TE Bvwg Erkenntnis 2020/10/14 W226 2135939-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.10.2020
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Entscheidungsdatum

14.10.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

W226 2135939-2/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. WINDHAGER über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch RA Mag. Hristo TCHAKAROV, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.06.2017, Zl. 1002429006-170222302, zu Recht erkannt:

A)       Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2 Monate ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt.

B)       Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

1.1. Die Beschwerdeführerin (im Folgenden: BF), eine Staatsangehörige der Russischen Föderation, reiste am 01.03.2014 illegal ins Bundesgebiet ein und stellte am 02.03.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz.

In einer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 02.03.2014 brachte die BF zu ihren Fluchtgründen vor: „Fluchtgründe habe ich eigentlich keine. Ich habe meinen jüngsten Sohn seit Dezember 2012 nicht mehr gesehen. Ich wollte ihn besuchen und wenn möglich, so lange bei ihm bleiben, solange er in Österreich bleiben darf.“

Bei einer Rückkehr habe sie nichts zu befürchten, wolle jedoch bei ihrem jüngsten Sohn bleiben. Der Ehemann der BF sei am XXXX verstorben. Im Herkunftsstaat würden noch drei Schwestern der BF leben, eine Tochter lebe in XXXX und vier Söhne im Heimatdorf der BF. Die BF gab an, schon etwas älter zu sein und an diversen chronischen Krankheiten zu leiden. Sie wolle vor ihrem Tod ihren jüngsten Sohn noch einmal sehen.

In der Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) am 17.12.2014 brachte die BF im Wesentlichen vor, sie lebe bei ihrem Sohn in XXXX . Sie leide an Diabetes und Bluthochdruck und sei hier zwei Mal operiert worden - wegen Gallensteinen und wegen einem Gewächs in der Nebenhöhle oder Nase. Zu Hause sei ihr noch die Gebärmutter und ein Knoten in der Brust entfernt worden; momentan habe sie keinen Krebs. Der Verdacht auf Hepatitis C sei nicht bestätigt worden. Sie habe nur zu hohen Blutdruck und zu hohes Cholesterin, manchmal auch Schwindelanfälle. Sie nehme täglich Medikamente und habe außerdem eine Brille verschrieben bekommen. Weiters legte sie diverse ärztliche Bestätigungen vor.

Auf Befragung gab sie an, im Herkunftsstaat mit ihrem vor ca. einem Jahr verstorbenen Mann und danach alleine in einem Eigentumshaus gelebt zu haben, wo nun einer ihrer Söhne - XXXX - mit seiner Familie lebe. Zu diesem bestehe telefonischer Kontakt, es gehe ihm gut und sie könne im Fall der Rückkehr wieder dort wohnen. Sie und ihr nun verstorbener Mann hätten ihren Lebensunterhalt durch ihre Renten bestritten.

Zu ihren Fluchtgründen befragt brachte sie vor, sie sei gekommen, um ihren Sohn zu besuchen; sie sei nach dem Tod ihres Mannes sehr krank und alleine gewesen. Außerdem sei ein Enkelsohn in einen Autounfall verwickelt gewesen, eine Frau sei verstorben, der Enkel sei dann in Haft gewesen. Sie hätte von der Rente leben können, aber sie habe zu ihrem Lieblingssohn gewollt, um so lange sie noch lebe, bei ihm sein zu können. Die BF bestätigte, dass der einzige Grund ihrer Reise nach Österreich sei, dass sie zu ihrem Sohn habe kommen wollen. Ergänzend gab sie an, dass sie froh wäre, wenn sie bei ihrem Sohn bleiben könnte, wenn es nicht gehe, könne sie auch nichts machen. Außer dem genannten Sohn und seiner Familie habe sie keine Verwandten in Österreich. Sie lebe bei ihm und sie bekämen Sozialhilfe. Deutschkenntnisse habe sie noch nicht. Sie bestätigte, keine eigenen Fluchtgründe zu haben. Sie habe daher im Fall der Rückkehr von staatlicher Seite nichts zu befürchten. Gegen eine Ausweisung spreche, dass sie bei ihrem Sohn bleiben wolle, welcher ja nicht zurück(kehren) könne.

