TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/7 L529 2212077-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.08.2020
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Entscheidungsdatum

07.08.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch

L529 2212077-1/21E

Schriftliche Ausfertigung des am 19.06.2020 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. M. EGGINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch RA Dr. Georg KLAMMER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.11.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.06.2020, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrenshergang

I.1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge kurz als „BF“ bezeichnet), ist ein lediger irakischer Staatsangehöriger arabischer Abstammung und moslemisch-sunnitischer Religionszugehörigkeit. Sein Antrag auf internationalen Schutz vom 17.04.2015 wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden „BFA“) vom 06.11.2015 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 06.11.2016 erteilt.

I.1.1. Das Vorbringen des BF, er sei in seinem Heimatland wegen seiner Tätigkeit als Damenfriseur verfolgt und bedroht worden, war vom BFA aufgrund des gesteigerten, unplausiblen und widersprüchlichen Vorbringens nicht für glaubwürdig befunden worden.

I.1.2. Die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 8 Abs. 1 AsylG begründete das BFA mit der zum Entscheidungszeitpunkt vorherrschenden schlechten allgemeinen Sicherheitslage.

I.1.3. Die befristeten Aufenthaltsberechtigungen wurden gemäß § 8 Abs. 4 AsylG zunächst bis zum 06.11.2016 erteilt und mit Bescheid vom 08.11.2016 bis zum 06.11.2018 verlängert.

I.2. Die gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts („BVwG“) vom 23.06.2017 gemäß § 3 AsylG nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet abgewiesen, sein Antrag auf unentgeltliche Beigebung eines Verfahrenshelfers war zuvor mit Erkenntnis des BVwG vom 13.06.2015 abgewiesen worden.

I.1.2. Der Beweiswürdigung des Erkenntnisses vom 23.06.2017 ist zu entnehmen, dass aus dem dem BVwG am 02.05.2017 vorgelegten Reisepass des BF ersichtlich sei, dass der Reisepass dem BF am 29.01.2015 in XXXX ausgestellt worden sei und dass sich der BF vom 02.03.2016 bis 08.03.2016 und vom 31.12.2016 bis 11.02.2017 im Irak aufgehalten habe.

I.3. Am 03.07.2018 und 04.07.2018 erhielt das BFA E-Mails, wonach sich der BF am 02.02.2018 im Irak aufgehalten und dort gearbeitet habe. Dieser sei auch im Jahr 2016 im Irak gewesen. Beweisen würden dies – dem E-Mail angeschlossene – Fotos, welche auf Facebook zu finden seien.

I.4. In der am 26.11.2018 erfolgten niederschriftlichen Einvernahme zur Prüfung der Aberkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 9 AsylG gab der BF an, dass er vor zwei Jahren im Irak gewesen sei, um die Pensionsangelegenheiten nach der Tötung seines Vaters behördlich zu erledigen. Dies sei 2016 oder 2017 gewesen. Insgesamt sei er zwei Mal im Irak gewesen, einmal aber nur kurz, um das vom Vater hinterlassene Haus unter den Erben aufzuteilen. Im Jahr 2018 sei er im Iran gewesen, um sich mit seiner Familie zu treffen, dort seien auch die Facebook-Fotos gemacht worden. Sein irakischer Pass befinde sich seit 6 oder 7 Monaten im Irak, damit seine Mutter die Behördenwege erledigen könne. Im Irak seien nach wie vor seine Mutter, seine Schwestern und ein älterer Bruder aufhältig. In Österreich habe er keine Verwandten, er habe eine Freundin, lebe aber in keiner Lebensgemeinschaft. Er sei gesund, arbeite in Österreich geringfügig und erhalte die Mindestsicherung. Er spreche nur wenig Deutsch. Bei Rückkehr in den Irak befürchte er seinen Tod. Bei seinen zweimaligen freiwilligen Heimreisen habe er sich nur in Bagdad aufgehalten, dort könne er aber nicht leben. Nach Rückübersetzung der Niederschrift ergänzte der BF seine Aussage dahingehend, dass sein Vater 2015 verstorben sei.

I.5. Im Akt inneliegend befindet sich ein Schreiben vom 17.02.2017, wonach das Amt für Einwanderung Asyl/Abteilung für Internationale Angelegenheiten [Ungarn] das Bundesministerium für Inneres darüber in Kenntnis setzte, dass bei einer Kontrolle durch die ungarische Polizei am 12.02.2017 der BF einen Konventionsreisepass und einen irakischen Reisepass mit sich geführt habe. Im irakischen Reisepass (ausgestellt am 29.01.2015, gültig bis 27.01.2023) würden sich ein irakischer Einreisestempel (02.03.2016) und drei irakische Ausreisestempel (11.02.2015, 08.03.2016 und 11.02.2017) finden. Zudem habe er eine Buchung der „Iraqi Airways“ von Bagdad in den Iran (AS 53 – 71).

I.6. Mit Bescheid vom 27.11.2018 wurde dem BF der zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und der Antrag des BF vom 14.09.2018 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

I.6.1. Begründend wurde ausgeführt, dass für den BF eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe und für ihn eine sichere Rückkehr in manche Gebiete des Irak möglich sei. Die Sicherheitslage im Nordirak habe sich seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigen durch das BFA vom 06.11.2015 maßgeblich verbessert.

I.6.2. Zu den Spruchpunkten III.-VI. hielt das BFA fest, dass ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG nicht zu erteilen gewesen sei und die Erlassung der Rückkehrentscheidungen für den BF keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK darstelle.

I.7. Gegen den Bescheid vom 27.11.2018 wurde mit im Akt ersichtlichen Schriftsatz innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben. Der Bescheid wurde seinem gesamten Umfange nach wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften angefochten.

