TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/28 W178 2168792-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.09.2020
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Entscheidungsdatum

28.09.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54 Abs1 Z2
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §28 Abs5

Spruch


W178 2168792-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Drin. Maria PARZER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA: Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Zl: 1081657307-151035913 vom 27.07.2017, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.03.2019 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

III.

a) Die Beschwerde zu Spruchpunkt III. 1. Absatz wird als unbegründet abgewiesen.

b) Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. 2. und 3. Absatz wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG und § 52 FPG 2005 iVm § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

c) Gemäß § 54 Abs. 1 Z 2, § 58 Abs. 2 iVm § 55 AsylG 2005 wird XXXX der befristete Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" in der Dauer von zwölf Monaten ab Zustellung dieses Erkenntnisses erteilt.

IV. Der Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wird ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Herr XXXX (in der Folge: Beschwerdeführer bzw. Bf), ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 06.08.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Bei seiner niederschriftlichen Erstbefragung durch ein Organ der Landespolizeidirektion Wien am 08.08.2015 gab der Beschwerdeführer nach seinem Fluchtgrund gefragt an, dass er Afghanistan aufgrund der schlechten Lebensumstände, des Krieges und der unsicheren Lage im Alter von 14 Jahren in Richtung Iran verlassen habe müssen. Er sei dabei auch von ihm unbekannten Personen mit dem Tode bedroht worden und diese hätten ihn aufgefordert, in den Krieg zu ziehen. Den Iran habe er verlassen müssen, weil er als Afghane im Iran benachteiligt werde und seine Kinder keine Schule besuchen hätten können. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan fürchte er den Krieg, die Taliban und die Daesh.

3. Am 28.04.2016 wurde gegen den Bf nach einem handgreiflichen Streit mit seiner Ehefrau ein Betretungsverbot der gemeinsamen Wohnung durch die Polizei ausgesprochen; dieses wurde am 23.05.2016 vom Bezirksgericht Fürstenfeld um sechs Monate bis zum 23.11.2016 verlängert.

4. Mit Urteil des Bezirksgerichts Fürstenfeld vom 28.11.2016 wurde der Bf der Körperverletzung und versuchten Körperverletzung in zwei Angriffen gegen seine Ehefrau XXXX schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Diese wurde auf eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen. Mildernd wertete das Gericht dabei die Unbescholtenheit des Bf sowie den Umstand, dass es hinsichtlich einer strafbaren Handlung beim Versuch geblieben ist. Erschwerend wertete es das Zusammentreffen von zwei Vergehen.

5. Am 01.12.2016 wurde der Beschwerdeführer von einem Organ des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: belangte Behörde) einvernommen.

Hinsichtlich seiner familiären Verhältnisse gab er an, dass er verheiratet sei und drei Kinder habe. Eine Schwester und ein Bruder lebten in Österreich. Auch seine Frau und seine drei Kinder seien in Österreich, aber er lebe nicht mit ihnen zusammen. Er sei seiner Frau gegenüber handgreiflich geworden und nach einer polizeilichen Wegweisung mittlerweile auch verurteilt worden. In Afghanistan lebten noch drei Brüder; zwei davon in Kabul, einer in Bamyan. Seine Eltern seien vor 9 Monaten in den Iran übersiedelt, seine Großeltern bereits verstorben. Zwei Tanten väterlicherseits lebten im Iran, ebenso wie ein Onkel mütterlicherseits. Die restlichen Onkel und Tanten lebten in Afghanistan.

Afghanistan habe er im Alter von 12 oder 13 Jahren in Richtung Iran verlassen, weil Männer zu seiner Familie gekommen seien und verlangt hätten, dass er mitkämpfe. Dabei habe es sich vermutlich um die Taliban gehalten. Vor 20 Jahren sei er dann einmal vom Iran nach Afghanistan abgeschoben worden, sei aber kurz darauf wieder in den Iran übersiedelt. Von da an lebte er bis zu seiner Flucht nach Österreich im Iran.

Im Iran habe er zwar keinen Beruf erlernt, habe aber Tätigkeiten am Bau verrichtet.

Er sei gesund. In Österreich besuche er dreimal wöchentlich einen Deutschkurs und spiele in seiner Freizeit Fußball.

6. Mit rechtskräftigem Urteil des Bezirksgerichts Fürstenfeld vom 06.04.2017 wurde die Ehe zwischen dem Bf und seiner Ehefrau XXXX aus dem alleinigen Verschulden des Bf geschieden.

7. Mit Bescheid vom 27.07.2017, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Weiters wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, gegenüber dem Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Schließlich sprach die belangte Behörde aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

8. Mit Beschwerde vom 14.08.2017 bekämpfte der Beschwerdeführer den Bescheid in vollem Umfang. Er brachte insbesondere vor, dass die belangte Behörde ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt, sich auf mangelhafte Länderberichtet gestützt und eine mangelhafte Beweiswürdigung durchgeführt habe. Darüber hinaus liege eine unrichtige rechtliche Beurteilung vor.

Der Beschwerdeführer stellte einen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung sowie auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, in eventu auf Behebung des angefochtenen Bescheides zur Gänze und Zurückverweisung an das BFA, in eventu auf Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten sowie auf Feststellung, dass die Rückkehrentscheidung unzulässig sei und eine Aufenthaltsberechtigung (plus) zu erteilen sei, sowie auf Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz.

