TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/10 W194 2126977-2

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Veröffentlicht am 10.11.2020
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Entscheidungsdatum

10.11.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z4
FPG §52 Abs9
FPG §55
VwGVG §28 Abs5

Spruch

W194 2126977-2/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Daniela SABETZER über die Beschwerde des XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Manuel Dietrich in 6971 Hard, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.07.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben.

Die Spruchpunkte I., III., IV., V. und VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos aufgehoben.

Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird dahingehend abgeändert, dass dem Antrag des Beschwerdeführers vom 04.04.2019 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 stattgegeben und die befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter um zwei weitere Jahre bis zum 10.11.2022 verlängert wird.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsbürger, stellte am 12.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Am 12.04.2016 wurde der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde einvernommen. Er legte ua. ärztliche Berichte über seine XXXX Erkrankung und Bestätigungen über Krankenhausaufenthalte vor. Er gab weiters an, er habe Afghanistan hauptsächlich aus gesundheitlichen Gründen verlassen.

3. Mit Bescheid vom 04.05.2016 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 04.05.2017 (Spruchpunkt III.).

Die Zuerkennung des Status des subsidiären Schutzes wurde damit begründet, dass dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Erkrankung sowie der aktuellen prekären Sicherheitslage eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar sei; eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe ihm derzeit ebenfalls nicht offen.

4. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob der Beschwerdeführer am 24.05.2016 Beschwerde, welche mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 12.06.2017, W137 2126977-1/12E, als unbegründet abgewiesen wurde.

5. Über Antrag des Beschwerdeführers vom 06.04.2017 verlängerte die belangte Behörde mit Bescheid vom 02.05.2017 die befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bis zum 04.05.2019. Begründend stellte die belangte Behörde dazu fest, dass aufgrund der Ermittlungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat in Verbindung mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers das Vorliegen der Voraussetzungen für die Verlängerung als glaubwürdig gewertet werden könne.

6. Am 04.04.2019 brachte der Beschwerdeführer einen weiteren Antrag auf Verlängerung der ihm erteilten befristeten Aufenthaltsberechtigung bei der belangten Behörde ein.

7. In der Folge leitete die belangte Behörde ein Verfahren zur Aberkennung des dem Beschwerdeführer zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten ein, wobei im Verwaltungsakt festgehalten wurde, dass wegen geänderter Verhältnisse im Herkunftsstaat die Voraussetzungen für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz nicht bzw. nicht mehr vorlägen.

8. Der Beschwerdeführer wurde in diesem Verfahren am 26.06.2019 von der belangten Behörde einvernommen und legte ein Konvolut an Unterlagen vor: Ambulanzberichte, Arztbriefe, einen diätologischen Befund, eine ärztliche Bestätigung vom 12.06.2019 über die Notwendigkeit einer engmaschigen Betreuung des Beschwerdeführers in einer spezialisierten XXXX und die Notwendigkeit einer lückenlosen kontinuierlichen Versorgung mit XXXX als absolut lebensnotwendig für den Beschwerdeführer, einen Lohnzettel, eine Bestätigung über die Teilnahme an einem B1-Deutschkurs, sowie ein ÖSD-Zertifikat über die bestandene A2-Deutschprüfung.

9. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 01.07.2019, der dem Beschwerdeführer am 04.07.2019 zugestellt wurde, erkannte die belangte Behörde den dem Beschwerdeführer mit Bescheid vom 04.05.2016 zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen ab (Spruchpunkt I.), wies den Antrag des Beschwerdeführers auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG iVm § 52 Abs. 2 Z 4 FPG 2005 (Spruchpunkt (IV.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.), und die Frist für seine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Zur Aberkennung des Status des subsidiären Schutzberechtigten führte die belangte Behörde in der rechtlichen Beurteilung aus, dass die Voraussetzungen die zur Zuerkennung des Status geführt hätten nicht mehr vorliegen würden und stützte die Aberkennung auf den zweiten Fall des § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005.

10. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer am 25.07.2019 fristgerecht Beschwerde. Bezüglich seiner Erkrankung brachte er vor, dass eine regelmäßige Therapie und fachärztliche Kontrolle für ihn lebensnotwendig und eine Abschiebung als unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK zu werten sei, da der Zugang zur erforderlichen Behandlung und zu Medikamenten in Afghanistan, wenn überhaupt, nur unter erschwerten Voraussetzungen möglich sei.

11. Die belangte Behörde übermittelte dem Bundesverwaltungsgericht mit hg. am 29.07.2019 eingelangter Beschwerdevorlage den gegenständlichen Verwaltungsakt.

12. Mit am 27.08.2020 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangter Verfahrensleitender Anordnung des Verwaltungsgerichtshofes wurde der Fristsetzungsantrag des Beschwerdeführers mit der Aufforderung zugestellt, binnen drei Monaten die Entscheidung zu erlassen.

13. Mit Schreiben vom 27.08.2020 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht den Parteien des Verfahrens die Ladungen zur Verhandlung sowie die im Beschwerdefall vorläufig als relevant erachteten Berichte zur Lage in Afghanistan sowie Informationen zu COVID-19.