1.2. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 07.09.2016 wurde der Antrag auf internationalen Schutz der BF vom 02.03.2014 gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen, wobei gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass die Abschiebung der BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde unter Spruchpunkt IV. ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Begründend wurde dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass die BF asylrelevante Gründe nicht geltend gemacht habe. Sie habe lediglich ihren jüngsten Sohn samt Familie, deren Anträge in Bezug auf die Asylfrage negativ entschieden worden seien und denen wegen des aufwendigen medizinischen Betreuungsbedarfs ihres Enkelsohnes subsidiärer Schutz gewährt worden sei, besuchen und möglichst lange bei ihm bleiben wollen. Es könne nicht festgestellt werden, dass der BF in der Russischen Föderation mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine an asylrelevante Merkmale anknüpfende aktuelle Verfolgung oder sonstige Verfolgung maßgeblicher Intensität drohe. Es könne nicht festgestellt werden, dass ihr in der Russischen Föderation die Existenzgrundlage völlig entzogen wäre. Sie besitze im Herkunftsstaat ein Haus und beziehe eine Rente. Nach ihrer Ausreise lebe ihr Sohn in dem Haus, somit habe sie im Herkunftsstaat Unterkunft und weitere drei Söhne und eine Tochter, welche sie in jeglicher Hinsicht unterstützen könnten. In Österreich habe sie außer ihrem jüngsten Sohn und dessen Familie keine Verwandten bzw. sonstige Anknüpfungspunkte. Ihre übrigen Familienangehörigen (vier Söhne, eine Tochter) würden im Herkunftsstaat im Heimatdorf bzw. in XXXX leben. Die BF leide an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen, sie sei in Österreich wegen Diabetes behandelt und an der Nase/Nebenhöhle operiert worden.

1.3. Die fristgerechte Beschwerde gegen den genannten Bescheid wurde mit Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (im Folgenden: BVwG) vom 27.10.2016 (Zl. W182 2135939-1/4E) als unbegründet abgewiesen. Das BVwG stellte im Wesentlichen fest, dass die BF nach Österreich gekommen sei um ihren Sohn zu besuchen und so lange wie möglich bleiben wolle. Im Herkunftsstaat verfüge sie weiterhin über familiäre Anknüpfungspunkte, ein eigenes Haus und beziehe eine Rente. Weiters leide sie an keinen akuten, lebensbedrohlichen Krankheiten und sei auch nicht pflegebedürftig. Eine medizinische Versorgung und Grundversorgung sei auch im Herkunftsland gewährleistet. Die BF sei im Bundesgebiet nicht erwerbstätig und verfüge nicht über Deutschkenntnisse. Eine asylrelevante Verfolgung im Herkunftsland habe nicht festgestellt werden können und würden auch die Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiärem Schutz oder eines anderen Aufenthaltstitels nicht vorliegen.

Die Entscheidung wurde der BF, zu Handen ihres Rechtsvertreters, am 31.10.2016 nachweislich rechtswirksam zugestellt und erwuchs in Rechtskraft. Im September 2016 hatte sich die BF für eine freiwillige Rückkehr (Projekt restart Tschetschenien) angemeldet.

2.1. Am 20.02.2017 stellte die BF einen Folgeantrag auf internationalen Schutz und noch am selben Tag wurde eine neuerliche Erstbefragung durchgeführt. Als Grund für die neuerliche Antragstellung, gab die BF an Österreich nicht verlassen zu wollen und am 09.03.2017 eine Herzoperation in XXXX zu haben. Auf Rückfrage gab sie an, alle Flucht- und Verfolgungsgründe genannt zu haben und unbedingt in Österreich bleiben zu wollen. Auf die Frage, was sie im Fall einer Rückkehr befürchte, antwortete die BF: "Ich habe kein Haus und kein Leben in Tschetschenien." Konkrete Hinweise auf eine Gefährdung gebe es keine.

2.2. Mit Schreiben vom 24.02.2017 informierte der Rechtsvertreter der BF das Bundesamt darüber, dass für die BF eine psychiatrische Behandlung sowie eine Operation geplant sei und legte entsprechende Unterlagen vor.

2.3. Mit Verfahrensanordnung vom 13.03.2017 (zugestellt am 15.03.2017) gemäß § 29 Abs. 3 und § 15a AsylG wurde der BF mitgeteilt, dass die Behörde beabsichtige ihren Antrag wegen entschiedener Sache (§ 68 AVG) zurückzuweisen und den faktischen Abschiebeschutz aufzuheben (§ 12a Abs. 2 AsylG).

2.4. Mit Schreiben vom 26.03.2017 und 31.03.2017 legte der damalige Rechtsvertreter der BF diverse medizinische Unterlagen zum letzten Krankenhausaufenthalt (09.03. bis 24.03.2017) der BF vor (geplante Koronarangiographie).

2.5. Am 20.04.2017 langte ein weiteres Schreiben der BF bei der Behörde ein, mit dem sie die Niederschrift vom 20.02.2017 richtigstellen wolle. Die damalige Dolmetscherin habe nicht widergegeben, was die BF gesagt habe bzw. wurde es nicht aufgeschrieben. 2012 sei die BF von der tschechischen (gemeint wohl: tschetschenischen) Polizei bezichtigt worden, durch ihr Lebensmittelgeschäft Terroristen mit Essen zu versorgen. Es sei Geld von ihr verlangt worden um eine Verfolgung abzuwehren. Wegen dieser Verfolgung sei sie geflüchtet. Sie habe auch weitere gesundheitliche Probleme entwickelt, besonders, weil sie "wieder in die Hölle wieder zurückkehren muss". Sie habe sich in Österreich sehr gut integriert und fühle sich "gut geschützt". Die BF könne endlich ruhig schlafen und habe keine Angst, dass jemand komme und sie verletzte. Außerdem wurden erneut medizinische Unterlagen vorgelegt (Nachsorge Koronarangiographie).

