TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/9 W177 2127474-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.11.2020
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Entscheidungsdatum

09.11.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §9 Abs2
AsylG 2005 §9 Abs2 Z2
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch

W177 2127474-2/28E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung – Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmBH, Wattgasse 40/3.Stock, 1170 Wien gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 10.03.2020 und am 17.07.2020, zu Recht erkannt:

A)

I.       Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe abgewiesen, dass dieser zu lauten hat:

Der Ihnen mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten wird Ihnen gemäß § 9 Abs 2 Z 2 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt.

II.      Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II., III., IV. und VI. und des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

III.    Der Beschwerde gegen Spruchpunkt V. und VII. des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe stattgegeben, dass diese richtig zu lauten haben:

Es wird gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass Ihre Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 9 Abs 2 AsylG 2005 unzulässig ist.

Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wird gegen Sie ein auf die Dauer von drei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer (nunmehr „BF“), ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 04.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen der Erstbefragung gab der BF an, dass er im Iran geboren worden und nie in Afghanistan gewesen sei. Er sei sein ganzes Leben lang im Iran gewesen. Zum Fluchtgrund gab er an, dass vor 25 Jahren die Eltern des BF aus Afghanistan in den Iran gezogen seien. Warum, wisse er nicht. Der BF sei im Iran geboren und aufgewachsen. Jedes Jahr haben sie dort neu ansuchen müssen, um eine Aufenthaltskarte zu bekommen. Der Vater des BF habe gesagt, dass es in Europa schneller gehe als im Iran. Das hätten ihm Verwandte seiner Frau erzählt, die in Schweden leben würden. Das sei der einzige Fluchtgrund gewesen, den der BF habe.

3. Im Rahmen der am 23.03.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (nunmehr „BFA“) erfolgten Einvernahme wiederholte der BF, dass er noch nie in Afghanistan gewesen sei. Ein Onkel mütterlicherseits würde in Afghanistan leben; der BF wisse aber nicht, wo. Er habe seit fünf Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm. Die Eltern des BF seien vor 23 Jahren (wie der BF glaube) in den Iran gezogen. Der BF habe niemals Probleme mit den Behörden seines Heimatlandes Afghanistan gehabt. Die Iraner würden die Afghanen sehr schlecht behandeln. Der BF könne nicht nach Afghanistan zurückkehren, da er dort keine Familie habe. Außerdem sei in Afghanistan Krieg. Das seien alle Gründe; mehr könne der BF dazu nicht angeben.

4. Mit Bescheid des BFA vom 04.05.2016 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 04.05.2017 erteilt (Spruchpunkt III.).

In der rechtlichen Beurteilung führte das BFA aus, dass der BF keinerlei persönlich gegen ihn gerichtete Verfolgung im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan geltend gemacht habe. Darüber hinaus habe er keine Probleme mit staatlichen Behörden gehabt, sich noch nie in Afghanistan aufgehalten und sich nie politisch in Afghanistan engagiert. Die Entscheidung der Zuerkennung eines subsidiär Schutzberechtigten wurde dahingehend begründet, dass der BF im Iran geboren wurde und er noch nie in Afghanistan gewesen sei. Er verfüge daher weder über Ortskenntnisse in seinem Herkunftsstaat noch über ein tragfähiges soziales Netzwerk, weshalb im Falle einer Rückkehr der BF einer ernsthaften Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt aufgrund der derzeitigen Sicherheitslage in Afghanistan ausgesetzt wäre.

5. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer am 25.05.2016 rechtzeitig Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Mangelhaftigkeit des Verfahrens.

6. Mit Erkenntnis des BVwG vom 05.07.2016, GZ: XXXX wurde die Beschwerde bezüglich § 3 Abs.1 AsylG als unbegründet abgewiesen. Dies Entscheidung wurde dahingehend begründet, dass sich das Vorbringen entweder nicht auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan bezogen habe oder seine bereits nicht mehr existente Minderjährigkeit berufen habe. Bezüglich eine möglichen Verfolgung des BF aufgrund seiner Zugehörigkeit zur ethnisch-religiösen Minderheit der schiitischen Hazara, wegen seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie sowie wegen seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der außerhalb Afghanistans geborenen und sozialisierten Personen, welche bei einer Niederlassung in Afghanistan keinerlei Lebensgrundlagen hätten, haben sich im Laufe des gesamten Verfahrens keine persönlichen Gründe einer konkreten Verfolgung in Afghanistan ergeben.

6. Mit Urteil des XXXX vom 24.05.2017 wurde der BF als junger Erwachsener zur Zahl XXXX wegen der Vergehen nach §§ 83, 84 Abs. 2, 1.Fall StGB § 15 StGB, § 15 StGB § 83 StGB und § 15 § 269 Abs. 1 1.Fall StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten, unter der Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt, verurteilt.