I.7.1. Begründend wurde nach Darlegung des Sachverhaltes zusammengefasst im Wesentlichen darauf verwiesen, dass sich die tatsächliche Situation im Irak keinesfalls verbessert, sondern sich insbesondere für sunnitische Araber*innen stark verschlechtert habe. Zudem sei es seit dem Vormarsch des IS 2014 zu einer dramatischen Verschlechterung der Sicherheitslage im ganzen Land gekommen und es fehle im angefochtenen Bescheid die Begründung, inwiefern sich die Sicherheitslage dauerhaft verbessert hätte. Der zweimalige kurze Aufenthalt des BF im Irak schließe eine Gefahrenlage für ihn nicht aus, sondern es seien diese Aufenthalte durch den Tod des Vaters erforderlich gewesen. Im Jahr 2018 habe sich der BF im Iran aufgehalten und die vorgehaltenen Facebook-Fotos seien dort aufgenommen worden.

I.8. Das Bundesverwaltungsgericht führte in der Sache des BF am 19.06.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der BF sowie seine Rechtsvertretung teilnahmen; die belangte Behörde hatte zuvor mitgeteilt, dass die Teilnahme eines informierten Vertreters an der Verhandlung nicht möglich sei.

Der Ladung zur mündlichen Verhandlung waren aktuelle Länderberichte zum Irak beigeschlossen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak vom 17.03.2020; Anfragebeantwortung ACCORD – Irak vom 22.01.2020, Lage für sunnitische Araber in Diyala: Übergriffe durch schiitische Milizen, allgemeine Sicherheitslage, Versorgungslage für RückkehrerInnen nach Diyala [a-11173-1]).

Im Zuge der Verhandlung erfolgte eine Erörterung der angeführten Berichte, eine ausführliche Befragung des BF und hatte er Gelegenheit, den Sachverhalt aus seiner Sicht darzustellen.

Am Ende der Verhandlung wurde mittels mündlich verkündetem Erkenntnis die Beschwerde als unbegründet abgewiesen. Die Niederschrift der mündlichen Verkündung enthält die wesentlichen Entscheidungsgründe. Die Entscheidung wurde nachfolgend weiterführend mündlich begründet. Diese weiterführende Begründung wurde von der Schriftführerin stichwortartig mitprotokolliert und ist dem Original der Niederschrift als Aktenvermerk angeschlossen.

I.9. Hinsichtlich des Verfahrensganges und des Parteivorbringens im Detail wird auf den Akteninhalt verwiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Feststellungen (Sachverhalt)

II.1.1. Person und familiäre Verhältnisse

II.1.1.1. Der BF ist Staatsangehöriger des Irak, ist moslemisch-sunnitischen Glaubens und gehört der Volksgruppe der Araber an. Der BF ist ledig und hat keine Kinder.

Der BF stammt ursprünglich aus der Provinz XXXX , wo zumindest seine Mutter, zwei Schwestern und ein älterer Bruder noch immer wohnhaft sind und steht der BF in Kontakt mit ihnen (täglich bis dreimal pro Woche). Zwei weitere Schwestern des BF sind verheiratet und leben im Irak.

Die Mutter des BF bezieht eine Pension in Höhe von 350 USD. Der ältere Bruder des BF arbeitet in einem Frisörsalon, dessen Frau ist eine Angestellte. Die Familie bewohnt ein eigenes Haus im Zentrum der Stadt XXXX ; die Familie besitzt auch noch ein weiteres Haus. Die Versorgung der Familie ist gesichert – Lebensmittelgeschäfte bzw. Märkte sind in der Nähe. Ebenso ist die medizinische Versorgung der Familie problemlos – Krankenhäuser bzw. Ärzte sind verfügbar.

Der BF besuchte in seinem Heimatland neun Jahre lang die Grundschule und erlernte den Beruf des Friseurs; er hat vor seiner Ausreise aus dem Irak als Friseur gearbeitet.

Der BF ist gesund, arbeitsfähig und strafrechtlich unbescholten.

Der BF hat in Österreich keine Verwandten. Er ist geringfügig beschäftigt und bekommt vom österreichischen Staat die Mindestsicherung bzw. eine Aufzahlung. Er lebt in Österreich mit einer weiteren Person in einer Wohngemeinschaft und verfügt über einen Freundeskreis.

Eine Freundin „im Sinne der Liebe“ hat der BF nicht; er lebt in keiner Beziehung. Er spricht Deutsch in einem Ausmaß, welches für eine einfache Unterhaltung unzureichend ist, er hat bislang keine Deutschprüfung abgelegt.

II.1.1.2. Der Antrag des BF auf internationalen Schutz wurde hinsichtlich des Status des Asylberechtigten rechtskräftig negativ entschieden. Mit Rechtskraft 26.11.2015 wurde dem BF der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und war sein Aufenthalt in Österreich bislang rechtmäßig.

II.1.1.3. Der BF verfügt über einen irakischen Reisepass im Original [Nr. A8225295, ausgestellt am 29.01.2015 in XXXX , gültig bis 27.01.2023; Farbkopien liegen diesbezüglich in den zu AZ.: L507 2118120-1/16 E ho. geführten Gerichtsakten (hinsichtlich Verfahren betreffend § 3 AsylG) auf)].

Der BF verfügt weiter über einen österreichischen Konventionsreisepass (Nr.: K1227741, ausgestellt am 01.12.2015, gültig bis 30.11.2020 – vgl. AS 55 ff) und einen österreichischen Fremdenpass (Nr. F1215720, ausgestellt am 01.12.2015, gültig bis 30.11.2020 – vgl. AS 47 ff).

In den verschiedenen Reisepässen befinden sich folgende Ein- und Ausreisestempel:

1.        Ausreise aus dem Irak 11.02.2015 – irakischer Reisepass

2.        Ausreise aus Österreich 26.02.2016 – Konventionspass

3.        Einreise in den Irak 02.03.2016 – irakischer Reisepass

4.        Einreise in Deutschland 09.03.2016 – Konventionspass

5.        Ausreise aus Ungarn 30.12.2016 – Konventionspass

6.        Einreise Irak 31.12.2016 – irakischer Reisepass

7.        Ausreise aus Irak 11.02.2017 – irakischer Reisepass

8.        Einreise in Ungarn 12.02.2017 – Konventionspass

9.        Stempel vom Iran 13.03.2017 und 14.03.2017 – Fremdenpass

10.      Stempel vom Iran 12.01.2018 und 13.01.2018 – Fremdenpass

In diesen drei Pässen befinden sich insgesamt fünf Visa für den Iran.