9.. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 11.03.2019 zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher der Beschwerdeführer in Anwesenheit seines Rechtsberaters neuerlich befragt wurde. Ein Vertreter des Bundesamtes nahm entschuldigt nicht teil.

10. Mit 01.05.2020 hat das Besuchscafe XXXX (vgl. OZ 17) eine Stellungnahme zur Entwicklung der Kontakte zwischen dem Bf und seinen Töchtern abgegeben.

11. Der Bf legte am 24.09.2020 eine Bestätigung vom 09.März 2020 betreffend den Besuch eines Deutschkurses A1.2 und weitere Kursbestätigungen vor,

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers


1.1.1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsbürger und wurde in Afghanistan im Dorf XXXX ), Provinz Daikundi am XXXX geboren. Er lebte bis zum Alter von etwa 12 Jahren in Afghanistan und übersiedelte dann in den Iran. Von dort wurde er zweimal, im Alter von etwa 18 sowie etwa 20 Jahren, nach Afghanistan abgeschoben, kehrte jedoch jeweils nach kurzer Zeit in den Iran zurück. Im Sommer 2015 verließ er den Iran und stellte am 06.08.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Der Beschwerdeführer ist Moslem, gehört der Volksgruppe der Hazara an, hat ein schiitisches Glaubensbekenntnis und ist volljährig.

1.1.2. Die Eltern des Bf leben im Iran. Drei Brüder des Bf leben noch in Afghanistan; zwei dieser Brüder studieren noch und einer seiner Brüder verrichtet Gelegenheitsjobs. Sie leben jeweils in Kabul, in Bamyian sowie Daikundi.

In Österreich leben darüber hinaus eine Schwester und ein Bruder.

1.1.3. Er hat vor etwa 16 Jahren Frau XXXX im Iran geheiratet; die Ehe wurde am 06.04.2017 in Österreich geschieden. Der Bf hat drei minderjährige Töchter: XXXX (geb. XXXX ), XXXX (geb. XXXX ) und XXXX ( XXXX )

Seine Ehefrau XXXX und die Kinder haben in Österreich jeweils den Status der Asylberechtigten.

Mit Beschluss des Bezirksgerichts Fürstenfeld vom 18.12.2017 ist dem Bf die Obsorge für seine drei Kinder entzogen und die Kindesmuter XXXX alleine damit betraut. Zugleich wurde dem Bf ein professionell begleitetes Kontaktrecht einmal pro Monat für die Dauer von bis zu drei Stunden für seine drei Kinder zugesprochen.

Er hatte nach dem Entzug der Obsorge durch das Bezirksgericht Ende 2017 seit Mitte 2018 wieder regelmäßigen Kontakt zu seinen Kindern. Dieser Kontakt fand einmal monatlich für etwa drei Stunden und unter professioneller Begleitung statt. Aufgrund einer Schließung der betroffenen Einrichtung wurden die physischen Treffen für einige Zeit unterbrochen, wobei der Bf jedoch mit seinen Kindern per IMO und Messenger in Kontakt blieb. Seit Mai/Juni 2019 fanden wieder regelmäßig physische Treffen zwischen dem Bf und den Kindern statt. Diese führten im Februar 2020 - im Beisein der zuständigen Besuchsbegleiterin - zum Abschluss einer Vereinbarung zwischen dem Bf und seiner Ex-Frau. Diese bestimmt, dass der zukünftige Kontakt zwischen dem Bf und seinen Kindern unbegleitet stattfinden kann und er einmal pro Monat, jeweils am ersten Freitag, seine Kinder treffen kann. Weitere Treffen sind nach Absprache möglich. Darüber hinaus wurde ergänzende Kommunikation per Whatsapp zwischen dem Bf und seinen beiden ältesten Töchtern vereinbart.

Er hat vor allem zu seiner jüngsten Tochter XXXX ein sehr inniges Verhältnis (vgl. Schreiben Besuchscafe XXXX vom 01.05.2020)

1.1.4. Der Beschwerdeführer verfügt – abgesehen von einem 9-monatigen Besuch einer Koranschule – über keine Schulbildung. Er war bei seiner Ankunft in Österreich Analphabet, hat aber zwischenzeitlich einen Alphabetisierungskurs sowie Deutschkurse auf dem Niveau A1 und A2 besucht. Er hat keine Berufsausbildung, aber jahrelange Berufserfahrungen als Arbeiter auf Baustellen und in einer Aluminimumfabrik im Iran. Seine Muttersprache ist Dari, er spricht auch Farsi.

1.1.5. Er hat in den Jahren 2017 und 2018 gemeinnützige Leistungen für die Gemeinde Gleisdorf erbracht. Einmal wöchentlich am Samstag hilft er bei der Reinigung der örtlichen Kirche. Er hat sich einen kleinen Freundeskreis aufgebaut, der aus ÖsterreicherInnen und AusländerInnen besteht. In seiner Freizeit trifft er sich gerne mit seinen FreundInnen, fährt Rad, spielt Fußball oder geht wandern. In Zukunft möchte er auf einer Baustelle, als Taxifahrer oder in einem Altersheim arbeiten.