7. Mit Schreiben vom 02.06.2017 stellte der BF einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs 4 AsylG.

8. Mit Bescheid vom 23.06.2017, XXXX , erteilte die belangte Behörde dem BF die befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs 4 AsylG 2005 bis zum 23.06.2019.

9. Mit Urteil des XXXX vom 13.12.2018 wurde der BF zur Zahl 66 Hv 110/18y wegen des Vergehens nach §§ 27 Abs. 2a 2.Fall und Abs. 3 SMG, § 15 StGB unter Anwendung von § 28 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten, acht davon unter der Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt, verurteilt.

10. Am 16.01.2019 leitete die belangte Behörde gem. § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG ein Verfahren zu Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ein. Am 29.01.2019 wurde der BF niederschriftlich im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari einvernommen. Der BF gab im Wesentlichen an, gesund und arbeitsfähig zu sein. Er sei Moslem, schiitischer Glaubensrichtung und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Er sei im Iran geboren worden, wo er auch sechs Jahre lang eine afghanische Schule besucht habe, ehe er als Maurer auf Baustellen gearbeitet habe. Seine Familie stamme aus der Provinz Bamyan. In Österreich habe er einen Deutschkurs auf dem Niveau A1 abgeschlossen und befinde sich derzeit in Haft. Verwandte habe er im Bundesgebiet ebenfalls nicht. Diese würden sich im Iran aufhalten, allerdings stünde er mit diesen seit einiger Zeit nicht mehr in Kontakt. In Afghanistan würden noch eine Schwester und ein Onkel leben, zu diesen bestehe aber schon seit zehn Jahren kein Kontakt mehr. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan würde der BF nichts befürchten, jedoch habe er dort niemanden und niemand könne ihm dort unterstützen. Nach der Erörterung der Sach- und Rechtslage wurde dem BF mitgeteilt, dass sich seine individuellen Verhältnisse seit dem Zeitpunkt der Verkündung des subsidiären Schutzes so verändert hätten, dass dem BF eine Rückkehr nach Afghanistan zumutbar sei.

11. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 31.01.2019 wurde dem BF der ihm mit Bescheid vom 04.05.2016 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs 1 Z 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und ihm die mit Bescheid vom 23.06.2017, Zl. XXXX , erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs 4 AsylG entzogen (Spruchpunk II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen den BF wurde gemäß § 10 Abs 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 FPG wurde gegen den BF ein auf die Dauer von sieben Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass die Angaben des BF zu seinen familiären Anknüpfungspunkten nicht glaubwürdig gewesen seien. Dem Beschwerdeführer sei mit Bescheid vom 04.05.2016 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden, da er aufgrund seiner damaligen Lage im Falle einer Rückkehr in eine (wirtschaftlich) die Existenz bedrohende Situation gelangt wäre und ihm aufgrund der damaligen angenommenen landesweit herrschenden prekären Sicherheitslage in Afghanistan keine innerstaatliche Fluchtalternative zugemutet werden habe können. Die seinerzeit für die Gewährung des Status des subsidiär Schutzberechtigten maßgeblichen Gründe seien zwischenzeitig nicht mehr gegeben. Der volljährige BF sei jung, gesund und arbeitsfähig, sodass ihm nunmehr eine Rückkehr in sein Heimatland grundsätzlich zuzumuten sei. Die belangte Behörde gehe auch davon aus, dass ihm eine Rückkehr zumutbar sei, weil sich seine subjektive Lage geändert habe und ihm mit seiner Schwester und seinem Onkel ein soziales Netzwerk zur Verfügung stehe. Es sei ihm sogar eine Rückkehr in die Provinz Bamyan zumutbar. Jedenfalls stünde ihm mit den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat eine innerstaatliche Fluchtalternative offen. Selbst ohne Änderung der subjektiven Lage wäre dem BF der subsidiäre Schutz gem. § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG entzogen worden, zumal dieser mehrmals straffällig geworden sei und er seinen Lebensunterhalt und seine Drogensucht aus dem gewerbsmäßigen Verkauf von Drogen finanziere.

Zum Einreiseverbot hielt die belangte Behörde fest, der BF aufgrund seiner Straftaten eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit dar. Weiters lasse die Schwere des Fehlverhaltens – u.a. gewebsmäßiger Verkauf von Drogen – deutlich erkennen, dass der BF nicht gewillt sei, die Rechtsvorschriften in erforderlicher Weise zu beachten und sich den Gesetzen in Österreich anzupassen. Eine positive Zukunftsprognose könne nicht gestellt werden. Es sei daher davon auszugehen, dass der BF eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. Die Gesamtbeurteilung des Verhaltens des BF, seiner Lebensumstände sowie seiner familiären und privaten Anknüpfungspunkte habe im Zuge der von der Behörde vorgenommenen Abwägungsentscheidung ergeben, dass die Erlassung eines Einreiseverbotes in der Dauer von sieben Jahren gerechtfertigt und notwendig sei.

12. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 30.01.2019 wurde dem BF gem. § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 30.01.2019 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.

13.Mit Schreiben vom 26.02.2019 erhob der BF durch seine Rechtsvertretung fristgerecht vollumfängliche Beschwerde gegen den spruchgegenständlichen Bescheid wegen mangelhaftem Ermittlungsverfahren und in Folge dessen mangelhafter Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Insbesondere wurde festgehalten, dass sich weder die Sicherheitslage in Afghanistan noch die persönlichen Umstände des BF so verändert haben, dass man den subsidiären Schutz aberkennen hätte dürfen. Aufgrund seiner guten Deutschkenntnisse und des vierjährigen Aufenthalts in Österreich sei der Ausspruch der Rückkehrentscheidung unzulässig gewesen. Die für das Einreiseverbot notwendige Gefährdungsprognose würde qualifizierten Begründungsmängeln unterliegen und die Dauer des Einreiseverbotes sei ebenfalls zu hoch bemessen worden.

14. Die Beschwerde und der dazugehörige Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht durch die belangte Behörde zur Entscheidung vorgelegt.

15. Mit Urteil des XXXX vom XXXX wurde der BF zur Zahl XXXX wegen des Vergehens nach § 27 Abs. 1 Z 1 8.Fall und Abs. 3 SMG und des Vergehens nach § 27 Abs. 1 Z 1 1. und 2Fall und Abs. 2 SMG, unter Anwendung von § 28 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt. Ebenso wurde die gewährte bedingte Strafnachsicht des Urteils vom XXXX widerrufen. Vom Widerruf der bedingten Strafnachsicht des Urteils vom XXXX wurde abgesehen.

16. Am 10.03.2020 fand eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit des BF, der Rechtsvertretung des BF sowie einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt. Das BFA als belangte Behörde verzichtete auf eine Teilnahme an der Verhandlung.

Nach der ausführlichen Erörterung der Sach- und Rechtslage legte der BF ein Konvolut an Unterlagen vor. Diese beinhalteten, dass der BF eine Substitutionstherapie mache und zahlreiche Bestätigungen über seine diesbezügliche Behandlung. Ebenso verlesen wurden das letzte Strafurteil, eine Verständigung vom Rücktritt der Strafverfolgung der StA XXXX wegen des Verdachts eines Suchtmitteldelikts sowie das Erkenntnis des BVwG bezüglich der Abweisung der Beschwerde des BF gem. § 3 AsylG. Der BF vermeinte, dass es ihm bei der Einvernahme vordem BFA nicht gut gegangen sei und sich zahlreiche Fehler im Protokoll der Niederschrift befinden würden. Da der BF angab, dass er die Dolmetscherin nicht gut verstehe und die anwesende Freundin, derer Einvernahme mit Schreiben vom 11.03.2020 auch seitens der rechtsfreundlichen Vertretung des BF beantragt wurde, auch auf Farsi einvernommen werden müsse, wurde die Verhandlung auf unbestimmte Zeit vertagt.

17. Mit Schreiben vom 25.05.2020 erging eine Verständigung vom Rücktritt der Strafverfolgung der StA XXXX wegen des Verdachts eines Suchtmitteldelikts.

18. Am 17.07.2020 fand eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit des BF, der Rechtsvertretung des BF und einer Zeugin sowie eines Dolmetschers für die Sprache Farsi statt. Das BFA als belangte Behörde verzichtete auf eine Teilnahme an der Verhandlung.

Nach der ausführlichen Erörterung der Sach- und Rechtslage, auch unter Einbeziehung von COVID-19, legte der BF ein Konvolut an Unterlagen vor. Dieses beinhalteten einen Sozialbericht und einen Vorbetreuungsbericht bezüglich seiner Substitutionstherapie. Danach wurde die Freundin des BF als Zeugin einvernommen. Sie gab an, dass sie ihn in XXXX vor etwa drei Jahren kennengelernt habe. Sie würden sich täglich sehen, jedoch keinen gemeinsamen Haushalt haben. Sie habe in Österreich keine Familienangehörigen und lebe von der Sozialhilfe. Sie arbeite nicht, weil sie nicht gut Deutsch spreche. Sie hätten auch eine sexuelle Beziehung und würden sich in ihren Lebenslagen gegenseitig unterstützen. Durch die Liebe habe sich auch der Gesundheitszustand des BF verbessert. Sie würden eine gemeinsame Zukunft planen und hoffen, dass sie diese Möglichkeiten auch nutzen können, die sie im Iran nicht gehabt hätten, wenn sie die Probleme hinter sich gebracht hätten.