1.       Konventionspass; gültig von 17.02.2016 bis 17.05.2016

2.       Irakischer Reisepass; gültig von 03.03.2016 bis 01.06.2016

3.       Konventionspass; gültig von 22.12.2016 bis 22.03.2017

4.       Irakischer Reisepass; gültig von 02.02.2017 bis 03.05.2017

5.       Fremdenpass; gültig von 13.12.2017 bis 02.03.2018

Im Zuge einer Einvernahme wegen strafrechtlicher Vorwürfe gegen den BF durch Organe der LPD Wien gab der BF an, dass er 2018 abermals gezwungen war in sein Heimatland zu reisen, um die notwendigen Behördengänge zu erledigen, damit seine Familie die Pension des Vaters ausbezahlt bekommt. Demgemäß war er auch im Jahr 2018 im Irak und wurde von ihm das – nach Vorhalt in der mündlichen Verhandlung – auch bestätigt.

II.1.1.4. Seine Herkunftsregion, die mit dem Auto eine halbe Stunde von Bagdad entfernt liegt, ist für den BF über den Luftweg via Bagdad erreichbar.

II.1.2. Die Lage im Herkunftsstaat Irak

Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak werden – auszugsweise – folgende Feststellungen getroffen:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand 17.03.2020:

„[…]

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 17.3.2020

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).

[…]

Islamischer Staat (IS)

Letzte Änderung: 17.3.2020

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).

Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).

Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).

Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).

[…]

Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen

Letzte Änderung: 17.3.2020

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).

Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).

[…]

Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken) (IBC 2.2020).

(IBC 2.2020)

Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle dokumentierte IBC im Oktober 2019 361 zivile Todesopfer im Irak, im November 274 und im Dezember 215, was jeweils einer Steigerung im Vergleich zum Vergleichszeitraum des Vorjahres entspricht. Im Jänner 2020 wurden 114 zivile Todesopfer verzeichnet, was diesen Trend im Vergleich zum Vorjahr wieder umdrehte (IBC 2.2020).

[…]

Sicherheitslage Bagdad

Letzte Änderung: 17.3.2020

Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).

Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).

Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).

Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)

Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.

[…]

Seit dem 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiya, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019). Die Proteste richten sich gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Strom- und Wasserversorgung (Al Mada 2.10.2019; vgl. BBC 4.10.2019), aber auch gegen den iranischen Einfluss auf den Irak (ISW 22.10.2019). Eine weitere Forderung der Demonstranten ist die Abschaffung des ethnisch-konfessionellen Systems (muhasasa) zur Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019).

Im Zusammenhang mit diesen Demonstrationen wurden mehrere Regierungsgebäude sowie Sitze von Milizen und Parteien in Brand gesetzt (Al Mada 2.10.2019). Im Zuge der Proteste kam es in mehreren Gouvernements von Seiten anti-iranischer Demonstranten zu Brandanschlägen auf Stützpunkte pro-iranischer PMF-Fraktionen und Parteien, wie der Asa‘ib Ahl al-Haq, der Badr-Organisation, der Harakat al-Abdal, Da‘wa und Hikma (Carnegie 14.11.2019; vgl. ICG 10.10.2019), sowie zu Angriffen auf die iranischen Konsulate in Kerbala (RFE/RL 4.11.2019) und Najaf (RFE/RL 1.12.2019).

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) gingen unter anderem mit scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Außerdem gibt es Berichte über nicht identifizierte Scharfschützen, die sowohl Demonstranten als auch Sicherheitskräfte ins Visier genommen haben sollen (ISW 22.10.2019). Premierminister Mahdi kündigte eine Aufklärung der gezielten Tötungen an (Rudaw 13.10.2019). Zeitweiig riefen die Behörden im Oktober und November 2019 Ausgangssperren aus (AI 18.2.2020; vgl. Al Jazeera 5.10.2019; ISW 22.10.2019; Rudaw 13.10.2019) und implementierten zeitweilige Internetblockaden (UNAMI 10.2019; vgl. AI 18.2.2020; USDOS 11.3.2020).

Die irakische Menschenrechtskommission berichtete Ende Dezember 2019, dass seit Beginn der Proteste am 1.10.2019 mindestens 490 Demonstranten getötet wurden (AAA 28.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020), darunter 33 Aktivisten, die gezielt getötet wurden. Mehr als 22.000 Menschen wurden verletzt. 56 Demonstranten gelten nach berichteten Entführungen als vermisst, während zwölf weitere wieder freigelassen wurden (AAA 28.12.2019). Mitte Jänner 2020 berichtet Amnesty International von 600 Toten Demonstranten seit Beginn der Proteste (AI 23.1.2020).

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Sicherheitslage Nord- und Zentralirak

Letzte Änderung: 17.3.2020

Der Islamische Staat (IS) ist im Zentralirak nach wie vor am aktivsten (Joel Wing 3.2.2020), so sind Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala nach wie vor die Hauptaktionsgebiete der Aufständischen (Joel Wing 2.12.2019).