2.6. Am 01.06.2017 wurde die BF erneut vom BFA niederschriftlich einvernommen. Die BF gab dabei an nicht gesund und in ärztlicher Behandlung zu sein. Sie nehme auch regelmäßig Medikamente. Zum Beweis dafür legte die BF diverse medizinische Unterlagen vor.

Zu ihren Angaben im vorherigen Verfahrensgang befragt, gab die BF an, dass diese nicht richtig übersetzt worden seien und sie auch ein entsprechendes Schreiben vorgelegt habe. Es sei das, was sie gesagt habe, nicht protokolliert worden. Sie habe derzeit keine Dokumente, die ihre Identität bestätigten würden, doch habe sie früher einen russischen Reisepass besessen. Nach neuen Beweismitteln gefragt, erklärte die BF keine zu haben, jedoch seien im ersten Verfahrensgang ihre Asylgründe nicht richtig übersetzt worden und sie verwies auf das diesbezüglich vorgelegte Schreiben. Auf Vorhalt, warum sie diese nicht schon im ersten Verfahren bzw. in der Beschwerde beanstandet habe, gab die BF an, dies damals „nicht gewusst“ zu haben. Sie habe damals keine Zweifel gehabt, dass alles stimme und habe ihr Rechtsanwalt ihr nichts mitgeteilt. Die BF wurde nochmals zum früheren Vorbringen befragt und ihr wurde vorgehalten, dass die BF nie vorgebracht habe den Dolmetscher nicht verstanden zu haben bzw. keinerlei Unterlagen vorgelegt habe, die eine gesundheitliche oder psychische Ausnahmesituation darlegen würden, welche sie daran gehindert hätten das Vorbringen wahrheitsgemäß zu schildern. Die BF wiederholte, dass sie der Dolmetscherin alles gesagt habe und sie gedacht habe, dass diese alles übersetzt habe.

Zum nunmehrigen Vorbringen befragt, gab die BF an bedroht worden zu sein, als sie in einem Lebensmittelgeschäft gearbeitet habe. Die Polizei habe sie bezichtigt Terroristen zu versorgen und sei sie verfolgt worden. Ihr sei angedroht worden, die Sache ans Gericht zu übergeben, wenn sie kein Geld zahle. Näher dazu befragt, gab die BF, an keine Terroristen gesehen zu haben. Danach gefragt, warum sie verurteilt werden sollte, wenn sie unschuldig sei, erklärte die BF, dass nur Geld von ihr gefordert und sie bedroht worden sei.

Nach Vorhalt, dass das erste Asylverfahren bereits rechtskräftig abgeschlossen worden sei und nach neuen Gründen für den Folgeantrag gefragt, verwies die BF erneut auf das vorgelegte Schreiben, welches nicht datiert ist. Das Schreiben sei vor ein bis zwei Monaten verfasst und von ihrem Sohn an den Rechtsvertreter weitergeleitet worden. Nach Details zur nunmehr vorgebrachten Verfolgung gefragt, erklärte die BF, dass vier Mal Polizisten gekommen sein und ein Polizist 150.000,-- Rubel gefordert hätte. Sie habe gewusst, dass diese immer wieder Geld fordern würden. Das erste Mal sei Ende 2012 gewesen, an einen genauen Monat könne sie sich nicht erinnern. Als die Polizei gekommen sei, habe sie ihr Geschäft gleich zugesperrt und nie wieder geöffnet. Sie habe nach der Schließung ihres Geschäfts schon noch Geld gehabt, doch habe sie Angst gehabt es den Polizisten zu geben, da diese sie nicht in Ruhe lassen und immer mehr Geld fordern würden. Aus Angst habe sie die Erpressung nicht den Gerichten gemeldet und habe auch niemanden zuhause davon erzählt. Man hätte sie sonst sicher beschuldigt. Auf erneuten Vorhalt, warum sie all dies nicht schon früher erwähnt habe, gab die BF an: "Ich habe geglaubt aufgenommen worden zu sein, dass ich hier bleiben kann – deshalb habe ich niemanden etwas gesagt und ich wollte auch nicht darüber sprechen."

Nach Familienangehörigen gefragt, gab die BF an keine mehr in der Russischen Föderation zu haben. Ihre Geschwister seien mittlerweile verstorben. Nach Kindern gefragt, gab die BF zunächst an, dass alle außerhalb Russlands leben würden. Danach führte sie aus, dass ein Sohn und eine Tochter in Russland, ein Sohn in Kasachstan, einer in Deutschland und einer in Österreich leben würden. Der Aufenthaltsort eines weiteren Sohnes sei ihr unbekannt. Ihre Kinder seien alle erwachsen und würden arbeiten.

Sie lebe bei ihrem jüngsten Sohn, welcher in XXXX wohne. Sie bekomme soziale Unterstützung. Ihr Sohn lerne und besuche Kurse. Er könne nicht arbeiten gehen, weil sein Kind Epilepsie habe.