Danach wurde der BF befragt. Dieser gab an, im Iran geboren worden zu sein. Er sei dort auch aufgewachsen und niemals in Afghanistan gewesen. Seine in Afghanistan lebende Schwester sei wieder in den Iran gezogen und zu dem in Afghanistan lebenden Onkel bestehe nach wie vor kein Kontakt und er wisse nicht, wo dieser leben würde. In Afghanistan habe er niemanden, der ihn beim Aufbau einer Existenz unterstützen würde. Seine im Iran lebende Familie sei arm und könne ihm auch nicht helfen. Er befinde sich einer Substitutionstherapie und könne derzeit ohne Einnahme von Medikamenten den Alltag nicht bestreiten. Falls er diese Medikamente im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan dort erhalten würde, dann könne er sie sich nicht leisten. Aufgrund seiner Drogensucht und der mangelnden Kenntnisse einer in Afghanistan gesprochenen Sprache würde er dort nur schwer eine Arbeit finden.

Danach führte die rechtsfreundliche Vertretung des BF noch an, dass bezüglich der Verhältnisse in Afghanistan seit der Gewährung des subsidiären Schutzes des BF keine Änderungen eingetreten wären. Aufgrund seiner persönlichen Eigenschaften handle es sich beim BF um einen Mann, der einer vulnerablen Personengruppe zugerechnet werden müsse, weil er noch nie in Afghanistan gewesen wäre, er keine ausreichenden Sprachkenntnisse habe und ihm in Afghanistan kein ausreichend tragfähiges soziales Netzwerk zur Verfügung stehen würde. Ebenso müsse beim ihm die Lage wegen COVID-19 und seine Substitutionstherapie einbezogen werden.

Danach folgte der Schluss der Verhandlung. Die Verkündung der Entscheidung entfiel gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG.

19. Mit Stellungnahme vom 13.08.2020 führte die Rechtsvertretung des BF aus, dass sich an den für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes maßgeblichen Gründen, entgegen der Einschätzung des BFA, nichts geändert habe. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei dem BF nach wie vor nicht zumutbar, weil er außerhalb Afghanistans geboren worden sei und er dort auch auf kein soziales Netz zurückgreifen könne. Durch seine Suchtkrankheit weise er ein weiteres Vulnerabilitätsmerkmal auf. Neben dieser Stigmatisierung, könne er im Falle einer Rückkehr auch seine Substitutionstherapie nicht mehr fortsetzen. Er gehöre daher einer Risikogruppe an, die in Falle einer Rückkehr Gefahr liefe, einer Verletzung von Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein. Die aktuelle Situation um COVID-19 würde die Situation de BF im Falle einer Rückkehr zusätzlich erschweren, sodass es für ihn Als Rückkehr nur schwer möglich wäre, eine Unterkunft und Arbeit zu finden, zumal er in Afghanistan kein soziales Netz vorfinden würde. Zur Situation der Situation der Rückkehrer werde die Einholung eines Gutachtens von Dr. Friederike Strahlmann beantragt. Durch seine Integration In Österreich würde die Rückkehrentscheidung einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die nach Art. 8 EMRK dem BF gewährten Rechte darstellen. Bezüglich des Einreiseverbotes wurde festgehalten, dass der BF keine Gefahr der öffentlichen Sicherheit darstellen würde, zumal dieser keine besonders qualifizierten strafrechtlichen Verstöße im Sinne der höchstgerichtlichen Judikatur aufzuweisen habe. Ebenso hätte für den BF eine positive Zukunftsprognose getroffen werden müssen.

20. Der BF legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

•        Beschluss eines Landesgerichtes für Strafsachen bezüglich des Strafaufschubes unter
der Bedingung einer stationären Behandlung

•        Abhängigkeitsbericht des BF der Suchthilfe XXXX

•        Bestätigung über die Absolvierung des Basis-Bildungskurses 2

•        Bestätigung der Durchführung einer Substitutionstherapie

•        Substitutionsverschreibung

•        Vorbetreuungsbericht

•        Sozialbericht

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl und den Verfahrensakt des Bundesverwaltungsgerichts betreffend den Beschwerdeführer, insbesondere durch Einsicht in die vorgelegten Dokumente und Integrationsunterlagen, sowie durch Einsichtnahme in die ins Verfahren eingeführten Länderberichte.

1. Feststellungen

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers

Der BF trägt den im Spruch angeführten Namen, ist im Entscheidungszeitpunkt volljährig und Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan. Er gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Muttersprache ist Farsi. Weiters beherrscht er bereits gut Deutsch. Der BF ist ledig und kinderlos.

