TE Bvwg Beschluss 2020/11/16 W261 2235954-1

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Veröffentlicht am 16.11.2020
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Entscheidungsdatum

16.11.2020

Norm

BBG §40
BBG §41
BBG §45
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch


W261 2235954-1/7E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS als Vorsitzende und die Richterin Mag. Karin RETTENHABER-LAGLER sowie den fachkundigen Laienrichter Herbert PICHLER als Beisitzerin und Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , bevollmächtigt vertreten durch XXXX , Rechtsanwalt in St. Pölten, gegen den als Bescheid geltenden Behindertenpasses vom 21.09.2020, ausgestellt vom Sozialministeriumservice, Landesstelle Niederösterreich beschlossen:

A)

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid in Form des Behindertenpasses vom 21.09.2020 behoben, und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice, Landesstelle Niederösterreich, zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin ist seit 25.03.2016 Inhaberin eines befristeten Behindertenpasses mit einem Gesamtgrad der Behinderung von 60 von Hundert (in der Folge v.H.).

Seit 03.05.2019 ist die Beschwerdeführerin Inhaberin eines Behindertenpasses mit einem Gesamtgrad der Behinderung von 60 v.H. und der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung.“

Sie ist aktuell Inhaberin eines bis zum 31.01.2021 befristeten Behindertenpasses mit einem Gesamtgrad der Behinderung von 60 v.H. und der genannten Zusatzeintragung.

Die Beschwerdeführerin stellte am 16.04.2020 einen Antrag auf Neuausstellung ihres Behindertenpasses samt Parkausweis gemäß § 29b StVO beim Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (auch Sozialministeriumservice, in der Folge belangte Behörde) und legte ein Konvolut an medizinische Befunden bei.

Die belangte Behörde holte zur Überprüfung des Antrages ein Sachverständigengutachten eines Facharztes für Orthopädie vom 11.09.2020 auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 10.09.2020 ein. Der medizinische Sachverständige stellte in seinem Gutachten fest, dass die Beschwerdeführerin an einer „entzündlichen und/oder rheumatoiden Systemerkrankung mit funktionellen Auswirkungen fortgeschrittenen Grades, Knietotalendoprothese rechts, Arthritis rechtes Handgelenk“ und einer „depressiven Störung leichten Grades“ mit einem Gesamtgrad der Behinderung von 50 v.H. leide.

Die belangte Behörde übermittelte der Beschwerdeführerin dieses Sachverständigengutachten mit Schreiben vom 16.09.2020 und informierte diese, dass nach dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens ein Grad der Behinderung von 50 % festgestellt werde.

Es würden die Voraussetzungen für folgende Zusatzeintragungen vorliegen:

?        „Der Inhaber/die Inhaberin kann die Fahrpreisermäßigung nach dem Bundesbehindertengesetz in Anspruch nehmen.“

?        „Der Inhaber/die Inhaberin des Passes ist TrägerIn einer Prothese“

?        „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“.

Die belangte Behörde teilte auch mit, dass aufgrund des Umstandes, dass die Beschwerdeführerin einen Behindertenpass besitze, die neue Scheckkarte ab 01.02.2021 gültig sei. Der auszustellende Behindertenpass werde mit 30.09.2021 befristet, weil nach diesem Zeitpunkt eine Überprüfung des Gesundheitszustandes der Beschwerdeführerin erforderlich sei.

Mit Schreiben vom 21.09.2020 übermittelte die belangte Behörde den als Bescheid geltenden Behindertenpass mit den genannten Zusatzeintragungen an die Beschwerdeführerin bzw. deren anwaltlichen Vertreter und erteilte eine Rechtsmittelbelehrung.