Der Bf ist gesund.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Der Bf hat Afghanistan vor über 25 Jahre verlassen und die Umstände weisen auf keine asylrelevante Verfolgung hin. Der Beschwerdeführer ist durch den jahrzehntelang zurückliegenden Besuch der Taliban keiner konkreten Gefährdung oder Verfolgung ausgesetzt. Der Bf die behauptete Bedrohung nicht näher ausführen konnte, ist daraus keine Gefahr bei einer Rückkehr nach Afghanistan abzuleiten.

1.3.    Zur Lage im Herkunftsstaat

Zur Lage im Herkunftsstaat wird auf die aktuellen Länderfeststellungen der Staatendokumentation vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Teilaktualisierung am 21.07.2020 (in der Folge: LIB), sowie die Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender des Hohen Flüchtlingskommissars der Verein Nationen vom 30.08.2018 in ihrer deutschen Übersetzung (in der Folge: UNHCR-Richtlinie) und die Country Guidance: Afghanistan aus Juni 2019 des European Asylum Support Office (in der Folge: EASO Country Guidance) verwiesen.

1.3.1.  Zur Herkunftsprovinz Daikundi

Daikundi liegt in der Zentralregion Hazarajat. Als Teil des Hazarajats wird Daikundi mehrheitlich von Hazara bewohnt, wobei es eine Minderheit an Paschtunen, Belutschen und Sayeds/Sadats gibt. Die Provinz hat 507.610 Einwohner (LIB, Kapitel 2.7).

Daikundi wird als eine relativ sichere Provinz erachtet, wobei der Mangel an Infrastruktur ein großes Problem für die Bevölkerung darstellt. Im Jahr 2019 gab es 70 zivile Opfer (44 Tote und 26 Verletzte) in der Provinz Daikundi. Dies entspricht einer Steigerung von 71% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate), gefolgt von Kämpfen am Boden und Luftoperationen (LIB, Kapitel 2.7).

In der Provinz Daikundi findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden, da sie den Antragsteller in risikoreichere Situationen bringen könnten (EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3).

In der Provinz Daikundi gibt es nur eine gepflasterte Straße und einen Flughafen, auf dem es jedoch keinen Linienflugbetrieb gibt. Daikundi grenzt direkt an die Provinz Bamyan. In der Provinz Bamyan besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist von willkürlicher Gewalt persönlich betroffen ist. Das Transportwesen in Afghanistan gilt als verhältnismäßig gut, auch wenn die Infrastruktur ein kritischer Faktor für Afghanistan ist. Seit dem Fall der Taliban wurde das afghanische Verkehrswesen in städtischen und ländlichen Gebieten grundlegend erneuert. Die Provinz Daikundi kann über die Provinz Bamyan und den dort befindlichen Flughafen erreicht werden (LIB Kapitel 2.7; LIB Kapitel 2.35; EASO, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3)

1.3.2.  Zur Situation von Rückkehrern

1.3.2.1. LIB (S. 348 ff)

Seit 1.1.2020 sind 279.738 undokumentierter Afghan/innen aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt. Die höchste Anzahl an Rückkehrer/innen ohne Papiere aus dem Iran wurden im März 2020 (159.789) verzeichnet. Die Anzahl der seit 1.1.2020 von IOM unterstützten Rückkehrer/innen aus dem Iran beläuft sich auf 29.019. Seit Beginn des islamischen Fastenmonats Ramadan (Anm.: 23.4.-24.5.2020) hat sich die Anzahl der Rückkehr/innen (undokumentierter, aber auch unterstützter Rückkehr/innen) reduziert. Im gleichen Zeitraum kehrten 1.833 undokumentierte und 1.662 von IOM unterstütze Personen aus Pakistan nach Afghanistan zurück (IOM 11.3.2020). Pakistan hat temporär und aufgrund der COVID-19-Krise seine Grenze nach Afghanistan geschlossen (VoA 4.4.2020; vgl. IOM 11.5.2020; TN 18.3.2020; TiN 13.3.2020). Durch das sogenannte „Friendship Gate“ in Chaman (Anm.: in Balochistan/ Spin Boldak, Kandahar) wurden im April 37.000 afghanische Familien auf ausdrücklichen Wunsch der afghanischen Regierung von Pakistan nach Afghanistan gelassen. An einem weiteren Tag im Mai 2020 kehrten insgesamt 2.977 afghanische Staatsbürger/innen nach Afghanistan zurück, die zuvor in unterschiedlichen Regionen Balochistans gestrandet waren (DA 10.5.2020).

Im Zeitraum 1.1.2019 – 4.1.2020 kehrten insgesamt 504.977 Personen aus dem Iran und Pakistan nach Afghanistan zurück: 485.096 aus dem Iran und 19.881 aus Pakistan (IOM 4.1.2020). Im Jahr 2018 kehrten aus den beiden Ländern insgesamt 805.850 nach Afghanistan zurück: 773.125 aus dem Iran und 32.725 aus Pakistan (IOM 5.1.2019). Im Jahr 2017 stammten 464.000 Rückkehrer aus dem Iran 464.000 und 154.000 aus Pakistan (AA 2.9.2019).

Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrer als positiv empfunden (MMC 1.2019; vgl. IOM KBL 30.4.2020). Jedoch ist der Reintegrationsprozess der Rückkehrer oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen (MMC 1.2019).

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen (BFA 4.2018). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Wegen der hohen Fluktuation im Land und der notwendigen Zeit der Hilfsorganisationen, sich darauf einzustellen, ist Hilfe nicht immer sofort dort verfügbar, wo Rückkehrer sich niederlassen. UNHCR beklagt zudem, dass sich viele Rückkehrer in Gebieten befinden, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (AA 2.9.2019).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert (BFA 13.6.2019). Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kolleg/innen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse – auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer/innen dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (BFA 4.2018).