Der BF wurde im Iran geboren. Die Heimatprovinz seiner Familie ist die Provinz Bamyan. Seine Familienangehörigen, bestehend aus seinen Eltern, seinem Bruder und zwei Schwestern, leben allesamt im Iran. Ein Onkel des BF würde sich noch in Afghanistan aufhalten. Zu diesem besteht allerdings kein Kontakt. Der BF war noch nie in Afghanistan und besitzt dort weder Ortskenntnis noch ein tragfähiges soziales Netzwerk.

Der BF ging im Iran sechs Jahre lang in eine Schule und sammelte Arbeitserfahrung als Bauarbeiter. Er habe den Iran verlassen, weil sein Vater vermeinte, dass man in Europa schneller einen Aufenthaltstitel bekommen würde. Der BF machte sich sohin auf den Weg nach Griechenland, wo er erkennungsdienstlich behandelt wurde, ehe er seine Reise nach Österreich fortsetzte.

Dass die Kernfamilie oder sonstige weitschichtige Verwandte des BF in der Lage wären, diesen im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan vom Iran aus finanziell zu unterstützen, konnte nicht festgestellt werden. In Afghanistan lebt mit seinem Onkel nur ein entfernter Verwandter, zu dem der BF jedoch keinen Kontakt hat. Es ist nicht bekannt, wo sich dieser Verwandte aufhält. Der BF verfügt über kein soziales Netzwerk in Afghanistan.

1.2 Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich

Der BF gelangte im Juli 2015 in das österreichische Bundesgebiet und stellte am 04.07.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Seither hält er sich seither durchgehend im Bundesgebiet auf.

Mit Bescheid des BFA vom 04.05.2016 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asyl-berechtigten (Spruchpunkt I.) abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 04.05.2017 erteilt (Spruchpunkt III.). Tragende Gründe für die Gewährung des subsidiären Schutzes waren, dass der BF im Iran geboren wurde und er noch nie in Afghanistan gewesen sei. Er verfüge daher weder über Ortskenntnisse in seinem Herkunftsstaat noch über ein tragfähiges soziales Netzwerk, weshalb im Falle einer Rückkehr der BF einer ernsthaften Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt aufgrund der derzeitigen Sicherheitslage in Afghanistan ausgesetzt wäre.

Mit Erkenntnis des BvWG vom 05.07.2016, XXXX wurde die Beschwerde bezüglich § 3 Abs.1 AsylG als unbegründet abgewiesen.

Mit Bescheid vom 23.06.2017, XXXX , verlängert die belangte Behörde die befristete Aufenthaltsberechtigung des BF gemäß § 8 Abs 4 AsylG 2005 bis zum 23.06.2019.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom 24.05.2017 wurde der BF als junger Erwachsener zur Zahl XXXX wegen der Vergehen nach §§ 83, 84 Abs. 2, 1.Fall StGB § 15 StGB, § 15 StGB § 83 StGB und § 15 § 269 Abs. 1 1.Fall StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten, unter der Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt, verurteilt.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom 13.12.2016 wurde der BF zur Zahl XXXX wegen des Vergehens nach §§ 27 Abs. 2a 2.Fall und Abs. 3 SMG, § 15 StGB unter Anwendung von § 28 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten, acht davon unter der Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt, verurteilt.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom 02.08.2019 wurde der BF zur Zahl XXXX wegen des Vergehens nach § 27 Abs. 1 Z 1 8.Fall und Abs. 3 SMG und des Vergehens nach § 27 Abs. 1 Z 1 1. und 2Fall und Abs. 2 SMG, unter Anwendung von § 28 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt. Ebenso wurde die gewährte bedingte Strafnachsicht des Urteils vom 13.12.2018 widerrufen. Vom Widerruf der bedingten Strafnachsicht des Urteils vom 24.05.2017 wurde abgesehen.

Der inzwischen bereits seit über Jahren in Österreich aufhältige BF hat seit seiner Einreise an Deutschkursen teilgenommen, jedoch keine Prüfung zu seinen Deutschkenntnissen abgelegt. Er ist keiner Beschäftigung nachgegangen, war nicht erwerbstätig und war von Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung abhängig. Der BF hat soziale Kontakte in Österreich – auch zu österreichischen Staatsbürgern – geknüpft. Er ist kein Mitglied in einem Verein.

In Österreich leben keine Verwandten oder sonstige wichtige Bezugspersonen des BF. Es besteht weder eine Lebensgemeinschaft des BF iSd Art. 8 EMRK in Österreich noch gibt es in Österreich geborene Kinder des BF. Es wird nicht verkannt, dass der BF hier eine Freundin aus seinem Kulturkreis hat, mit der viel Zeit verbringt, jedoch ist diese Beziehung mangels gemeinsamen Wohnsitzes keiner familienähnlichen Lebensgemeinschaft gleichzusetzen.