Die Beschwerdeführerin erhob gegen den als Bescheid geltenden Behindertenpass rechtzeitig mit Eingabe vom 01.10.2020 das Rechtsmittel der Beschwerde. Demnach sei das dieser Entscheidung zugrundeliegende Sachverständigengutachten nicht nachvollziehbar. Es sei bei Leiden 1 im Vergleich zum Vorgutachten laut Untersuchung vom 30.01.2018 eine wesentliche Verschlechterung des Leidens eingetreten. Es sei für die Beschwerdeführerin nicht nachvollziehbar, weswegen der Sachverständige zum Ergebnis gekommen sei, dass bei Leiden 2, der depressiven Störung, eine Verbesserung eingetreten sei. Zudem sei der von der belangten Behörde beigezogene Sachverständige aus dem Fachbereich der Orthopädie wohl nicht geeignet, eine entsprechende Beurteilung eines psychischen Leidens vorzunehmen. Auch die Behandlung des Leidens 2 sei seit der Begutachtung vom 30.01.2018 gleichgeblieben.

Das ursprüngliche Leiden 3 „Wirbelsäule – Funktionseinschränkungen mittleren Grades“ sei vollkommen ignoriert worden, es würden weiterhin Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule bestehen, welche auf eine degenerative Veränderung zurückzuführen seien.

Es sei daher bedauerlicherweise erforderlich gewesen, eine Beschwerde zu erheben.

Die belangte Behörde legte den Aktenvorgang dem Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 12.10.2020 vor, wo dieser am selben Tag einlangte.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 13.10.2020 eine Abfrage im Zentralen Melderegister durch, wonach die Beschwerdeführerin österreichische Staatsbürgerin ist, und ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland hat.

Die belangte Behörde legte mit Eingabe vom 09.11.2020 ergänzend Unterlagen, welche die Beschwerdeführerin bei der belangten Behörde vorgelegt hatte, im Rahmen des Beschwerdeverfahrens vor. Dabei handelt es sich um einen als Beschwerde bezeichneten Schriftsatz der Beschwerdeführerin, welche diese durch ihren ausgewiesenen Vertreter, Herrn RA XXXX , einbrachte. Darin verwies die Beschwerdeführerin darauf, dass das schriftlich erstattete Gutachten nicht im Rahmen einer mündlichen Verhandlung erörtert worden sei. Die Beschwerdeführerin habe keinerlei Möglichkeit gehabt, sich zu diesem Sachverständigengutachten zu äußern, weil ihr dieses erstmals mit Behindertenpass übermittelt worden sei. Dadurch sei sie in ihrem Recht auf Wahrung des Parteiengehörs verletzt worden, was einen Nichtigkeitsgrund darstelle. Das Gutachten weiche in wesentlichen Punkten von den vorgelegten Unterlagen ab und sei nicht schlüssig und nachvollziehbar. Die Einstufung der beiden Leiden sei nicht richtig erfolgt, insbesondere werde bemängelt, dass sich das psychische Leiden der Beschwerdeführerin nicht verbessert habe, wie dies der Sachverständige aus dem Fachbereich der Orthopädie angenommen habe. Es liege bei der Beschwerdeführerin ein Gesamtgrad der Behinderung von zumindest 70 % vor. Die Beschwerdeführerin beantragte, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen und durchzuführen und in Stattgebung dieser Beschwerde den Inhalt des Behindertenpasses dahingehend abzuändern, dass ein Grad der Behinderung von mindestens 70 % festgestellt werde, in eventu, in Stattgebung dieser Beschwerde den Inhalt des Behindertenpasses dahingehend abzuändern, dass ein Grad der Behinderung von mindestens 60 % festgestellt werde, in eventu, In Stattgebung dieser Beschwerde den Behindertenpass aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Durchführung eines medizinischen Ermittlungsverfahrens und Entscheidung an die belangte Behörde zurückzuverweisen. Die Beschwerdeführerin schloss diesem Schriftsatz eine Reihe weiterer, aktueller medizinischer Befunde an.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zu A)

Gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (in der Folge VwGVG) hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden,

1.       wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2.       die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat das Verwaltungsgericht gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, allerdings mit dem Unterschied, dass die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 28 Abs. 3 VwGVG nicht erforderlich ist. Voraussetzung für eine Aufhebung und Zurückverweisung ist allgemein (nur) das Fehlen behördlicher Ermittlungsschritte. Sonstige Mängel, abseits jener der Sachverhaltsfeststellung, legitimieren nicht zur Behebung auf Grundlage von § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren (2013), § 28 VwGVG, Anm. 11.).