Ein Familienleben in Russland sei nicht möglich. Sie können nicht zu ihrer Tochter und deren Ehemann, weil es nicht üblich sei, mit dem Schwiegersohn zusammenzuleben. Der Sohn, der in Russland lebe, würde sie nicht so aufnehmen wie jener in Österreich. Nur ihr jüngster Sohn sorge gut für sie und auch ihre Schwiegertochter sei sehr gut.

Nach ihrer Zukunft in Österreich befragt, gab die BF an bei ihrem Sohn bleiben zu wollen. Sie spreche kein Deutsch, sei nicht Mitglied in einem Verein und habe auch sonst keine Integrationsschritte gesetzt. Sozialer Bezugspunkt sei ihr Sohn und verbringe sie Zeit mit diesem und seiner Familie.

Im Anschluss an die Befragung lobte die BF die gute Übersetzung der Dolmetscherin.

2.7. Mit gegenständlichem Bescheid des BFA vom 29.06.2017 wurde der (Folge-) Antrag auf internationalen Schutz vom 20.02.2017 gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen, wobei gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass die Abschiebung der BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde unter Spruchpunkt IV. ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Die belangte Behörde stellte im Wesentlichen fest, dass die BF russische Staatsangehörige und Tschetschenin sei. Im Herkunftsland sei sie erfolgreich wegen einer Krebserkrankung behandelt worden und leide nun an keiner lebensbedrohenden physischen oder psychischen Erkrankung. Seit ihrer illegalen Einreise habe die BF von Leistungen der staatlichen Grundversorgung gelebt und keine Integrationshandlungen gesetzt. Eine asylrelevante Verfolgung im Herkunftsstaat habe nicht festgestellt werden können. Das neue Vorbringen der BF bzgl. der Erpressung durch Polizisten sei - aus näher dargestellten Gründen - nicht glaubhaft. Es würden auch keine Gefahren drohen, die die Erteilung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würden. Die BF verfüge auch über ein gutes soziales Netzwerk im Heimatland (insb. 2 erwachsene Kinder) und sei auch die Grundversorgung und medizinische Versorgung gewährleistet.

Zur Lage im Herkunftsland stellte die belangte Behörde das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Russischen Föderation fest.

Beweiswürdigend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass es der BF bzgl. ihrer Fluchtgründe nicht gelungen sei ein fundiertes und substantiiertes Vorbringen zu erstatten. Es sei vielmehr unglaubwürdig, vage und widersprüchlich gewesen.

Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass keine asylrelevante Verfolgung gegeben sei und auch die Voraussetzungen für die Erteilung von subsidiärem Schutz oder einem Aufenthaltstitel gem. § 57 AsylG nicht gegeben seien. In Bezug auf ihren erwachsenen Sohn, bei dem sie derzeit wohne, bestehe kein derart intensives Naheverhältnis, dass eine Außerlandesbringung einen ungerechtfertigten Eingriff in das Familienleben der BF darstellen würde. Auch habe die BF kein beachtenswertes Privatleben in Österreich und weiterhin starke Bindungen an ihr Heimatland.

2.8. Am 11.07.2017 brachte die BF, im Wege ihres ausgewiesenen Rechtsvertreters, fristgerecht Beschwerde ein. Die BF brachte inhaltliche Rechtswidrigkeit und Verletzung von Verfahrensvorschriften vor.

2.9. Am 10.09.2020 führte das BVwG eine mündliche Beschwerdeverhandlung durch. Hierbei waren die BF, ihr nunmehriger Rechtsvertreter sowie der Sohn der BF anwesend. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm entschuldigt nicht teil.

Auf Frage nach ihrem derzeitigen Gesundheitszustand, gab die BF an zuckerkrank zu sein und im Jahr 2017 einen Herzschrittmacher bekommen zu haben. Deswegen sei sie auch in fachärztlicher Behandlung und müsse in 6 Monaten zur Kontrolle gehen.

Zu ihrem nunmehrigen neuen Fluchtvorbringen befragt, gab die BF an dieses schon früher ihrem damaligen Rechtsvertreter mitgeteilt zu haben. Warum er dies nicht in den zahlreichen Eingaben erwähnt habe, wisse sie nicht.

Nach ihrem Antrag auf freiwillige Rückkehr befragt, gab die BF, dass sie habe zurückkehren wollen, weil sie hier nicht "aufgenommen" worden sei. Sie sei aber nie ausgereist.

Nach dem Asylgrund gefragt, den sie ihn ihrem ersten Verfahren geschildert habe, erklärte die BF zuhause bedroht worden zu sein. Sie kenne die Leute nicht, es sei die Polizei oder andere Leute gewesen. Sie habe nicht darüber gesprochen, weil sie Angst gehabt habe zurückgeschickt zu werden und diese Dokumente dann im Herkunftsland auftauchen würden. Auf Vorhalt, dass die BF bisher behauptet habe, dass die Dolmetscherin im ersten Verfahren ihre Aussage nicht vollständig übersetzt habe, gab die BF an, dass dies bei der zweiten Einvernahme gewesen sei.