Der BF befand sich von 29.06.2019 bis 05.12.2019 in Haft. Das voraussichtlich errechnete Haftende war mit 28.01.2021 berechnet. Dem BF wurde mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom XXXX zur Zahl XXXX gemäß § 39 Abs. 1 SMG Strafaufschub bis 02.08.2021 gewährt. Bedingung hierfür sei eine sechsmonatige stationäre Behandlung gewesen, die danach ambulant fortgesetzt werde müsse.

Mit Schreiben vom 22.05.2020 teilte die StA XXXX mit, dass ein Ermittlungsverfahren gegen den BF wegen § 27 Abs. 1 und 2 SMG eingestellt wurde.

Der BF befindet sich in einer Substitutionstherapie. Ansonsten sind keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorgelegen, sodass von einer arbeitsfähig ausgegangen werden kann.

1.3 Zur Änderung der Umstände seit der Gewährung von subsidiärem Schutz

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 31.01.2019 wurde dem BF der ihm mit Bescheid vom 04.05.2016 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs 1 Z 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und ihm die mit Bescheid vom 23.06.2017, Zl. XXXX , erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs 4 AsylG entzogen (Spruchpunk II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen den BF wurde gemäß § 10 Abs 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 FPG wurde gegen den BF ein auf die Dauer von sieben Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Seit dem Bescheid des BFA vom 04.05.2016, Zahl: XXXX , mit welchem dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, ist es weder zu einer nachhaltigen maßgeblichen Änderung seiner subjektiven bzw. persönlichen Situation noch zu einer Verbesserung der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan gekommen. Die Umstände, die zur Gewährung des subsidiären Schutzes mit Bescheid des BFA vom 04.05.2016, Zahl: XXXX , geführt haben, haben sich seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten insgesamt nicht wesentlich und nachhaltig verändert bzw. verbessert.

1.4 Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019 (in der aktuellen Fassung vom 29.06.2020, bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

Stand 29.6.2020

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

Berichten zufolge, haben sich mehr als 30.000 Menschen in Afghanistan mit COVID-19 angesteckt (WP 25.5.2020; vgl. JHU 26.6.2020), mehr als 670 sind daran gestorben. Dem Gesundheitsministerium zufolge, liegen die tatsächlichen Zahlen viel höher; auch bestünde dem Ministerium zufolge die Möglichkeit, dass in den kommenden Monaten landesweit bis zu 26 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert werden könnten, womit die Zahl der Todesopfer 100.000 übersteigen könnte. Die COVID-19 Testraten sind extrem niedrig in Afghanistan: weniger als 0,2% der Bevölkerung – rund 64.900 Menschen von geschätzten 37,6 Millionen Einwohnern – wurden bis jetzt auf COVID-19 getestet (WP 25.6.2020).

In vier der 34 Provinzen Afghanistans – Nangahar, Ghazni, Logar und Kunduz – hat sich unter den Sicherheitskräften COVID-19 ausgebreitet. In manchen Einheiten wird eine Infektionsrate von 60-90% vermutet. Dadurch steht weniger Personal bei Operationen und/oder zur Aufnahme des Dienstes auf Außenposten zur Verfügung (WP 25.6.2020).

In Afghanistan sind landesweit derzeit Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste eingeschränkt. In den größeren Städten wie z.B. Kabul, Kandahar, Mazar-e Sharif, Jalalabad, Parwan usw. wird auf diese Maßnahmen stärker geachtet und dementsprechend kontrolliert. Verboten sind zudem auch Großveranstaltungen – Regierungsveranstaltungen, Hochzeitsfeiern, Sportveranstaltungen – bei denen mehr als zehn Personen zusammenkommen würden (RA KBL 19.6.2020). In der Öffentlichkeit ist die Bevölkerung verpflichtet einen Nasen-Mund-Schutz zu tragen (AJ 8.6.2020).

Wirksame Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung von COVID-19 scheinen derzeit auf keiner Ebene möglich zu sein: der afghanischen Regierung zufolge, lebt 52% der Bevölkerung in Armut, während 45% in Ernährungsunsicherheit lebt (AF 24.6.2020). Dem Lockdown folge zu leisten, "social distancing" zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (AJ 8.6.2020).

Gesellschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19 Auswirkungen

In Kabul, hat sich aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt, welches später in anderen Provinzen repliziert wurde. Eine afghanische Tageszeitung rief Hausbesitzer dazu auf, jenen ihrer Mieter/innen, die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer folgten dem Aufruf (AF 24.6.2020).