§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat.

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Auslegung des § 28 Abs. 3 2. Satz ausgeführt hat, ist vom prinzipiellen Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auszugehen. Nach der Bestimmung des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG kommt bereits nach ihrem Wortlaut die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungsgericht nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht (vgl. auch Art. 130 Abs. 4 Z 1 B-VG). Dies wird jedenfalls dann der Fall sein, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.

Ist die Voraussetzung des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG erfüllt, hat das Verwaltungsgericht (sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist) "in der Sache selbst" zu entscheiden.

Das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, verlangt, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird.

Wie der Verwaltungsgerichtshof im oben angeführten Erkenntnis ausgeführt hat, wird eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl. Holoubek, Kognitionsbefugnis, Beschwerdelegitimation und Beschwerdegegenstand, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, erster Instanz, 2013, Seite 127, Seite 137; siehe schon Merli, Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz, in Holoubek/Lang (Hrsg), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008, Seite 65, Seite 73 f).

Der angefochtene Bescheid erweist sich in Bezug auf den zu ermittelnden Sachverhalt aus folgenden Gründen als grob mangelhaft:

Das der Entscheidung der belangten Behörde zugrundeliegende medizinische Sachverständigengutachten ist aus mehreren Gründen nicht in sich nicht schlüssig und nachvollziehbar.

Die Beschwerdeführerin verwies auf die bisher im Akt aufliegenden Befunde, teilte mit, dass sich die Beschwerdeführerin vom November 2018 bis Juli 2019 wegen eines zerstörten Kniegelenks bettlägerig gewesen sei und Anfang Juli 2019 eine Knietotalendoprothese rechts im KH XXXX erhalten habe. Gleichzeitig legte die Beschwerdeführerin gemeinsam mit ihrem Antrag auf Neuausstellung des Behindertenpasses folgende (neue) medizinischen Befunde vor:

?        Patientenbrief Orthopädisches Spital XXXX vom 06.07.2019

?        Röntgenbefund rechtes Kniegelenk Röntgen XXXX , Gruppenpraxis für Radiologie OG, vom 11.09.2019

?        Befundbericht Dr. XXXX , Facharzt für Orthopädie & orthopädische Chirurgie vom 13.09.2019

?        Ärztlicher Befundbericht Dr. XXXX , Fachärztin für Innere Medizin und Rheumatologie vom 27.02.2020

?        Röntgenbefund rechtes Kniegelenk Röntgen XXXX , Gruppenpraxis für Radiologie OG, vom 17.03.2020

Von der belangen Behörde wurde das ärztliche Gutachten der XXXX zum Antrag auf Zuerkennung des Pflegegeldes vom 26.03.2019 dem Beschwerdeakt angeschlossen.

Der medizinische Sachverständige, ein Facharzt für Orthopädie, stellte bei der Beschwerdeführerin im verfahrensgegenständlichen medizinischen Sachverständigengutachten vom 11.09.2020 unter Leiden 1 eine entzündliche und/oder rheumatoide Systemerkrankung mit funktionellen Auswirkungen fortgeschrittenen Grades, eine Knietotalendoprothese rechts, eine Arthritis im rechten Handgelenk fest und stufte dieses Leiden nach Position 02.02.03 der Einschätzungsverordnung mit einem Grad der Behinderung von 50 % ein.