Nach dem Vorfall mit der tschetschenischen Polizei befragt, gab die BF an im Jahr 2013 ein kleines Lebensmittelgeschäft im Familienhaus geführt zu haben. Ein Polizist sei zu ihr gekommen und habe Geld von ihr verlangt. Ihr sei vorgeworfen worden Lebensmittel an Rebellen verkauft zu haben. Danach habe sie das Geschäft aufgelöst. Geld haben sie dem Polizisten nicht gegeben. Derzeit würde ein Cousin ihres Mannes in dem Haus leben. Nach der Zeitspanne zwischen der Geldforderung und ihrer Ausreise gefragt, gab die BF an, dass ihr Mann gleich nach der Erpressung an einem Herzinfarkt gestorben sei. Dann habe es noch ca. 8 Monate gedauert, bis sie ihr Geschäft aufgelöst habe. Wieviel Zeit zwischen der Geschäftsauflösung und ihrer Ausreise gelegen habe, können die BF nicht mehr sagen. Auf Vorhalt, dass sie vor dem BFA gesagt habe, dass Geschäft gleich zugesperrt zu haben, erklärte die BF aus ihrem geschlossenen Geschäft weiterhin Waren verkauft zu haben. Die Polizisten seien 3-4 Mal vorbeigekommen. Es habe sich immer um dieselbe Person gehandelt und sei der Polizist alleine gekommen. Er habe damit gedroht, dass sie inhaftiert werde. Auf die Frage, warum sie auf legalem Wege mit dem Zug ausgereist sei, obwohl sie von der Polizei verfolgt wurde, gab die BF an niemandem etwas gesagt zu haben, da sie Angst gehabt habe.

Die BF gab an, aufgrund der Bedrohung nicht bei Familienmitgliedern im Heimatland Unterkunft nehmen zu können. Nach den Wohnorten ihrer Söhne befragt, gab die BF an, dass einer in Russland, einer in Moskau, ein weiterer in Deutschland und einer in Frankreich leben würde. Danach gefragt, ob ihre Söhne auch bedroht worden seien, gab die BF an, dass ihr in Österreich lebender Sohn entführt und festgehalten worden sei. Sie bestätigte jedoch, dass ihr Sohn aufgrund seines schwerkranken Sohnes subsidiären Schutz erhalten habe.

Nach medizinischen Behandlungen in Russland gefragt, gab die BF an, in Rostow und Grosny operiert worden zu sein. Sie sei auch bei ihrem Hausarzt in Behandlung gewesen. Die BF verneinte, dass diese Operationen mit finanziellen Problemen oder Kosten verbunden gewesen seien.

Nach ihrem Leben in Österreich gefragt, gab die BF an, dass ihr Sohn ihr helfe und sie alles zusammen machen würden. Ohne ihn könne sie nicht. Ihr Sohn könne derzeit nicht arbeiten gehen, weil er sich um seinen kranken Sohn kümmern müsse und lebe von der Mindestsicherung. Die BF selbst lebe von der Grundsicherung. Die BF helfe auch soweit wie möglich im gemeinsamen Haushalt.

Nach den anderen Söhnen gefragt, gab die BF an, dass einer in XXXX lebe und als Hilfsarbeiter arbeite. Ein weiterer lebe in Frankreich und habe die BF mit dessen Ehefrau Kontakt. Ein weiterer Sohn lebe mit seiner Familie in Deutschland. Der andere Sohn lebe, genauso wie seine Schwester, in XXXX . Warum die Söhne aus Tschetschenien weggezogen seien, das wisse die BF nicht. Das Familienhaus in Tschetschenien sei noch immer im Eigentum ihres verstorbenen Mannes, werde aber in den Besitz ihres jüngsten Sohnes, welcher in Österreich sei, übergehen.

Am Ende der Verhandlung legte die BF diverse medizinische Unterlagen vor, welche als Beilagen zum Protokoll genommen wurden.

Weiters wurde die BF auf die aktuellen Länderinformationen der Staatendokumentation zur Russischen Föderation verwiesen und die Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme eingeräumt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

Die BF ist russische Staatsbürgerin und Angehörige der Volksgruppe der Tschetschenen und bekennt sich zum muslimischen Glauben. Ihre Identität steht mangels unstrittiger Dokumente nicht fest. Die BF spricht Russisch und Tschetschenisch.

Die BF stellte im Jahr 2014 ihren ersten Antrag auf internationalen Schutz, welcher mit rechtskräftiger Entscheidung des BVwG vom 27.10.2016 als unbegründet abgewiesen wurde. Am 20.02.2017 stellte die BF einen Folgeantrag. Der bisherige Verfahrensgang wurde bereits unter I. detailliert ausgeführt und gilt als festgestellt.