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Zudem können fehlende Vertrautheit mit kulturellen Besonderheiten und sozialen Normen die Integration und Existenzgründung erschweren. Das Bestehen sozialer und familiärer Netzwerke am Ankunftsort nimmt auch hierbei eine zentrale Rolle ein. Über diese können die genannten Integrationshemmnisse abgefedert werden, indem die erforderlichen Fähigkeiten etwa im Umgang mit lokalen Behörden sowie sozial erwünschtes Verhalten vermittelt werden und für die Vertrauenswürdigkeit der Rückkehrer gebürgt wird (AA 2.9.2019). UNHCR verzeichnete jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer. Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt (BFA 13.6.2019).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (AA 2.9.2019). UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (BFA 13.6.2019).

Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab (AA 2.9.2019). Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung, vulnerable Personen einschließlich Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran zu unterstützen, bleibt begrenzt und ist weiterhin von der Hilfe der internationalen Gemeinschaft abhängig (USDOS 13.3.2019). Moscheen unterstützen in der Regel nur besonders vulnerable Personen und für eine begrenzte Zeit. Für Afghanen, die im Iran geboren oder aufgewachsen sind und keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch. Deshalb versuchen sie in der Regel, so bald wie möglich wieder in den Iran zurückzukehren (BFA 13.6.2019).

Viele Rückkehrer, die wieder in Afghanistan sind, werden de-facto IDPs, weil die Konfliktsituation sowie das Fehlen an gemeinschaftlichen Netzwerken sie daran hindert, in ihre Heimatorte zurückzukehren (UNOCHA 12.2018). Trotz offenem Werben für Rückkehr sind essentielle Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit in den grenznahen Provinzen nicht auf einen Massenzuzug vorbereitet (AAN 31.1.2018). Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (UNOCHA 12.2018).

Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig (BFA 4.2018). Rückkehrer/innen erhalten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Es gibt keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer (BFA 4.2018; vgl. Asylos 8.2017). Der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen aus Europa kehrt direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück (AAN 19.5.2017).

In Kooperation mit Partnerninstitutionen des European Return and Reintegration Network (ERRIN) wird im Rahmen des ERRIN Specific Action Program sozioökonomische Reintegrationsunterstützung in Form von Beratung und Vermittlung für freiwillige und erzwungene Rückkehrer angeboten (IRARA 9.5.2019).

Unterstützung von Rückkehrer/innen durch die afghanische Regierung

Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer/innen und IDPs sehen bei der Reintegration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der „whole of community“ vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen eine Grundstücksvergabe vor, jedoch gilt dieses System als anfällig für Korruption und Missmanagement. Es ist nicht bekannt, wie viele Rückkehrer/innen aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben und zu welchen Bedingungen (BFA 4.2018).

Die Regierung Afghanistans bemüht sich gemeinsam mit internationalen Unterstützern, Land an Rückkehrer zu vergeben. Gemäß dem 2005 verabschiedeten Land Allocation Scheme (LAS) sollten Rückkehrer und IDPs Baugrundstücke erhalten. Die bedürftigsten Fälle sollten prioritär behandelt werden (Kandiwal 9.2018; vgl. UNHCR 6.2008). Jedoch fanden mehrere Studien Probleme bezüglich Korruption und fehlender Transparenz im Vergabeprozess (Kandiwal 9.2018; vgl. UNAMA 3.2015, AAN 29.3.2016, WB/UNHCR 20.9.2017). Um den Prozess der Landzuweisung zu beginnen, müssen die Rückkehrer einen Antrag in ihrer Heimatprovinz stellen. Wenn dort kein staatliches Land zur Vergabe zur Verfügung steht, muss der Antrag in einer Nachbarprovinz gestellt werden. Danach muss bewiesen werden, dass der Antragsteller bzw. die nächste Familie tatsächlich kein Land besitzen. Dies geschieht aufgrund persönlicher Einschätzung eines Verbindungsmannes und nicht aufgrund von Dokumenten. Hier ist Korruption ein Problem. Je einflussreicher ein Antragsteller ist, desto schneller bekommt er Land zugewiesen (Kandiwal 9.2018). Des Weiteren wurde ein fehlender Zugang zu Infrastruktur und Dienstleistungen, wie auch eine weite Entfernung der Parzellen von Erwerbsmöglichkeiten kritisiert. IDPs und Rückkehrer ohne Dokumente sind von der Vergabe von Land ausgeschlossen (IDMC/NRC 2.2014).

Bereits 2017 hat die afghanische Regierung mit der Umsetzung des Aktionsplans für Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge begonnen. Ein neues, transparenteres Verfahren zur Landvergabe an Rückkehrer läuft als Pilotvorhaben mit neuer rechtlicher Grundlage an, kann aber noch nicht flächendeckend umgesetzt werden. Eine Hürde ist die Identifizierung von geeigneten, im Staatsbesitz befindlichen Ländereien. Generell führt die unklare Landverteilung häufig zu Streitigkeiten. Gründe hierfür sind die jahrzehntelangen kriegerischen Auseinandersetzungen, mangelhafte Verwaltung und Dokumentation von An- und Verkäufen, das große Bevölkerungswachstum sowie das Fehlen eines funktionierenden Katasterwesens. So liegen dem afghanischen Innenministerium Berichte über widerrechtliche Aneignung von Land aus 30 Provinzen vor (AA 2.7.2019).