Es handelt sich dabei laut der Einschätzungsverordnung um eine generalisierte Erkrankung des Bewegungsapparates, wobei die resultierende Gesamtfunktionseinschränkung bei entzündlich rheumatischen Systemerkrankungen, degenerativen rheumatischen Erkrankungen und systemischen Erkrankungen der Muskulatur einzuschätzen sind. Bei einem Grad der Behinderung von 50 % haben nach Position 02.02.03 der Einschätzungsverordnung dauernd erhebliche Funktionseinschränkungen mit therapeutisch schwer beeinflussbarer Krankheitsaktivität und der Notwendigkeit einer über mindestens sechs Monate andauernden Therapie vorzuliegen.

Es ist der Beschwerdeführerin zu folgen, wenn diese angibt, dass nicht nachvollziehbar ist, weswegen das ursprünglich im Sachverständigengutachten vom 30.01.2018 eingestuft gewesene Leiden 3, Wirbelsäule – Funktionseinschränkung mittleren Grades, Position 02.01.02, Grad der Behinderung 30 % nach der Einschätzungsverordnung nunmehr unter Leiden 1 subsumiert sein soll. Einerseits findet sich bei der Beschreibung des Leidens 1 kein Hinweis auf Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule. Andererseits handelt es sich beim Leiden 1 der Beschwerdeführerin um eine rheumatische Erkrankung, während die Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule der Beschwerdeführerin zumindest laut dem im Akt aufliegenden Sachverständigengutachten vom 30.01.2018, welches von einem Arzt für Allgemeinmedizin im Auftrag der belangten Behörde erstellt worden war, auf radiologische Degenerationen zurückzuführen sind. Es wäre Aufgabe der belangten Behörde gewesen, diese nicht nachvollziehbaren Ausführungen im medizinischen Sachverständigengutachten vom 11.09.2020 zu hinterfragen.

Die Beschwerdeführerin leidet nach den im Beschwerdeakt aufliegenden medizinischen Sachverständigengutachten unter anderem auch an psychischen/psychiatrischen Leiden.

Der medizinische Sachverständige, ein Facharzt für Orthopädie, stufte dieses Leiden, welches im verfahrensgegenständlichen Sachverständigengutachten vom 11.09.2020 als Leiden Nummer 2 mit „Depressive Störung leichten Grades“ geführt wird, nach Position 03.06.01 mit einem Grad der Behinderung von 20 % ein.

Im Vorgutachten vom 30.01.2018, welches von einem Arzt für Allgemeinmedizin auf Grundlage einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 30.01.2018 erstellt wurde, schätze dieser das Leiden 2 „depressive Störung leichten Grades“ ebenfalls nach Position 03.06.01 der Einschätzungsverordnung mit einem Grad der Behinderung von 30 % ein. In diesem Gutachten findet sich unter dem Punkt „Behandlungen/Medikamente/Hilfsmittel“ ein Hinweis auf Psycho- und Ergotherapie.

In dem der verfahrensgegenständlichen Ausstellung des Behindertenpasses zugrundeliegenden Sachverständigengutachten vom 11.09.2020 begründet der medizinische Sachverständige die Herabstufung des Leidens 2 von ursprünglich 30 % auf 20% damit, dass eine Verbesserung eingetreten sei. Aus diesem Gutachten finden sich jedoch keine Angaben auf das Vorliegen von Befunden oder Medikamenten, welche auf ein aktuelles psychisches Leiden der Beschwerdeführerin hinweisen würden.

Einen Anhaltspunkt für das Vorliegen dieses Leidens 2 gibt, neben dem vorzitierten Sachverständigengutachten vom 30.01.2018, das im Akt aufliegende Ärztliche Gutachten der XXXX vom 22.03.2019, woraus ersichtlich ist, dass es im Jahr 2016 ein Attest vom 15.11.2016 „PSY FA Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion ggw. remittiert“ gibt, welches jedoch im gegenständlichen Beschwerdeverfahren von der belangten Behörde nicht vorgelegt wurde. Selbst wenn dieser Befund vorgelegt worden wäre, hätte er im gegenständlichen Verfahren keine Aussagekraft, weil er schon vier Jahre alt ist und damit nicht den aktuellen psychischen Zustand der Beschwerdeführerin beschreibt.