In den sogenannten „umstrittenen Gebieten“, die sowohl von der Zentralregierung als auch von der kurdischen Regionalregierung (KRG) beansprucht werden, und wo es zu erheblichen Sicherheitslücken zwischen den zentralstaatlichen und kurdischen Einheiten kommt, verfügt der IS nach wie vor über operative Kapazitäten, um Angriffe, Bombenanschläge, Morde und Entführungen durchzuführen (Kurdistan24 7.8.2019). Die Sicherheitsaufgaben in den „umstrittenen Gebieten“ werden zwischen der Bundespolizei und den Volksmobilisierungskräften (al-Hashd ash-Sha‘bi/PMF) geteilt (Rudaw 31.5.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Bei den zwischen Bagdad und Erbil „umstrittenen Gebieten“ handelt es sich um einen breiten territorialen Gürtel der zwischen dem „arabischen“ und „kurdischen“ Irak liegt und sich von der iranischen Grenze im mittleren Osten bis zur syrischen Grenze im Nordwesten erstreckt (Crisis Group 14.12.2018). Die „umstrittenen Gebiete“ umfassen Gebiete in den Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala. Dies sind die Distrikte Sinjar (Shingal), Tal Afar, Tilkaef, Sheikhan, Hamdaniya und Makhmour, sowie die Subdistrikte Qahtaniya and Bashiqa in Ninewa, der Distrikt Tuz Khurmatu in Salah ad-Din, das gesamte Gouvernement Kirkuk und die Distrikte Khanaqin und Kifri, sowie der Subdistrikt Mandali in Diyala (USIP 2011). Die Bevölkerung der „umstrittenen Gebiete“ ist sehr heterogen und umfasst auch eine Vielzahl unterschiedlicher ethnischer und religiöser Minderheiten, wie Turkmenen, Jesiden, Schabak, Chaldäer, Assyrer und andere. Kurdische Peshmerga eroberten Teile dieser umstrittenen Gebiete vom IS zurück und verteidigten sie, bzw. stießen in das durch den Zerfall der irakischen Armee entstandene Vakuum vor. Als Reaktion auf das kurdische Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2017, das auch die „umstrittenen Gebiete“ umfasste, haben die irakischen Streitkräfte diese wieder der kurdischen Kontrolle entzogen (Crisis Group 14.12.2018).

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Gouvernement Diyala

Das Gouvernement Diyala zählt regelmäßig zu den Regionen mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen und als die gewalttätigste Region des Irak (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 9.9.2019) und ist weiterhin ein Kerngebiet des IS (Joel Wing 3.2.2020). Trotz wiederholter Militäroperationen in Diyala kann sich der IS noch immer in den ausgedehnten Gebieten, die sich vom westlichen Teil Diyalas bis zu den Hamreen Bergen im Norden des Gouvernements erstrecken, sowie in den schwer zugänglichen Gebieten nahe der Grenze zum Iran halten (Xinhua 22.12.2019). Es kommt in Diyala regelmäßig zu Konfrontationen des IS mit Sicherheitskräften und zu Übergriffen auf Städte (Joel Wing 5.8.2019).

Der IS hat Zugang zu allen ländlichen Gebieten in Diyala (Joel Wing 5.8.2019), aus denen er einerseits Zivilisten vertreibt, um dort Basen zu errichten, und wo er anderseits wiederholt die lokale Verwaltung und Sicherheitskräfte angreift (Joel Wing 9.9.2019). So häufen sich Berichte über zunehmende Vertreibung von Zivilisten aus ländlichen Gebieten, beispielsweise aus den Bezirken Khanaqin und Jalawla, wegen der Bedrohung durch den IS und dem Unvermögen der Sicherheitskräfte (Irakische Armee/ISF und PMF) für deren Sicherheit zu sorgen (Joel Wing 25.11.2019; vgl. Rudaw 3.12.2019). Ein Hauptproblem Diyalas ist die mangelhafte Kommunikation zwischen den vielen unterschiedlichen Sicherheitsakteuren in der Region (Joel Wing 9.9.2019), andererseits gibt es generell zu wenige Sicherheitskräfte in Diyala, was der IS auszunutzen versteht (Joel Wing 5.8.2019). Die übrigen Vorfälle betrafen hauptsächlich den Norden und das Zentrum von Diyala. Im Süden und Westen gab es hingegen kaum sicherheitsrelevante Vorfälle (Joel Wing 9.9.2019).

Ende 2019 und Anfang 2020 hat der IS seinen Aktionsschwerpunkt verschoben. Während sich bisher die meisten Vorfälle im Distrikt Khanaqin, rund um die Städte Khanaqin und Jalawla, ereigneten, verlegte der IS seinen Fokus zunehmend auf das Zentrum des Gouvernements, insbesondere auf den Distrikt Muqdadiya (Joel Wing 6.1.2020; vgl. Joel Wing 3.2.2020), sowie auch in die westlichen Gebiete Diyalas. Diese Verlagerung wird im Zusammenhang mit einer Kampagne der irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in Khanaqin gesehen. Damit zeigt der IS aber auch, dass er die Kapazität hat im gesamten Gouvernement aktiv zu werden (Joel Wing 3.2.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Diyala 78 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 65 Toten und 93 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Febraur 2020 waren es 24 Vorfälle mit 16 Toten und 27 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020).

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Wirtschaftslage

Der Irak erholt sich nur langsam vom Terror des IS und seinen Folgen. Nicht nur sind ökonomisch wichtige Städte wie Mossul zerstört worden. Dies trifft das Land, nachdem es seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg, Sanktionen zerrüttet wurde. Wiederaufbauprogramme laufen bereits, vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen traf die Weltbank im April 2019 (GIZ 1.2020c). Iraks Wirtschaft erholt sich allmählich nach den wirtschaftlichen Herausforderungen und innenpolitischen Spannungen der letzten Jahre. Während das BIP 2016 noch um 11% wuchs, verzeichnete der Irak 2017 ein Minus von 2,1%. 2018 zog die Wirtschaft wieder an und verzeichnete ein Plus von ca. 1,2% aufgrund einer spürbaren Verbesserung der Sicherheitsbedingungen und höherer Ölpreise. Für 2019 wurde ein Wachstum von 4,5% und für die Jahre 2020–23 ebenfalls ein Aufschwung um die 2-3%-Marke erwartet (WKO 18.10.2019).

Das Erdöl stellt immer noch die Haupteinnahmequelle des irakischen Staates dar (GIZ 1.2020c). Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Der Irak besitzt kaum eigene Industrie jenseits des Ölsektors. Hauptarbeitgeber ist der Staat (AA 12.1.2019).

Die Arbeitslosenquote, die vor der IS-Krise rückläufig war, ist über das Niveau von 2012 hinaus auf 9,9% im Jahr 2017/18 gestiegen. Unterbeschäftigung ist besonders hoch bei IDPs. Fast 24% der IDPs sind arbeitslos oder unterbeschäftigt (im Vergleich zu 17% im Landesdurchschnitt). Ein Fünftel der wirtschaftlich aktiven Jugendlichen ist arbeitslos, ein weiters Fünftel weder erwerbstätig noch in Ausbildung (WB 12.2019).