Bei der Spendenaktion „Kocha Ba Kocha“ kamen junge Freiwillige zusammen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall startete eine Privatbank eine Spendenkampagne, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt wurden. Außerdem initiierte die afghanische Regierung das sogenannte „kostenlose Brot“-Programm; bei dem bedürftige Familien – ausgewählt durch Gemeindeälteste – rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden (AF 24.6.2020). In dem mehrphasigen Projekt, erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück des traditionellen Brots, von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes (TN 15.6.2020). Die Regierung kündigte kürzlich an, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern (AF 24.6.2020; vgl. TN 15.6.2020). Beispielsweise beklagten sich bedürftige Familien in der Provinz Jawzjan über Korruption im Rahmen dieses Projektes (TN 20.5.2020).

Weitere Maßnahmen der afghanischen Regierung

Schulen und Universitäten sind nach aktuellem Stand bis September 2020 geschlossen (AJ 8.6.2020; vgl. RA KBL 19.6.2020). Über Fernlernprogramme, via Internet, Radio und Fernsehen soll der traditionelle Unterricht im Klassenzimmer vorerst weiterhin ersetzen werden (AJ 8.6.2020). Fernlehre funktioniert jedoch nur bei wenigen Studierenden. Zum einen können sich viele Familien weder Internet noch die dafür benötigten Geräte leisten und zum Anderem schränkt eine hohe Analphabetenzahl unter den Eltern in Afghanistan diese dabei ein, ihren Kindern beim Lernen behilflich sein zu können (HRW 18.6.2020).

Die großen Reisebeschränkungen wurden mittlerweile aufgehoben; die Bevölkerung kann nun in alle Provinzen reisen (RA KBL 19.6.2020). Afghanistan hat mit 24.6.2020 den internationalen Flugverkehr mit einem Turkish Airlines-Flug von Kabul nach Istanbul wieder aufgenommen; wobei der Flugplan aufgrund von Restriktionen auf vier Flüge pro Woche beschränkt wird (AnA 24.6.2020). Emirates, eine staatliche Fluglinie der Vereinigten Arabischen Emirate, hat mit 25.6.2020 Flüge zwischen Afghanistan und Dubai wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020; vgl. GN 9.6.2020). Zwei afghanische Fluggesellschaften Ariana Airlines und der lokale private Betreiber Kam Air haben ebenso Flüge ins Ausland wieder aufgenommen (AnA 24.6.2020). Bei Reisen mit dem Flugzeug sind grundlegende COVID-19-Schutzmaßnahmen erforderlich (RA KBL 19.6.2020). Wird hingegen die Reise mit dem Auto angetreten, so sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse. Grundlegende Schutzmaßnahmen nach COVID-19 werden von der Regierung zwar empfohlen – manchmal werden diese nicht vollständig umgesetzt (RA KBL 19.6.2020).

Seit 1.1.2020 beträgt die Anzahl zurückgekehrter Personen aus dem Iran und Pakistan: 339.742; 337.871 Personen aus dem Iran (247.082 spontane Rückkehrer/innen und 90.789 wurden abgeschoben) und 1.871 Personen aus Pakistan (1.805 spontane Rückkehrer/innen und 66 Personen wurden abgeschoben) (UNHCR 20.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus Pakistan

Die Grenze zu Pakistan war fast drei Monate lang aufgrund der COVID-19-Pandemie gesperrt. Mit 22.6.2020 erhielt Pakistan an drei Grenzübergängen erste Exporte aus Afghanistan: frisches Obst und Gemüse wurde über die Grenzübergänge Torkham, Chaman und Ghulam Khan nach Pakistan exportiert. Im Hinblick auf COVID-19 wurden Standardarbeitsanweisungen (SOPs – standard operating procedures) für den grenzüberschreitenden Handel angewandt (XI 23.6.2020). Der bilaterale Handel soll an sechs Tagen der Woche betrieben werden, während an Samstagen diese Grenzübergänge für Fußgänger reserviert sind (XI 23.6.2020; vgl. UNHCR 20.6.2020); in der Praxis wurde der Fußgängerverkehr jedoch häufiger zugelassen (UNHCR 20.6.2020).

Pakistanischen Behörden zufolge waren die zwei Grenzübergänge Torkham und Chaman auf Ansuchen Afghanistans und aus humanitären Gründen bereits früher für den Transithandel sowie Exporte nach Afghanistan geöffnet worden (XI 23.6.2020).

Situation in der Grenzregion und Rückkehr aus dem Iran

Die Anzahl aus dem Iran abgeschobener Afghanen ist im Vergleich zum Monat Mai stark gestiegen. Berichten zufolge haben die Lockerungen der Mobilitätsmaßnahmen dazu geführt, dass viele Afghanen mithilfe von Schmugglern in den Iran ausreisen. UNHCR zufolge, gaben Interviewpartner/innen an, kürzlich in den Iran eingereist zu sein, aber von der Polizei verhaftet und sofort nach Afghanistan abgeschoben worden zu sein (UNHCR 20.6.2020).