Aus dem Status dieses ärztlichen Gutachtens der XXXX vom 31.01.2019 ist zu entnehmen, dass die Bewusstseinslage der Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt der damaligen Untersuchung klar war, diese allseits orientiert war, deren planerisches und praktisches Umsetzen von Handlungen vorhanden gewesen ist, deren Antrieb normal war, der Duktus beim Denken geordnet war, das Denkziel erreicht wurde, keine Fremdinhalte gegeben waren, die sozialen Funktionen unauffällig waren, auch die emotionale Kontrolle unauffällig war und keine Demenz bei der Beschwerdeführerin vorlag. Allein aus diesem psychischen Status lassen sich auch für einen medizinischen Laien keine Anzeichen einer Depression ableiten.

Der medizinische Sachverständige führt im verfahrensgegenständlichen medizinischen Sachverständigengutachten vom 11.09.2020 beim Status Psychicus aus, dass bei der Beschwerdeführerin eine normale Vigilanz, ein regulärer Ductus und eine ausgeglichene Stimmungslage vorliegt.

Lediglich bei der Anamnese gibt die Beschwerdeführerin bei den derzeitigen Beschwerden laut dem verfahrensgegenständlichen Sachverständigengutachten vom 11.09.2020 unter anderem an: „Ich mache noch immer Gesprächstherapie, nehme Alternativmedikamente statt Antidepressiva“.

Psychiatrische oder psychotherapeutische Befunde, welche diese subjektiven Angaben der Beschwerdeführerin objektivieren und damit auch für das Bundesverwaltungsgericht nachvollziehbar machen würden, aufgrund welcher medizinischer Unterlagen der medizinische Sachverständige zur Einstufung des Leidens 2 nach der Einschätzungsverordnung gekommen ist, liegen in dem von der belangten Behörde übermittelten Beschwerdeakt nicht auf, bzw. wurden von der Beschwerdeführerin bei ihrem Antrag auf Neuausstellung des Behindertenpasses auch nicht vorgelegt. Die Beschwerdeführerin übermittelte einen derartigen Befund erstmals in diesem Verfahren mit dem als „Beschwerde“ bezeichneten Schriftsatz vom 09.11.2020.

Es ist daher für das Bundesverwaltungsgericht nicht nachvollziehbar, weswegen bzw., aufgrund welcher medizinischen Befunde der medizinische Sachverständige zum Ergebnis kam, dass die Beschwerdeführerin nach wie vor unter einer depressiven Störung leidet.

Es besteht kein Anspruch auf die Zuziehung von Sachverständigen eines bestimmten medizinischen Teilgebietes. Es kommt jedoch auf die Schlüssigkeit der eingeholten Gutachten an, welche aus den oben genannten Gründen nicht vorliegt.

In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass dieses Leiden 2, zumindest laut den dem Bundesverwaltungsgericht von der belangten Behörde vorgelegten Unterlagen und Aktenbestandteilen, noch nie von einer/m Facharzt/-ärztin für Psychiatrie beurteilt wurde, sondern von einem Arzt für Allgemeinmedizin bzw. zuletzt von einem Facharzt für Orthopädie.

Gegenständlich ist insbesondere die ausschließlich durch einen Facharzt für Orthopädie vorgenommene Beurteilung des Leidens 2 der Beschwerdeführerin, der depressiven Störung leichten Grades, angesichts deren psychiatrischen Krankheitsbildes aufgrund der derzeit vorliegenden Aktenlage offensichtlich sachwidrig erfolgt. Durch das Fehlen von entsprechenden aktuellen medizinischen Befunden, die das Bestehen einer depressiven Störung belegen könnten, wäre jedenfalls die Einholung eines Gutachtens der Fachrichtung Psychiatrie/Neurologie erforderlich gewesen, um eine vollständige und ausreichend qualifizierte Prüfung zu gewährleisten. Insbesondere hätte im Rahmen dieser Gutachtenserstellung abgeklärt werden können, ob dieses Leiden bei der Beschwerdeführerin aktuell überhaupt noch vorliegt.