Aktuelle Informationen zu COVID-19

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Länder tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

1.3.2.2. EASO Country Guidance

This profile refers to Afghans who were born in or have spent a very long period as a refugee or a migrant in Iran or Pakistan. Not being accustomed to Afghan norms and expectations and having no support network in Afghanistan may lead to difficulties in finding job or shelter. Afghans who lived outside Afghanistan for a long period of time may also have a strong accent, which would be a further obstacle in finding a job. Afghans who grew up in Iran and are perceived as ‘Iranised’ or ‘not Afghan enough’ may sometimes receive offensive comments. In general, the treatment faced by individuals under this profile would not amount to persecution. In exceptional cases and based on additional individual circumstances, the accumulation of measures, including violations of human rights which is sufficiently severe as to affect an individual in a similar manner, could amount to persecution. (EASO Country Guidance, S. 75)

Afghan nationals who resided outside of the country over a prolonged period of time may lack essential local knowledge necessary for accessing basic subsistence means and basic services. An existing support network could also provide the applicant with such local knowledge. The background of the applicant, including their educational and professional experience and connections, as well as previous experience of living on their own outside Afghanistan, could be relevant considerations. For applicants who were born and/or lived outside Afghanistan for a very long period of time, IPA may not be reasonable if they do not have a support network which would assist them in accessing means of basic subsistence. (EASO Country Guidance, S. 139).

1.3.2.3. UNHCR-Richtlinie

Aufgrund der komplexen Situation in Afghanistan, die die Region als Ganzes betrifft, haben die Islamischen Republiken Iran, Afghanistan und Pakistan mit Unterstützung von UNHCR 2011 einen vierseitigen Konsultationsprozess initiiert, um langfristige Lösungen für afghanische Flüchtlinge in der Region zu ermitteln und umzusetzen. Auf Grundlage dieses Prozesses entstand die Solutions Strategy for Afghan Refugees to Support Voluntary Repatriation, Sustainable Reintegration and Assistance for Host Countries (SSAR), die ein umfassendes und integriertes Rahmenwerk für gemeinsame Maßnahmen bietet, dessen Ziel es ist, Asylraum für afghanische Flüchtlinge in den Nachbarländern zu erhalten und die nachhaltige Integration der Afghanen zu unterstützen, die sich freiwillig für eine Rückkehr nach Afghanistan entscheiden. Vor allem Letzteres ist wichtig angesichts der Schwierigkeiten vieler Rückkehrer sich in ihren Heimatgemeinden wiedereinzugliedern. Es wird berichtet, dass es für Rückkehrer außerordentlich schwierig ist, sich ein neues Leben in Afghanistan aufzubauen. Es wird berichtet, dass sie ganz besonders schutzbedürftig sind, da sie kaum Zugang zu Lebensgrundlagen, Nahrungsmitteln und Unterkunft haben. Zu den Problemen, mit denen sowohl Binnenvertriebene als auch zurückkehrende Flüchtlinge konfrontiert sind, zählen die andauernde Unsicherheit in ihren Herkunftsgebieten, der Verlust ihrer Existenzgrundlage und Vermögenswerte, fehlender Zugang zu medizinischer Versorgung und zu Bildung sowie Schwierigkeiten bei der Rückforderung von Land und Besitz. (UNHCR-Richtlinie, S. 41 f)

Der Protection Cluster in Afghanistan stellte schon im April 2017, nach den Rückkehrerströmen von 2016, aber noch vor den meisten Rückkehrern des Jahres 2017, Folgendes fest: „Der enorme Anstieg der Zahl der Heimkehrer [aus Pakistan und Iran] führte zu einer extremen Belastung der bereits an ihre Grenzen gelangten Aufnahmekapazität der wichtigsten Provinz- und Distriktzentren Afghanistans, nachdem sich viele Afghanen den Legionen von Binnenvertriebenen anschlossen, da sie aufgrund des sich zuspitzenden Konflikts nicht in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren konnten. [...] Mit begrenzten Lebensgrundlagen, ohne soziale Schutznetze und angewiesen auf schlechte Unterkünfte sind die Vertriebenen nicht nur mit einem erhöhten Risiko der Schutzlosigkeit in ihrem alltäglichen Leben konfrontiert, sondern werden auch in erneute Vertreibung und negative Bewältigungsstrategien gezwungen, wie etwa Kinderarbeit, frühe Verheiratung, weniger und schlechtere Nahrung usw.”“ Laut der Erhebung über die Lebensbedingungen in Afghanistan 2016-2017 leben 72,4 Prozent der städtischen Bevölkerung Afghanistans in Slums, informellen Siedlungen oder unter unzulänglichen Wohnverhältnissen. (UNHCR-Richtlinie, S. 126)

UNHCR ist ferner der Auffassung, dass eine interne Schutzalternative nur dann als zumutbar angesehen werden kann, wenn die Person im voraussichtlichen Neuansiedlungsgebiet Zugang zu einem Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gemeinschaft hat und man sich vergewissert hat, dass diese willens und in der Lage sind, den Antragsteller tatsächlich zu unterstützen. Die einzige Ausnahme von diesem Erfordernis der externen Unterstützung stellen nach Auffassung von UNHCR alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im erwerbsfähigen Alter ohne die oben beschriebenen besonderen Gefährdungsfaktoren dar. Diese Personen können unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in städtischen und halbstädtischen Gebieten leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Lebensgrundlagen zur Sicherung der Grundversorgung bieten und die unter der tatsächlichen Kontrolle des Staates stehen. (UNHCR-Richtlinie, S. 124 f)

1.3.3.  Zu Besonderheiten in Folge der COVID-19-Pandemie

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet.

Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf. Der Beschwerdeführer ist nicht Angehöriger dieser Risikogruppe.

2.       Beweiswürdigung

Der Sachverhalt ergibt sich aus dem zur gegenständlichen Rechtssache vorliegenden Verfahrensakt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und des Bundesverwaltungsgerichts, insbesondere den Einvernahmen vor der Polizei, dem BFA und der öffentlichen Verhandlung vor dem BVwG am 11.03.2019.

2.1.    Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Der Bf konnte genaue und detaillierte Angaben zu Herkunftsregion, Volkszugehörigkeit und Staatsangehörigkeit machen. Diese Angaben blieben im Wesentlichen über den gesamten Gang des Verfahrens gleich. Sie sind vor dem Hintergrund der Lage im Herkunftsstaat auch plausibel. Hinsichtlich der behaupteten Herkunftsregion, Volkszugehörigkeit und Staatsangehörigkeit wird den Angaben des Bf daher Glauben geschenkt.

Hinsichtlich seines Verhältnisses zu seiner Ex-Frau und den gemeinsamen Kindern gründen auf den dem Gericht vorliegenden Urteile und Beschlüsse des Bezirksgerichts Feldkirch Die Ausgestaltung des Kontaktes ergibt sich insbesondere aus den genauen und plausiblen Angaben des Bf, die sich darüber hinaus mit einem dem Gericht vorliegenden Schreiben der Besuchsbegleiterin des Besuchscafés XXXX decken und von diesem ergänzt sowie durch Fotos der Treffen mit seinen Töchtern untermauert werden.

2.2.    Zu den Feststellungen zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Bf macht im Laufe des bisherigen Verfahrens lediglich vage Angaben zur Art seiner Bedrohung bzw. Verfolgung in Afghanistan. Der Bf gab in der Erstbefragung an, dass er von ihm unbekannten Personen mit dem Tode bedroht und von diesen aufgefordert worden sei, in den Krieg zu ziehen (EB vom 08.08.2015, S. 6.). In der Einvernahme vor dem BFA präzisierte er, dass der angesprochene Vorfall passiert sei, als er 12 oder 13 Jahre alt war, sohin im Jahr 1995 oder 1996. Er glaube darüber hinaus, dass es sich bei der Gruppierung um die Taliban gehandelt habe und habe Angst vor den Taliban (NS BFA vom 01.12.2016, S. 4f). In der Verhandlung vor dem BVwG sagte der Bf, dass er nicht wisse, ob es sich um die Taliban gehandelt habe und er sich damals mit so etwas nicht ausgekannt habe (NS BVwG vom 11.03.2019, S. 3f).

Das Vorbringen des Bf ist wenig konkret und es bleibt durchgehend unklar, von welcher Gruppierung die Bedrohung und der Anwerbeversuch ausgegangen sein soll und welcher Grund den Vorkommnissen zugrunde lag. Darüber hinaus bezieht sich der Bf auf Ereignisse, die mittlerweile etwa 25 Jahre zurückliegen. In der Zeit seither ist es zu keinen konkreten Bedrohungshandlungen gegen den Bf oder eines der Familienmitglieder des Bf gekommen.

2.3.    Zu den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die dem gegenständlichen Erkenntnis zugrunde gelegte länderkundliche LIB, die EASO Country Guidance und die UNHCR-Richtlinie durchliefen einen qualitätssichernden Objektivierungsprozess für die Gewinnung von Informationen zur Lage im Herkunftsstaat:

Das den getroffenen Feststellungen zugrundeliegende Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (LIB) des BFA wurde gemäß den vom Staatendokumentationsbeirat beschlossenen Standards und der Methodologie der Staatendokumentation erstellt.

Zum Leitfaden des EASO (European Asylum Office) heißt es: „The country guidance represents the common assessment of the situation in the country of origin by EU Member States“ (EASO Country Guidance, S. 3).

Die UNHCR-Richtlinie wird vom UNHCR „auf Grundlage der langjährigen Expertise in Angelegenheiten, die im Zusammenhang mit der Schutzberechtigung und der Bestimmung des Flüchtlingsstatus stehen“ veröffentlicht und sie basiert auf „detaillierten Recherchen, Berichten von Länderbüros des globalen UNHCR-Netzwerkes, Informationen von unabhängigen Länderexperten und –wissenschaftlern sowie anderen Quellen, die gründlich auf ihre Zuverlässigkeit überprüft wurden.“ (UNHCR-Richtlinie, Vorbemerkung).

Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat und zur aktuell vorliegenden Pandemie aufgrund des Corona-Virus (Pkt. 1.3.4.): Die unter Pkt. 1.3.4. getroffenen unstrittigen Feststellungen zur aktuell vorliegenden Pandemie aufgrund des Corona-Virus ergeben sich aus den unbedenklichen tagesaktuellen Berichten und Informationen (s. jeweils mit einer Vielzahl weiterer Hinweise u.a.:

https://www.sozialministerium.at/Informationen-zum-Coronavirus.html [31.08.2020]; https://www.ages.at/themen/krankheitserreger/coronavirus/ [31.08.2020]; https://orf.at/corona/stories/3157533/ [31.08.2020]; https://www.tagesschau.de/ausland/coronavirus-karte-101.html  [31.08.2020])


3.       Rechtliche Beurteilung

3.1.    Zu Spruchteil A.I.:

3.1.1.  Gesetzliche Grundlagen

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

Flüchtling ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Gemäß Art. 1 Abschnitt C Z 1 GFK wird dieses Abkommen auf eine Person, die unter die Bestimmungen des Abschnittes A fällt, nicht mehr angewendet werden, wenn sie sich freiwillig wieder unter den Schutz ihres Heimatlandes gestellt hat.

3.1.2.  Judikatur:

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffs ist die "begründete Furcht vor Verfolgung."

Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. zB. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen.

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; 15.03.2001, 99/20/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.06.1994, 94/19/0183, 18.02.1999, 98/20/0468).

Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011).

3.1.3.  Im konkreten Fall:

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht dem Bf individuell und konkret keine Verfolgung durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen. Dem Bf droht auch keine Zwangsrekrutierung durch die Taliban oder durch andere Personen und keine Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara. Eine Verfolgung oder konkrete Bedrohung seiner eigenen Person oder eines seiner Familienmitglieder seither hat der Bf weder dargelegt noch finden sich Hinweise darauf.

Der Bf ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines in Österreich ausgeübten Lebensstils oder seinem Aufenthalt in einem europäischen Land weder psychischer noch physischer Gewalt ausgesetzt.

Wie den Feststellungen zu entnehmen ist, liegt beim Beschwerdeführer keine europäische oder "westliche" Lebenseinstellung seiner Person, die zu einer Gefährdung führen könnte, vor. Auch EASO bewertet in seinen Leitlinien vom Juni 2019 das Risikopotential von Männern, welche als „verwestlicht“ angesehen werden könnten, im Allgemeinen als minimal (EASO Kapitel Common analysis: Afghanistan, II. 13). Es sind nach den zitierten Länderinformationen keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthaltes in Europa Opfer von Gewalttaten wurden.

Aufgrund der getroffenen Feststellungen zur Lage der Herkunftsregion des Beschwerdeführers ist auch sonst nicht darauf zu schließen, dass gegenständlich sonstige mögliche Gründe für eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung aus einem der Gründe nach Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK vorliegen.

Es ist daher der Beschwerde gegen Spruchpunkt I mangels Vorliegens einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr keine Folge zu geben.


3.2.    Zu Spruchteil A.II.:

3.2.1.  Gesetzliche Grundlagen:

Nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten einem Fremden zuzuerkennen,

1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder

2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,

wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Nach § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 leg. cit. mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 leg. cit. oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 leg. cit. zu verbinden.

Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG 2005 sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 leg. cit.) offensteht.

Die Zuerkennung von subsidiärem Schutz setzt somit voraus, dass die Abschiebung des Betroffenen in seine Heimat entweder eine reale Gefahr einer Verletzung insbesondere von Art. 2 oder 3 EMRK bedeuten würde oder für ihn eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes im Herkunftsstaat des Betroffenen mit sich bringen würde.

3.2.2.  Judikatur

Der Verwaltungsgerichtshof hat sich mit der bisherigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung zum realen Risiko einer drohenden Verletzung der Art. 2 und 3 EMRK und zur ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im innerstaatlichen Konflikt auseinandergesetzt und diese wie folgt zusammengefasst (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137):

Nach dieser Rechtsprechung setzt die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 2 oder 3 EMRK eine Einzelfallprüfung voraus, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") insbesondere einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. etwa VwGH 08.09.2016, Ra 2016/20/0053 mwN).

Der VfGH weist in den Erk 12.12.2019, E 3369/2019 und E 2692/2019 darauf hin, dass bei im Iran geborenen und aufgewachsenen, alleinstehenden, jungen und arbeitsfähigen afghanischen Männern in Afghanistan auf die EASO Richtlinien vom Juni 2019 abzustellen ist:

"For applicants who were born and/or lived outside Afghanistan for a very long period of time, IPA may not be reasonable if they do not have a support network which would assist them in accessing means of basic subsistence. The following elements should be taken into account in this assessment:

-        Support network: a support network would be of particular importance in the assessment of the reasonableness of IPA for such applicants.

-        Local knowledge: particular consideration should be given to whether the applicant has local knowledge and maintained any ties with Afghanistan. Afghan nationals who resided outside of the country over a prolonged period of time may lack essential local knowledge necessary for accessing basic subsistence means and basic services. The support network could also provide the applicant with such local knowledge.

-        Social and economic background: the background of the applicant, including their educational and professional experience and connections, as well as whether they were able to live on their own outside Afghanistan, could be relevant considerations."

In den Erk wird weiter ausgeführt, dass aus dem Bericht des EASO sohin hervorgeht, dass es für die genannte Personengruppe hinsichtlich der innerstaatlichen Fluchtalternative (bzw. eine Neuansiedlung Anmerkung BVwG, vgl. oben) einer Beurteilung im Einzelfall unter Heranziehung der folgenden Kriterien bedürfe: Unterstützungsnetzwerk, Ortskenntnis der betroffenen Person bzw. Verbindungen zu Afghanistan sowie sozialer und wirtschaftlicher Hintergrund (insbesondere Bildungs- und Berufserfahrung, Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans).