Stand: 18.5.2020

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an CO-VID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Län-der tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

•        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

•        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

0.       Vergleichende Länderkundliche Analyse (VLA) i.S. §3 Abs 4a AsylG

Erläuterung

Bei der Erstellung des vorliegenden LIB wurde die im §3 Abs 4a AsylG festgeschriebene Aufgabe der Staatendokumentation zur Analyse „wesentlicher, dauerhafter Veränderungen der spezifischen, insbesondere politischen Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind“, berücksichtigt. Hierbei wurden die im vorliegenden LIB verwendeten Informationen mit jenen im vorhergehenden LIB abgeglichen und auf relevante, im o.g. Gesetz definierte Verbesserungen hin untersucht.

Als den oben definierten Spezifikationen genügend eingeschätzte Verbesserungen wurden einer durch Qualitätssicherung abgesicherten Methode zur Feststellung eines tatsächlichen Vorliegens einer maßgeblichen Verbesserung zugeführt (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt II). Wurde hernach ein tatsächliches Vorliegen einer Verbesserung i.S. des Gesetzes festgestellt, erfolgte zusätzlich die Erstellung einer entsprechenden Analyse der Staatendokumentation (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt IV) zur betroffenen Thematik.

Verbesserung i.S. §3 Abs 4a AsylG:

Ein Vergleich der Informationen zu asylrelevanten Themengebieten im vorliegenden LIB mit jenen des vormals aktuellen LIB hat ergeben, dass es zu keinem wie im §3 Abs 4a AsylG beschriebenen Verbesserungen in Afghanistan gekommen ist.

1.4.1. Politische Lage

Letzte Änderung: 18.5.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.5.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Die ursprünglich für den 20. April 2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020; UNGASC 17.3.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, ist keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Die Präsidentenwahl hatte am 28. September stattgefunden. Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden. Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020).

Wochenlang stritten der amtierende Präsident Ashraf Ghani und sein ehemaliger Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah um die Macht in Kabul und darum wer die Präsidentschaftswahl im vergangenen September gewonnen hatte. Abdullah Abdullah beschuldigte die Wahlbehörden, Ghani begünstigt zu haben, und anerkannte das Resultat nicht (NZZ 20.4.2020). Am 9.3.2020 ließen sich sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Nach monatelanger politischer Krise (DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020), einigten sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah auf eine Machtteilung: Abdullah wird die Friedensgespräche mit den Taliban leiten und Mitglieder seines Wahlkampfteams werden ins Regierungskabinett aufgenommen (DP 17.5.2020; vgl. BBC 17.5.2020; DW 17.5.2020).

Anm.: Weitere Details zur Machtteilungsvereinbarung sind zum Zeitpunkt der Aktualisierung noch nicht bekannt (Stand: 18.5.2020) und werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben (BBC 17.5.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für 5 Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.4.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.4.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.3.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 13.3.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 2.9.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21. Oktober 2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni – Parlamentswahlen statt (AA 15.4.2019; vgl. USDOS 13.3.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28. September 2019 statt (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 13.3.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.5.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.1.2004; USDOS 29.5.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 2.9.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 2.9.2019; vgl. AAN 6.5.2018, DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 2.9.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60 000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020) – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Diesem Abkommen zufolge hätten noch vor den für 10.03.2020 angesetzten inneren Friedensgesprächen, von den Taliban bis zu 1.000 Gefangene und von der Regierung 5.000 gefangene Taliban freigelassen werden sollen. Zum einen, verzögern die Unstimmigkeiten zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung über Umfang und Umsetzungstempo des Austauschs, die Gespräche (AJ 7.5.2020) [ Anm.: 800 Taliban-Gefangene entließ die afghanische Regierung, während die Taliban 100 der vereinbarten 1.000 Sicherheitskräfte frei ließen – (NPR 6.5.2020)], Andererseits stocken die Verhandlungen auch aufgrund des innerpolitischen Disputes zwischen Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die beide die Präsidentschaft für sich beanspruchten. Die Taliban haben seit dem unterzeichneten Abkommen im Februar mehr als 4.500 Angriffe verübt. Die von dieser Gewalt am stärksten betroffenen Provinzen sind auch jene Provinzen, die am stärksten von COVID-19-Fällen betroffen sind (AJ 7.5.2020). In den innerafghanischen Gesprächen wird es um die künftige Staatsordnung, eine Machtteilung und die Integration der Aufständischen gehen (NZZ 20.4.2020).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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