Die BF hat bis zur Ausreise ihr gesamtes Leben im Heimatland verbracht und zuletzt eine Rente bezogen. Außerdem betrieb sie, zusammen mit ihrem nun verstorbenen Ehemann, ein kleines Lebensmittelgeschäft im eigenen Familienhaus. Die zahlreichen Kinder der BF leben weiterhin mit ihren Familien im Herkunftsstaat, großteils sogar im Heimatdorf, einzig einem weiteren Sohn wurde aufgrund der schweren Erkrankung eines Kindes in Österreich subsidiärer Schutz gewährt.

In Österreich lebt die BF mit diesem subsidiär schutzberechtigten Sohn und dessen Familie in einem gemeinsamen Haushalt. Außerhalb dieser Beziehung hat die BF keine weiteren berücksichtigungswürdigen sozialen oder familiären Kontakte in Österreich.

Die BF spricht kein Deutsch und hat keine Deutschkurse besucht. Sie ist nicht erwerbstätig und lebt von Leistungen aus der Grundversorgung. Die BF hat keine besonderen sozialen Kontakte im Bundesgebiet und ist nicht Mitglied in einem Verein. Sie hat keine beachtenswerten Integrationshandlungen gesetzt.

Die BF leidet an Diabetes und einer Herzerkrankung, für welche ihr im März 2017 ein Herzschrittmacher eingesetzt wurde. Im Bundesgebiet ist die BF nur fallweise in fachärztlicher Behandlung und geht - erkennbar in großen Zeitintervallen - zu Kontrollen. Sie wurde öfter in Krankenhäusern behandelt und nimmt regelmäßig Medikamente ein.

Die BF ist im Bundesgebiet nicht strafrechtlich verurteilt.

Nicht festgestellt werden kann, dass der BF in der Russischen Föderation, respektive Tschetschenien, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine an asylrelevante Merkmale anknüpfende Verfolgung maßgeblicher Intensität - oder eine sonstige Verfolgung maßgeblicher Intensität - aktuell droht oder in Zukunft drohen wird.

Nicht festgestellt werden kann, dass die BF im Fall der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation, respektive Tschetschenien, in ihrem Recht auf Leben gefährdet wären, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen würde oder von der Todesstrafe bedroht wäre.

Es konnte ferner nicht festgestellt werden, dass die BF im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihr die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.

Zur Lage im Herkunftsstaat wird aus dem aktuellen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zur Russischen Föderation auszugsweise folgendes festgestellt:

"Sicherheitslage

Letzte Änderung: 27.03.2020

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a; vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a; vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020

-        BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020

-        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020

-        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015; vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Tschetschenien

Letzte Änderung: 27.03.2020

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

[…]

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 27.03.2020

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und bekämpft Kriminalität. Die Aufgaben der Föderalen Nationalgarde sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, die Administrierung von Waffenbesitz, der Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil. Zivile Behörden halten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Obwohl das Gesetz Mechanismen für Einzelpersonen vorsieht, um Klagen gegen Behörden wegen Menschenrechtsverletzungen einzureichen, funktionieren diese Mechanismen oft nicht gut. Gegen Beamten, die Missbräuche begangen haben, werden nur selten strafrechtliche Schritte unternommen, um sie zu verfolgen oder zu bestrafen, was zu einem Klima der Straflosigkeit führte (USDOS 11.3.2020), Ebenso wendet die Polizei häufig übermäßige Gewalt an (FH 4.3.2020).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Spätestens 12 Stunden nach der Inhaftierung muss die Polizei den Staatsanwalt benachrichtigen. Die Behörden müssen dem Inhaftierten auch die Möglichkeit geben, seine Angehörigen telefonisch zu benachrichtigen, es sei denn, ein Staatsanwalt stellt einen Haftbefehl aus, um die Inhaftierung geheim zu halten. Die Polizei ist verpflichtet, einen Häftling nach 48 Stunden unter Kaution freizulassen, es sei denn, ein Gericht beschließt in einer Anhörung, den von der Polizei eingereichten Antrag mindestens acht Stunden vor Ablauf der 48-Stunden-Haft zu verlängern. Der Angeklagte und sein Anwalt müssen bei der Gerichtsverhandlung entweder persönlich oder über einen Videolink anwesend sein. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (USDOS 11.3.2020).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen „fremdländischen“ Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 13.2.2019).

Die zivilen Behörden auf nationaler Ebene haben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien, die nur dem Republiksoberhaupt, Kadyrow, unterstellt sind (USDOS 11.3.2020). Kadyrows Macht wiederum gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen „Kadyrowzy“. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet; ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018; vgl. AI 22.2.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Auf Seiten des tschetschenischen Innenministeriums sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hat angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ansuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch „ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden ‚unantastbaren Polizeieinheiten‘ zu tun haben“ (EASO 3.2017).

Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor Ramzan Kadyrow nicht sicher. Sicherheitskräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sind auch in Moskau präsent (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 10.3.2020

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

-        HRW – Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 7.8.2019

-        USDOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020

Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung: 21.07.2020

Im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamte gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern häufig nur unzureichend untersucht (ÖB Moskau 12.2019; vgl. EASO 3.2017).

