiig riefen die Behörden im Oktober und November 2019 Ausgangssperren aus (AI 18.2.2020; vgl. Al Jazeera 5.10.2019; ISW 22.10.2019; Rudaw 13.10.2019) und implementierten zeitweilige Internetblockaden (UNAMI 10.2019; vgl. AI 18.2.2020; USDOS 11.3.2020).
Die irakische Menschenrechtskommission berichtete Ende Dezember 2019, dass seit Beginn der Proteste am 1.10.2019 mindestens 490 Demonstranten getötet wurden (AAA 28.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020), darunter 33 Aktivisten, die gezielt getötet wurden. Mehr als 22.000 Menschen wurden verletzt. 56 Demonstranten gelten nach berichteten Entführungen als vermisst, während zwölf weitere wieder freigelassen wurden (AAA 28.12.2019). Mitte Jänner 2020 berichtet Amnesty International von 600 Toten Demonstranten seit Beginn der Proteste (AI 23.1.2020).
Zu den Minderheiten:
Trotz der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung leiden religiöse Minderheiten faktisch unter weitreichender Diskriminierung und Existenzgefährdung. Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen (AA 12.1.2019). Mitglieder bestimmter ethnischer oder religiöser Gruppen erleiden in Gebieten, in denen sie eine Minderheit darstellen, häufig Diskriminierung oder Verfolgung, was viele dazu veranlasst, Sicherheit in anderen Stadtteilen oder Gouvernements zu suchen (FH 4.3.2020). Es gibt Berichte über rechtswidrige Verhaftungen, Erpressung und Entführung von Angehörigen von Minderheiten, wie Kurden, Turkmenen, Christen und anderen, durch PMF-Milizen, in den umstrittenen Gebieten, insbesondere im westlichen Ninewa und in der Ninewa-Ebene (USDOS 11.3.2020).
Zu relevanten Berufsgruppen/Menschen, die einer Beschäftigung nachgehen:
Einige mittel- bis hochrang