Die Armutsrate im Irak ist aufgrund der Aktivitäten des IS und des Rückgangs der Öleinnahmen gestiegen (OHCHR 11.9.2019). Während sie 2012 bei 18,9% lag, stieg sie während der Krise 2014 auf 22,5% an (WB 19.4.2019). Einer Studie von 2018 zufolge ist die Armutsrate im Irak zwar wieder gesunken, aber nach wie vor auf einem höheren Niveau als vor dem Beginn des IS-Konflikt 2014, wobei sich die Werte, abhängig vom Gouvernement, stark unterscheiden. Die südlichen Gouvernements Muthanna (52%), Diwaniya (48%), Maisan (45%) und Dhi Qar (44%) weisen die höchsten Armutsraten auf, gefolgt von Ninewa (37,7%) und Diyala (22,5%). Die niedrigsten Armutsraten weisen die Gouvernements Dohuk (8,5%), Kirkuk (7,6%), Erbil (6,7%) und Sulaymaniyah (4,5%) auf. Diese regionalen Unterschiede bestehen schon lange und sind einerseits auf die Vernachlässigung des Südens und andererseits auf die hohen Investitionen durch die Regionalregierung Kurdistans in ihre Gebiete zurückzuführen (Joel Wing 18.2.2020). Die Regierung strebt bis Ende 2022 eine Senkung der Armutsrate auf 16% an (Rudaw 16.2.2020).

Grundsätzlich ist der öffentliche Sektor sehr gefragt. Die IS-Krise und die Kürzung des Budgets haben Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im privaten und öffentlichen Sektor. Arbeitsmöglichkeiten haben im Allgemeinen abgenommen. Die monatlichen Einkommen im Irak liegen in einer Bandbreite zwischen 200 und 2.500 USD (Anm.: ca. 185-2.312 EUR), je nach Position und Ausbildung. Das Ministerium für Arbeit und Soziales bietet Unterstützung bei der Arbeitssuche und stellt Arbeitsagenturen in den meisten Städten. Die Regierung hat auch ein Programm gestartet, um irakische Arbeitslose und Arbeiter, die weniger als 1 USD (Anm.: ca. 0,9 EUR) pro Tag verdienen, zu unterstützen. Aufgrund der Situation im Land wurde die Hilfe jedoch eingestellt. Weiterbildungsmöglichkeiten werden durch Berufsschulen, Trainingszentren und Agenturen angeboten. Aufgrund der derzeitigen Situation im Land sind derzeit keine dieser Weiterbildungsprogramme, die nur durch spezielle Fonds zugänglich sind, aktiv (IOM 1.4.2019).

Stromversorgung

Die Stromversorgung des Irak ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht (AA 12.1.2019). Sie deckt nur etwa 60% der Nachfrage ab, wobei etwa 20% der Bevölkerung überhaupt keinen Zugang zu Elektrizität haben. Der verfügbare Stromvorrat variiert jedoch je nach Gebiet und Jahreszeit (Fanack 17.9.2019). Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten, wenn bei Temperaturen von über 50 Grad flächendeckend Klimaanlagen eingesetzt werden, häufig unterbrochen. Dann versorgt sich die Bevölkerung aus privaten Generatoren, sofern diese vorhanden sind. Die Versorgung mit Mineralöl bleibt unzureichend und belastet die Haushalte wegen der hohen Kraftstoffpreise unverhältnismäßig. In der Kurdischen Region im Irak (KRI) erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag. Kraftwerke leiden unter Mangel an Brennstoff und es gibt erhebliche Leitungsverluste (AA 12.1.2019).

Wasserversorgung

Etwa 70% des irakischen Wassers haben ihren Ursprung in Gebieten außerhalb des Landes, vor allem in der Türkei und im Iran. Der Wasserfluss aus diesen Ländern wurde durch Staudammprojekte stark reduziert. Das verbleibende Wasser wird zu einem großen Teil für die Landwirtschaft genutzt und dient somit als Lebensgrundlage für etwa 13 Millionen Menschen (GRI 24.11.2019).

Der Irak befindet sich inmitten einer schweren Wasserkrise, die durch akute Knappheit, schwindende Ressourcen und eine stark sinkende Wasserqualität gekennzeichnet ist (Clingendael 10.7.2018). Insbesondere Dammprojekte der irakischen Nachbarländer, wie in der Türkei, haben großen Einfluss auf die Wassermenge und Qualität von Euphrat und Tigris. Der damit einhergehende Rückgang der Wasserführung in den Flüssen hat ein Vordringen des stark salzhaltigen Wassers des Persischen Golfs ins Landesinnere zur Folge und beeinflusst sowohl die Landwirtschaft als auch die Viehhaltung. Das bringt in den besonders betroffenen südirakischen Gouvernements Ernährungsunsicherheit und sinkenden Einkommensquellen aus der Landwirtschaft mit sich (EPIC 18.7.2017).

Die Wasserversorgung wird zudem von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen. Außerdem fehlt es fehlt weiterhin an Chemikalien zur Wasseraufbereitung. Die völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser (AA 12.1.2019). Im Südirak und insbesondere Basra führten schlechtes Wassermanagement und eine unzureichende Regulierung von Abwasser und die damit einhergehende Verschmutzung dazu, dass im Jahr 2018 mindestens 118.000 Menschen wegen Magen-Darm Erkrankungen in Krankenhäusern behandelt werden mussten (HRW 22.7.2019; vgl. HRW 14.1.2020; AA 12.1.2019).

Nahrungsmittelversorgung

Etwa 1,77 Millionen Menschen im Irak sind von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen, ein Rückgang im Vergleich zu 2,5 Millionen Betroffenen im Jahr 2019 (USAID 30.9.2019; vgl. FAO 31.1.2020). Die meisten davon sind IDPs und Rückkehrer. Besonders betroffen sind jene in den Gouvernements Diyala, Ninewa, Salah al-Din, Anbar und Kirkuk (FAO 31.1.2020). 22,6% der Kinder sind unterernährt (AA 12.1.2019).