Immer wieder gibt es Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land (AI 16.4.2020; vgl. HRW 14.1.2020). Laut Amnesty International und dem russischen „Komitee gegen Folter“ kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung (AA 13.2.2019). Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig (AA 13.2.2019). Untersuchungen von Foltervorwürfen bleiben häufig folgenlos (AA 13.2.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Unter Folter erzwungene “Geständnisse“ werden vor Gericht als Beweismittel anerkannt (AA 13.2.2019). Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Tagen nach der Inhaftierung (USDOS 11.3.2020). Im August 2018 publizierte das unabhängige Online-Medienportal Meduza Daten über mehr als 50 öffentlich gemeldete Folterfälle im Jahr 2018. Zu den mutmaßlichen Tätern gehörten Polizei, Ermittler, Sicherheitsbeamte und Strafvollzugsbeamte. Die Behörden haben nur wenige strafrechtliche Ermittlungen zu den Vorwürfen eingeleitet, und nur ein Fall wurde vor Gericht gebracht (HRW 17.1.2019). Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. außergerichtlichen Tötungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Ab 2017 wurden Hunderte von homosexuellen Männern von tschetschenischen Behörden entführt und gefoltert, einige wurden getötet. Viele flohen aus der Republik und dem Land. In einem im Dezember 2018 veröffentlichten OSZE-Bericht wurde festgestellt, dass in Tschetschenien schwere Menschenrechtsverletzungen, einschließlich des scharfen Vorgehens gegen LGBTI-Personen, begangen wurden, und Russland wurde aufgefordert, eine umfassende Untersuchung durchzuführen [vgl. hierzu Kapitel 19.4 Homosexuelle] (FH 4.2.2019; vgl. Standard.at 3.11.2017).

Ein zehnminütiges Video der Körperkamera eines Wächters in der Strafkolonie Nr. 1 in Jaroslawl zeigt einen Insassen, wie er von Wächtern gefoltert wird. Das Video vom Juni 2017 wurde am 20.7.2018 von der unabhängigen russischen Zeitung Nowaja Gazeta veröffentlicht. Das Ermittlungskomitee leitete ein Strafverfahren wegen Amtsmissbrauch mit Gewaltanwendung ein (NZZ 23.7.2018). Als Reaktion auf die öffentliche Empörung verhaftete die russische Kriminalpolizei bis November 2018 15 Verdächtige. Ein Verdächtiger sagte aus, dass die Mitarbeiter das Video aufgezeichnet haben, um zu zeigen, dass sie einen Befehl von hohen Beamten ausgeführt haben, den Gefangenen zu bestrafen. Die schnelle und effektive Untersuchung war beispiellos in Russland, wo die Behörden typischerweise die Beschwerden von Gefangenen über Misshandlungen ablehnen (HRW 17.1.2019). Das Gerichtsverfahren gegen das Gefängnispersonal ist noch anhängig (HRW 14.1.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html, Zugriff 16.7.2020

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

-        HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002220.html, Zugriff 10.3.2020

-        HRW – Human Rights Watch (14.1.2012): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html, Zugriff 2.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (23.7.2018): Ein Foltervideo setzt Ermittlungen gegen Russlands Strafvollzug in Gang, https://www.nzz.ch/international/foltervideo-setzt-ermittlungen-gegen-russlands-strafvollzug-in-gang-ld.1405939, Zugriff 10.3.2020

-        Standard.at (3.11.2017): Putins Beauftragte will Folter in Tschetschenien aufklären, https://derstandard.at/2000067068023/Putins-Beauftragte-will-Folter-in-Tschetschenien-aufklaeren, Zugriff 10.3.2020

-        USDOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020

Korruption

Letzte Änderung: 21.7.2020

Korruption gilt in Russland als wichtiger Teil des gesellschaftlichen Systems. Obwohl Korruption in Russland endemisch ist, kann im Einzelfall nicht generalisiert werden. Zahlreiche persönliche Faktoren bezüglich Geber und Nehmer von informellen Zahlungen sind zu berücksichtigen, genauso wie strukturell vorgegebene Einflüsse der jeweiligen Region. Im alltäglichen Kontakt mit den Behörden fließen informelle Zahlungen, um widersprüchliche Bestimmungen zu umgehen und Dienstleistungen innerhalb nützlicher Frist zu erhalten. Korruption stellt eine zusätzliche Einnahmequelle von Staatsbeamten dar. Das Justizsystem und das Gesundheitswesen werden in der Bevölkerung als besonders korrupt wahrgenommen. Im Justizsystem ist zwischen stark politisierten Fällen, einschließlich solchen, die Geschäftsinteressen des Staates betreffen, und alltäglichen Rechtsgeschäften zu unterscheiden. Nicht alle Rechtsinstitutionen sind gleich anfällig für Korruption. Im Gesundheitswesen gehören informelle Zahlungen für offiziell kostenlose Dienstleistungen zum Alltag. Bezahlt wird für den Zugang zu Behandlungen oder für Behandlungen besserer Qualität. Es handelt sich generell um relativ kleine Beträge. Seit 2008 laufende Anti-Korruptionsmaßnahmen hatten bisher keinen Einfluss auf den endemischen Charakter der Korruption (SEM 15.7.2016).