Der VwGH hat in seinem Erk vom 12.12.2019, Ra 2019/01/0243, sowie einem Beschluss vom 30.12.2019, Ra 2019/18/0241 seine Judikatur unter Berufung auf die Judikatur des EGMR und UNHCR-Richtlinien wiederholt, wonach für einen alleinstehenden, gesunden, erwachsenen Mann ohne besondere Vulnerabilität, auch wenn er nicht in Afghanistan aufgewachsen ist, eine innerstaatliche Fluchtalternative jedenfalls offenstehe. Es entspreche zudem der – auch zu dieser Berichtslage ergangenen – Rechtsprechung des VwGH, dass allein die Tatsache, dass ein Asylwerber in seinem Herkunftsstaat über keine familiären Kontakte verfüge, die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht hindere, selbst dann nicht, wenn er nicht in Afghanistan geboren wurde, dort nie gelebt habe und keine Angehörigen in Afghanistan habe, sondern im Iran aufgewachsen und dort zur Schule gegangen sei (unter Hinweis auf VwGH 17.09.2019, Ra 2019/14/0160, 17.12.2019, Ra 2019/18/0398).

3.2.3.  Im konkreten Fall:

Die Provinz Daikundi kommt nach den Länderberichten für eine Rückkehr in Frage, weil sie zu den relativ sicheren Provinzen zählt.

Bei der Wertung der oben unter 3.2.2. genannten Kriterien im Sinne eines beweglichen Systems und unter Beachtung der EASO Richtlinien sowie der Erk VfGH 12.12.2019, E 3369/2019 und E 2692/2019 vom selben Datum, gelangt das Gericht zu der Auffassung, dass der Bf die Mehrheit der maßgeblichen Kriterien, die bei einer Ansiedlung in Afghanistan relevant sind, erfüllt:

Der BF ist ein leistungsfähiger Mann im erwerbsfähigen Alter. Er verfügt über einige Jahre Berufserfahrung auf Baustellen und als Arbeiter in einer Aluminiumfabrik. Die grundsätzliche Möglichkeit einer Teilnahme am Erwerbsleben kann in Ansehung des BF vorausgesetzt werden.

Das BVwG geht demnach davon aus, dass der BF in Afghanistan grundsätzlich in der Lage sein wird, sich mit Unterstützung seiner Brüder in der afghanischen Gesellschaft wieder Kontakte zu knüpfen und mit eigener Erwerbstätigkeit ein ausreichendes Einkommen zur Sicherstellung des eigenen Lebensunterhalts zu erwirtschaften. Ferner ist davon auszugehen, dass er von seiner Familie Unterstützung, etwa durch Zurverfügungstellung von Nahrung und Unterkunft, finden wird. Ein Bruder des Bf lebt in der Herkunftsprovinz Daikundi – dieser könnte ihn im Falle einer Neuansiedlung in der Provinz Daikundi unterstützen. Aufgrund der ersten zwölf Lebensjahre, die er in seiner Heimatprovinz verbracht hat, besitzt er noch grundlegende Ortskenntnisse.

Es ist daher der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. keine Folge zu geben.

3.3.    Zu Spruchteil A.III.a betreffend § 57 AsylG

Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 Abs. 1 AsylG liegen unbestritten nicht vor.

Die Beschwerde war in diesem Spruchpunkt des angefochtenen Bescheides daher abzuweisen.


3.4.    Zu Spruchteil A.III.b. und c.:

3.4.1.  Gesetzliche Grundlagen:

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt wird.

§ 55 AsylG 2005 lautet:

"§ 55 (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine ‚Aufenthaltsberechtigung plus' zu erteilen, wenn

1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist und

2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. I Nr. 189/1955) erreicht wird.

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine ‚Aufenthaltsberechtigung' zu erteilen."

Die maßgeblichen Bestimmungen des FPG lauten:

"§ 46 (1) Fremde, gegen die eine Rückkehrentscheidung, eine Anordnung zur Außerlandesbringung, eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot durchsetzbar ist, sind von den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Auftrag des Bundesamtes zur Ausreise zu verhalten (Abschiebung), wenn

1. die Überwachung ihrer Ausreise aus Gründen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit notwendig scheint,

2. sie ihrer Verpflichtung zur Ausreise nicht zeitgerecht nachgekommen sind,

3. auf Grund bestimmter Tatsachen zu befürchten ist, sie würden ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nachkommen, oder

4. sie einem Einreiseverbot oder Aufenthaltsverbot zuwider in das Bundesgebiet zurückgekehrt sind.

§ 50 (1) FPG: Die Abschiebung Fremder in einen Staat ist unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl Nr. 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.

(2) Die Abschiebung in einen Staat ist unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Art. 33 Z 1 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005).

(3) Die Abschiebung in einen Staat ist unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.

§ 52 (1) [...]

(2) Z. 2: Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird, und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

[...]

(9) Mit der Rückkehrentscheidung ist gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.

[...]

§ 55 (1) Mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 wird zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.

(2) Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.

[...]"

§ 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG lautet:

"§ 9 (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerl

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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