Die Landwirtschaft ist für die irakische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Im Zuge des Krieges gegen den IS waren viele Bauern gezwungen, ihre Betriebe zu verlassen. Ernten wurden zerstört oder beschädigt. Landwirtschaftliche Maschinen, Saatgut, Pflanzen, eingelagerte Ernten und Vieh wurden geplündert. Aufgrund des Konflikts und der Verminung konnten Bauern für die nächste Landwirtschaftssaison nicht pflanzen. Die Nahrungsmittelproduktion und -versorgung wurden unterbrochen, die Nahrungsmittelpreise auf den Märkten stiegen (FAO 8.2.2018). Trotz konfliktbedingter Einschränkungen und Überschwemmungen entlang des Tigris (betroffene Gouvernements: Diyala, Wasit, Missan und Basra), die im März 2019 aufgetreten sind, wird die Getreideernte 2019 wegen günstiger Witterungsbedingungen auf ein Rekordniveau von 6,4 Millionen Tonnen geschätzt (FAO 31.2.2020).

Trotzdem ist das Land von Nahrungsmittelimporten abhängig (FAO 31.1.2020). Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (UNFAO) schätzt, dass der Irak zwischen Juli 2018 und Juni 2019 etwa 5,2 Millionen Tonnen Mehl, Weizen und Reis importiert hat, um den Inlandsbedarf zu decken (USAID 30.9.2019).

Im Südirak und insbesondere Basra führen schlechtes Wassermanagement und eine unzureichende Regulierung von Abwasser und die damit einhergehende Verschmutzung dazu, dass Landwirte ihre Flächen mit verschmutztem und salzhaltigem Wasser bewässern, was zu einer Degradierung der Böden und zum Absterben von Nutzpflanzen und Vieh führt (HRW 22.7.2019; vgl. HRW 14.1.2020; AA 12.1.2019).

Das Sozialsystem wird vom sogenannten „Public Distribution System“ (PDS) dominiert, einem Programm, bei dem die Regierung importierte Lebensmittel kauft, um sie an die Öffentlichkeit zu verteilen (K4D 18.5.2018; vgl. USAID 30.9.2019). Das PDS ist das wichtigste Sozialhilfeprogramm im Irak, in Bezug auf Flächendeckung und Armutsbekämpfung. Es ist das wichtigste Sicherheitsnetz für Arme, obwohl es von schwerer Ineffizienz gekennzeichnet ist (K4D 18.5.2018). Es sind zwar alle Bürger berechtigt, Lebensmittel im Rahmen des PDS zu erhalten. Das Programm wird von den Behörden jedoch nur sporadisch und unregelmäßig umgesetzt, mit begrenztem Zugang in den wiedereroberten Gebieten. Außerdem hat der niedrige Ölpreis die Mittel für das PDS weiter eingeschränkt (USDOS 11.3.2020).

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Medizinische Versorgung

Letzte Änderung: 17.3.2020

Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Grundsätzlich sind die Leistungen des privaten Sektors besser, zugleich aber auch teurer. Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können - für den Zugang zum Gesundheitswesen wird lediglich ein irakischer Ausweis benötigt - haben Zugang zum Gesundheitssystem. Fast alle Iraker leben etwa eine Stunde vom nächstliegenden Krankenhaus bzw. Gesundheitszentrum entfernt. In ländlichen Gegenden lebt jedoch ein bedeutender Teil der Bevölkerung weiter entfernt von solchen Einrichtungen (IOM 1.4.2019). Staatliche wie private Krankenhäuser sind fast ausschließlich in den irakischen Städten zu finden. Dort ist die Dichte an praktizierenden Ärzten, an privaten und staatlichen Kliniken um ein Vielfaches größer. Gleiches gilt für Apotheken und medizinische Labore. Bei der Inanspruchnahme privatärztlicher Leistungen muss zunächst eine Art Praxisgebühr bezahlt werden. Diese beläuft sich in der Regel zwischen 15.000 und 20.000 IQD (Anm.: ca. 12-16 EUR). Für spezielle Untersuchungen und Laboranalysen sind zusätzliche Kosten zu veranschlagen. Außerdem müssen Medikamente, die man direkt vom Arzt bekommt, gleich vor Ort bezahlt werden. In den staatlichen Zentren zur Erstversorgung entfällt zwar in der Regel die Praxisgebühr, jedoch nicht die Kosten für eventuelle Zusatzleistungen. Darunter fallen etwa Röntgen- oder Ultraschalluntersuchungen (GIZ 12.2019).

Insgesamt bleibt die medizinische Versorgungssituation angespannt (AA 12.1.2019). Auf dem Land kann es bei gravierenden Krankheitsbildern problematisch werden. Die Erstversorgung ist hier grundsätzlich gegeben; allerdings gilt die Faustformel: Je kleiner und abgeschiedener das Dorf, umso schwieriger die medizinische Versorgung (GIZ 12.2019). In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser nur mit deutlich eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, viele haben aber aus Angst vor Entführung oder Repression das Land verlassen. Korruption ist verbreitet. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen (AA 12.1.2019). Spezialisierte Behandlungszentren für Personen mit psychosoziale Störungen existieren zwar, sind jedoch nicht ausreichend (UNAMI 12.2016). Laut Weltgesundheitsorganisation ist die primäre Gesundheitsversorgung nicht in der Lage, effektiv und effizient auf die komplexen und wachsenden Gesundheitsbedürfnisse der irakischen Bevölkerung zu reagieren (WHO o.D.).