Das in sich nicht schlüssige und nicht nachvollziehbare Sachverständigengutachten hätte daher von der belangten Behörde nicht ohne Ergänzung seiner Entscheidung zugrundegelegt werden dürfen. (VwGH vom 08.07.2015, Ra 2015/11/0036)

Im fortgesetzten Verfahren wird von der belangten Behörde sohin das der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegende orthopädische Sachverständigengutachten vom 11.09.2020 basierend auf einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin vom 10.09.2020 in der Form zu ergänzen sein, dass einerseits die einzelnen orthopädischen Leiden der Beschwerdeführerin schlüssig und nachvollziehbar nach der richtigen Position der Einschätzungsverordnung eingeschätzt werden.

Hinsichtlich des Leidens 2, der depressiven Störung, wird ein medizinisches Sachverständigengutachten aus dem Fachbereich der Psychiatrie/Neurologie einzuholen sein, wobei die Gutachtenserstellung auf Grundlage einer eingehenden persönlichen psychiatrischen/neurologischen Untersuchung der Beschwerdeführerin zu erfolgen haben wird.

Dabei wird auf alle psychischen/psychiatrischen Leidenszustände der Beschwerdeführerin, sofern diese aktuell noch vorliegen, in nachvollziehbarer Weise einzugehen sein, und werden diese entsprechend der Einschätzungsverordnung zu beurteilen und einzuschätzen sein. Sollten keine psychischen Leiden (mehr) feststellbar sein, so ist dies entsprechend zu begründen.

Die Zusammenfassung aller im Verfahren eingeholten Gutachten hat durch eine/n allgemeinmedizinische/n Sachverständige/n zu erfolgen. Schließlich wird im Rahmen dieses zusammenfassenden Gesamtgutachtens zu beurteilen sein, ob zwischen den einzelnen Leiden der Beschwerdeführerin eine wechselseitige Leidensbeeinflussung vorliegen kann, oder nicht.

Von den Ergebnissen des weiteren Ermittlungsverfahrens wird die Beschwerdeführerin mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme in Wahrung des Parteiengehörs in Kenntnis zu setzen sein.

Aus den dargelegten Gründen ist davon auszugehen, dass die belangte Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat, und sich der vorliegende Sachverhalt zur Beurteilung des Grades der Behinderung als so mangelhaft erweist, dass weitere Ermittlungen bzw. konkretere Sachverhaltsfeststellungen erforderlich erscheinen.

Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht kann - im Lichte der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 VwGVG - nicht im Sinne des Gesetzes liegen. Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht "im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist - angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes und angesichts der im gegenständlichen Fall unterlassenen Sachverhaltsermittlungen - nicht ersichtlich.

Im Übrigen scheint die Zurückverweisung der Rechtssache an die belangte Behörde auch vor dem Hintergrund der seit 01.07.2015 geltenden Neuerungsbeschränkung in Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gemäß § 46 BBG zweckmäßig. Dies insbesondere im Hinblick darauf, dass der Beschwerdeführerin im Rahmen des verwaltungsbehördlichen Verfahrens zum verfahrensgegenständlichen Antrag auf Neufestsetzung des Grades der Behinderung bis dato keine aktuellen medizinischen Befunde für ihr psychisches Leiden vorlegte.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall der Beschwerdeführerin noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rasch und kostengünstig festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückzuverweisen.

Von der Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung wird gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG abgesehen, zumal aus dem Beschwerdeakt ersichtlich ist, dass eine mündliche Erörterung der Rechtssache mangels ausreichender Sachverhaltserhebungen und Feststellungen der belangten Behörde eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt.

Zu Spruchteil B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.

Schlagworte

Behindertenpass Ermittlungspflicht Grad der Behinderung Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Sachverständigengutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W261.2235954.1.00

Im RIS seit

29.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

29.01.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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