Korruption ist sowohl im öffentlichen Leben als auch in der Geschäftswelt weit verbreitet, und ein zunehmender Mangel an Rechenschaftspflicht ermöglicht es Bürokraten, ungestraft Straftaten zu begehen. Analysten bezeichnen das politische System als Kleptokratie, in der die regierende Elite das öffentliche Vermögen plündert (FH 4.3.2020). Obwohl das Gesetz Strafen für behördliche Korruption vorsieht, bestätigt die Regierung, dass das Gesetz nicht effektiv umgesetzt wird, und viele Beamte in korrupte Praktiken involviert sind (USDOS 11.3.2020; vgl. EASO 3.2017). Korruption ist sowohl in der Exekutive als auch in der Legislative und Judikative auf allen hierarchischen Ebenen weit verbreitet (USDOS 11.3.2020; vgl. EASO 3.2017, BTI 2018). Zu den Formen der Korruption zählen die Bestechung von Beamten, missbräuchliche Verwendung von Finanzmitteln, Diebstahl von öffentlichem Eigentum, Schmiergeldzahlungen im Beschaffungswesen, Erpressung und die missbräuchliche Verwendung der offiziellen Position, um an persönliche Begünstigungen zu kommen. Behördliche Korruption ist zudem auch in anderen Bereichen weiterhin verbreitet: im Bildungswesen, beim Militärdienst, im Gesundheitswesen, im Handel, beim Wohnungswesen, bei Pensionen und Sozialhilfe, im Gesetzesvollzug und im Justizwesen (USDOS 11.3.2020).

Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. BTI 2018). Eines der zentralen Themen der Modernisierungsagenda ist die Bekämpfung der Korruption und des Rechtsnihilismus. Im Zeichen des Rechtsstaats durchgeführte Reformen, wie die Einsetzung eines Richterrats, um die Selbstverwaltung der Richter zu fördern, die Verabschiedung neuer Prozessordnungen und die deutliche Erhöhung der Gehälter hatten jedoch wenig Wirkung auf die Abhängigkeit der Justiz von Weisungen der Exekutive und die dort herrschende Korruption. Im Februar 2012 erfolgte der Beitritt Russlands zur OECD-Konvention zur Korruptionsbekämpfung ( GIZ 7.2020a).

Korruption ist auch in Tschetschenien nach wie vor weit verbreitet, und große Teile der Wirtschaft werden von wenigen, mit dem politischen System eng verbundenen Familien kontrolliert. Öffentliche Bedienstete müssen einen Teil ihres Gehalts an den nach Kadyrows Vater benannten und von dessen Witwe geführten Wohltätigkeitsfonds abführen. Der 2004 gegründete Fonds baut Moscheen und verfolgt Wohltätigkeitsprojekte. Kritiker meinen jedoch, dass der Fonds auch der persönlichen Bereicherung Kadyrows und der ihm nahestehenden Gruppen diene. So bezeichnete die Zeitung „Kommersant“ den Fonds als eine der intransparentesten NGOs des Landes. Der Fond soll Ende 2017 über 2,2 Mrd. Rubel (über 30 Mio. €) verfügt haben. Allein vom 30.11. bis 5.12.2019 berichteten tschetschenische Beamte über mindestens 12 Initiativen, die aus den Mitteln des Fonds finanziert wurden (ÖB Moskau 12.2019). Die Situation in Tschetschenien zeichnet sich dadurch aus, dass korrupte Praktiken erstens stärker verbreitet sind und zweitens offener ablaufen als im restlichen Russland (SEM 15.7.2016).

Dagestan ist eine der ärmsten Regionen Russlands, bis zu 70% des Budgets stammen aus Subventionen aus Moskau. Auch in Dagestan ist die Gesellschaft in Clans aufgebaut. Nirgendwo sonst in Russland ist der Clan so stark wie in Dagestan, weshalb systemische Korruption in dieser Republik nicht überrascht (WI 25.2.2018). Das staatliche Justizwesen ist in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt (AA 13.2.2019). Zum ersten Mal in der Geschichte der Russischen Föderation wurden Anfang 2018 der Premierminister Dagestans, seine Stellvertreter und der ehemalige Bildungsminister wegen schwerer Korruptionsvorwürfe festgenommen und sofort nach Moskau geflogen. Alle vier stehen im Verdacht, Haushaltsmittel aus Sozialprogrammen in großem Umfang veruntreut zu haben (WI 25.2.2018).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 11.3.2020

-        BTI – Bertelsmann Transformation Index (2018): BTI 2018 Country Report – Russia, https://www.bti-project.org/fileadmin/files/BTI/Downloads/Reports/2018/pdf/BTI_2018_Russia.pdf, Zugriff 11.3.2020

-        EASO – European Asylum Support Office (3

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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