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Rückkehr

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die freiwillige Rückkehrbewegung irakischer Flüchtlinge aus anderen Staaten befindet sich im Vergleich zum Umfang der Rückkehr der Binnenflüchtlinge auf einem deutlich niedrigeren, im Vergleich zu anderen Herkunftsstaaten aber auf einem relativ hohen Niveau. Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig – u.a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort. Zu einer begrenzten Anzahl an Abschiebungen in den Zentralirak kommt es jedenfalls aus Deutschland, Großbritannien, Schweden und Australien. Rückführungen aus Deutschland in die Kurdischen Region im Irak (KRI) finden regelmäßig statt. In der KRI gibt es mehr junge Menschen, die sich nach ihrer Rückkehr organisieren. Eine Fortführung dieser Tendenzen wird aber ganz wesentlich davon abhängen, ob sich die wirtschaftliche Lage in der KRI kurz- und mittelfristig verbessern wird (AA 12.1.2019).

Studien zufolge ist die größte Herausforderung für Rückkehrer die Suche nach einem Arbeitsplatz bzw. Einkommen. Andere Herausforderungen bestehen in der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung, psychischen und psychologischen Problemen, sowie negativen Reaktionen von Freunden und Familie zu Hause im Irak (IOM 2.2018; vgl. REACH 30.6.2017).

Die Höhe einer Miete hängt vom Ort, der Raumgröße und der Ausstattung der Unterkunft ab. Außerhalb des Stadtzentrums sind die Preise für gewöhnlich günstiger (IOM 1.4.2019). Die Miete für 250 m² in Bagdad liegt bei ca. 320 USD (Anm.: ca. 296 EUR) (IOM 13.6.2018). Die Wohnungspreise in der KRI sind 2018 um 20% gestiegen, während die Miete um 15% gestiegen ist, wobei noch höhere Preise prognostiziert werden (Ekurd 8.1.2019). In den Städten der KRI liegt die Miete bei 200-600 USD (Anm.: ca. 185-554 EUR) für eine Zweizimmerwohnung. Der Kaufpreis eines Hauses oder Grundstücks hängt ebenfalls von Ort, Größe und Ausstattung ab. Während die Nachfrage nach Mietobjekten stieg, nahm die Nachfrage nach Kaufobjekten ab. Durchschnittliche Betriebskosten betragen pro Monat 15.000 IQD (Anm.: ca. 12 EUR) für Gas, 10.000-25.000 IQD (Anm.: ca. 8-19 EUR) für Wasser, 30.000-40.000 IQD (Anm.: ca. 23-31 EUR) für Strom (staatlich) und 40.000-60.000 IQD (Anm.: ca. 31-46 EUR) für privaten oder nachbarschaftlichen Generatorenstrom. Die Rückkehr von IDPs in ihre Heimatorte hat eine leichte Senkung der Mietpreise bewirkt. Generell ist es für alleinstehende Männer schwierig Häuser zu mieten, während es in Hinblick auf Wohnungen einfacher ist (IOM 1.4.2019).

Die lange Zeit sehr angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt wird zusehends besser, jedoch gibt es sehr viel mehr Kauf- als Mietangebote. In der Zeit nach Saddam Hussen sind die Besitzverhältnisse von Immobilien zuweilen noch ungeklärt. Nicht jeder Vermieter besitzt auch eine ausreichende Legitimation zur Vermietung (GIZ 12.2019).

[….]“

Auszug aus ACCORD-Bericht [a-11173-1] vom 22.01.2020:

„[….]

Übergriffe durch schiitische Milizen in Diyala

Im von ACCORD veröffentlichten ecoi.net-Themendossier zu schiitischen Milizen im Irak, zuletzt aktualisiert am 11. Dezember 2019, werden zur Situation in Diyala unter Verweis auf verschiedene Quellen folgende Angaben gemacht:

„Laut den gefundenen Quellen ist insbesondere die Badr-Miliz stark in der Provinz vertreten, übernimmt nicht nur Sicherheitsaufgaben, sondern greift auch in die Verwaltung sowie wirtschaftliche Vorgänge ein:

Laut dem EASO-Bericht sind PMF-Milizen [PMF: Popular Mobilization Forces] in der Provinz Diyala besonders präsent. Die Badr-Organisation hat die Kontrolle über den Provinzrat übernommen und gilt als der primäre Sicherheitsakteur (EASO, März 2019, S. 88).

Nachdem die Badr-Organisation im Jahr 2014 die Expansion der Gruppe IS [Islamischer Staat] in die Provinz Diyala aufhielt, wurde sie für den Erhalt der Sicherheit in der Provinz verantwortlich gemacht. Die Miliz mit ihrem Anführer Hadi Al-Amiri ist immer noch die dominierende Kraft in Diyala. Von insgesamt 16 Badr-Brigaden, die als Teil der PMF operieren, sind sieben in Diyala stationiert (Landinfo, 8. Jänner 2019, S. 9).

Al Araby Al Jadeed, berichtet im April 2018, dass die in Muqdadiya in der Provinz Diyala präsenten Milizen, allen voran die Badr-Miliz und Asa’ib Ahl al-Haqq, das alltägliche Leben in der Stadt, die Märkte, die Verwaltung und die Checkpoints am Eingang der Stadt kontrollieren. Sie seien laut Angaben der Zeitung auch in den Handel mit Drogen verwickelt, die aus dem nahegelegenen Iran importiert würden (Al Araby Al Jadeed, 25. April 2018).

Laut Radio Nawa hat im Juni 2018 das Elektrizitätsministerium einen Amtsträger der Badr-Organisation beschuldigt, eine Gruppe von Personen dazu aufgestachelt zu haben, ein Kraftwerk bei Muqdadiya zu stürmen, was zur Unterbrechung der Stromversorgung geführt habe (Radio Nawa, 24. Juni 2018). […]

Die Website Yaqein berichtet im Dezember 2018 von Demonstrationen Dutzender Einwohner des Distrikts Al-Muqdadiya gegen Verstöße und Einmischungen der Milizen der PMF. Am Tag zuvor hätten PMF-Kämpfer die Häuser von Mitgliedern des Distriktrates angegriffen. Bei dem Konflikt zwischen lokalen Politikern und den PMF gehe es um die Ernennung für den Posten des Distriktvorstandes (Yaqein, 15. Dezember 2018). […]

Ein hochrangiges Mitglied der kurdischen Peschmerga wirft im Mai 2019 Mitgliedern der PMF in der Provinz Diyala vor, die Region gezielt zu ‚arabisieren‘, indem Häuser von KurdInnen durchsucht, Felder kurdischer Bauern verbrannt sowie Bomben gelegt werden. Es werden Asa’ib Ahl al-Haqq, die Badr-Organisation und Hisbollah Al-Nudschaba als Milizen genannt, die außerhalb jeglicher staatlicher Kontrolle agieren. Der Bürgermeister von Khanaqin beschwert sich ebenfalls über das In-Brand-Setzen von Feldern, ohne jedoch Verantwortliche zu nennen (Rudaw, 25. Mai 2019).“ (ACCORD, 11. Dezember 2019)

Im Zuge der Recherche konnten für Diyala seit Jänner 2019 keine Informationen zu gewalttätigen Übergriffen schiitischer Milizen auf die Zivilbevölkerung gefunden werden.

In einem im Jänner 2019 veröffentlichten Bericht zur Sicherheitslage in Baqubah, der Hauptstadt von Diyala, mit Stand November 2018, schreibt das norwegische Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo zum Fehlen aktueller Berichte zu Übergriffen der Volksmobilisierungseinheiten auf die sunnitische Bevölkerung, dass dies ein Zeichen dafür sei, dass die Volksmobilisierungseinheiten und andere Ordnungskräfte die Stadt selbst fest unter ihrer Kontrolle hätten. Dennoch würden die ländlichen Gebiete in der Nähe der Stadt zu den anfälligsten für IS-Angriffe zählen, was wahrscheinlich bedeute, dass die irakischen Sicherheitskräfte und Volksmobilisierungseinheiten in diesen Gebieten nach IS-Anhängern suchen würden, wovon häufig nicht nur sunnitische AraberInnen betroffen seien. Da die Badr-Organisation eine derart starke Präsenz und Kontrolle in Diyala habe, könne man vermuten, dass die Presse sich stark selbst zensiere, wenn sie über das Vorgehen der Volksmobilisierungseinheiten in der Provinz berichte. Basnews habe im April 2018 die Stellungnahme eines politischen Führers aus dem Distrikt Kifri wiedergegeben, dem zufolge die Volksmobilisierungseinheiten kurdische und arabische ZivilistInnen angreifen würden. Laut dem Politiker würden die Volksmobilisierungseinheiten auf die Häuser von ZivilistInnen schießen und sie bedrohen, damit sie die Dörfer räumen würden, weil sie anderenfalls getötet würden. Der Politiker, der die Demokratische Partei Kurdistans repräsentiere, habe angenommen, die Volksmobilisierungseinheiten hätten ein Interesse daran gehabt vor den Wahlen vom Mai 2018 sunnitische Kurden und Araber, die in dieser Gegend leben würden, aus dem Gebiet zu entfernen. Landinfo verweist auch auf ältere Informationen des USDOS-Jahresberichtes zur Religionsfreiheit für das Jahr 2017, in dem von Vertreibungen von mutmaßlichen IS-Sympathisanten durch irakische Streitkräfte und Milizen, sowie von Entführungen von SunnitInnen, Übergriffen auf diese und der Verweigerung deren Rückkehr vonseiten der PMF-Miliz Kata’ib Hizballah berichtet wird. Im November 2018 habe die Quelle Kirkuk Now allerdings berichtet, dass sich immer mehr Familien in Diyala offiziell von nahen Verwandten, die IS-Mitglieder seien, distanzieren würden. Auf langfristige Sicht könne diese Entwicklung das Verhältnis zwischen der sunnitischen lokalen Bevölkerung und den Sicherheitskräften verbessern:

[….]

Allgemeine Sicherheitslage in Diyala

ACCORD hat am 10. April 2019 eine detaillierte Zusammenstellung von Informationen zur allgemeinen Sicherheitslage in Diyala veröffentlicht, die unter folgendem Link abgerufen werden kann:

[….]

Das Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) ist eine Non-Profit-Organisation, die sich dem Sammeln, Analysieren und Kartieren von sicherheitsrelevanten Vorfällen widmet. In einer von ACCORD zusammengestellten Kurzübersicht zu von ACLED dokumentierten Vorfällen im Irak im ersten Halbjahr 2019 finden sich für Diyala 179 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 223 Todesopfern:

„In Diyala wurden 179 Vorfälle mit 223 Toten erfasst und an folgenden Orten lokalisiert: Abu Karmah, Abu Saida, Adhaim, Al Abbarah, Al Anbakiyah, Al Azim, Al Hadd al Akhdar, Al Hafayir, Al Husseiniya, Al Jadidah, Al Wajihiyah, Al-Muqdadiya, Al-Zoor, An Nada, An Nawayyr, As Saadiyah, Ayn Laylah, Balad Ruz, Baquba, Buhriz, Dur al Waqf, Habhab, Hamrin Mountains - Diyala, Hawi, Imam Ways, Jalawla, Khalawi, Khan Bani Saad, Khanaqin, Kifri, Lake Hamrin, Mandali, Naft Khanah, Nahiyat Kanan, Qara Tepe, Qarah Tabah, Qaryat Sansal, Qaryat al Mukhaysah, Qaryat an Naqib, Qaryat a Sadah, Qaryat ash Shaykhi, Shafiq Aziz Agha, Shayrak, Ulyawat Shakir.“ (ACCORD, 19. Dezember 2019, S. 5)

Im Zuge der Recherche zu sicherheitsrelevanten Vorfällen in Diyala seit Jänner 2019 wurden folgende Berichte zu Angriffen und Informationen zur Rückkehr des IS in der Region gefunden:

Al Arab (The Arab Weekly, AW), eine in London herausgegebene Zeitung, berichtet, dass am 7. September ein Scharfschütze einen Geheimdienstmitarbeiter erschossen habe und ein Zivilist in seinem Auto von einer Bombe getötet worden sei. (AW, 14. September 2019)

Am 10. Oktober seien laut der chinesischen staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua in Diyala fünf Menschen bei einem Schuss- und Bombenanschlag von Aktivisten des IS getötet und sieben weitere verletzt worden. (Xinhua Net, 10. Oktober 2019)

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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