14. Am 18.09.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer sowie sein Rechtsvertreter teilnahmen und der ein Dolmetscher für die Sprache Dari beigezogen wurde. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung – wie vorab angekündigt – fern.

In der Verhandlung wurde der Beschwerdeführer zu seinem Leben in Afghanistan und in Österreich, seinen Familienverhältnissen und zu seiner Erkrankung befragt. Des Weiteren wurden die im Verfahren für relevant erachteten Länderberichte sowie Informationen zu COVID-19 erörtert.

Der Beschwerdeführer legte ergänzend folgende Unterlagen vor: eine Stellungnahme zur medizinischen Situation des Beschwerdeführers vom Landeskrankenhaus XXXX vom 07.09.2020, verschiedene Unterlagen zu seiner Erkrankung, ein Unterstützungsschreiben vom 13.09.2020, diverse Lohn-Gehaltsabrechnungen, das am 30.03.2017 bestandene ÖSD Deutsch-Zertifikat A2, eine B1 Deutschkurs-Teilnahmebestätigung, eine Bestätigung über ein Mietverhältnis, eine Arbeitsunfähigkeitsbestätigung vom 02.12.2019 sowie eine Strafregisterbescheinigung XXXX mit Strafregisterauszug vom 22.07.2020.

15. Die Niederschrift der mündlichen Verhandlung samt den vorgelegten Unterlagen wurde der belangten Behörde im Anschluss an die Verhandlung übermittelt.

16. Mit Schreiben vom 01.10.2020 brachte der Beschwerdeführer eine Stellungnahme ein, in der ausgeführt wurde, dass eine Rückkehr nach Afghanistan den Beschwerdeführer aufgrund seiner gesundheitlichen Situation in seinen Rechten gemäß Art. 3 EMRK verletzen würde und ihm auch unzumutbar wäre. Er legte außerdem Unterlagen betreffend seine Arbeitstätigkeit vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zum Beschwerdeführer:

1.1.1 Zur Person des Beschwerdeführers, seiner Familie und seiner Erkrankung:

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und stammt aus XXXX in Afghanistan. Seine Muttersprache ist Dari.

Der Beschwerdeführer ist verheiratet; seine Ehefrau lebt in XXXX . Der Beschwerdeführer hat regelmäßig telefonischen Kontakt mit ihr. Sie lebt unter schwierigen Lebensumständen und wird von ihrer Familie nicht unterstützt. Der Beschwerdeführer unterstützt seine Ehefrau finanziell.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Familienangehörigen.

Beim Beschwerdeführer besteht laut ärztlicher Bestätigung des Landeskrankenhauses XXXX vom 07.09.2020 seit August 2015 die „Erkrankung eines XXXX . Diese Diagnose stellt eine XXXX dar und ist ohne zeitliche Unterbrechung dauerhaft und verlässlich XXXX versorgungspflichtig. Sollte diese Erkrankung nicht XXXX behandelt werden, drohen innert kürzester Zeit lebensbedrohende Komplikationen, die unweigerlich mit dem Tod enden. Aus diesem Grund ist eine adäquate medizinische Versorgung unabdingbar“.

Der Beschwerdeführer benötigt dauernd eine XXXX wird alle zwei Monate im Spital kontrolliert. Zudem wird der Beschwerdeführer alle 15 Tage vom Hausarzt untersucht.

1.1.2. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer stellte am 12.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Mit Bescheid vom 04.05.2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab. Die diesbezügliche Beschwerde des Beschwerdeführers wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 12.06.2017, W137 2126977-1/12E, als unbegründet abgewiesen.

Mit Bescheid vom 04.05.2016 wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 04.05.2017 erteilt. Die Zuerkennung des Status des subsidiären Schutzes wurde damit begründet, dass dem Beschwerdeführer aufgrund seiner XXXX Erkrankung sowie der aktuellen prekären Sicherheitslage eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar sei; eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe ihm derzeit ebenfalls nicht offen.

Über Antrag des Beschwerdeführers vom 06.04.2017 verlängerte die belangte Behörde mit Bescheid vom 02.05.2017 die Gültigkeit der befristeten Aufenthaltsberechtigung bis zum 04.05.2019. Am 04.04.2019 brachte der Beschwerdeführer einen weiteren Antrag auf Verlängerung der ihm erteilten befristeten Aufenthaltsberechtigung bei der belangten Behörde ein. Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid vom 01.07.2019 erkannte die belangte Behörde den dem Beschwerdeführer zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen ab und wies den Antrag des Beschwerdeführers auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung ab.

Der Beschwerdeführer lebt seit über fünf Jahren in Österreich. Er hält sich seit der Antragstellung durchgehend in Österreich auf.

Der Beschwerdeführer nimmt am sozialen und gesellschaftlichen Leben in Österreich aktiv und in umfangreicher Weise teil. Er hat viele österreichische Staatsbürger als Freunde.

Der Beschwerdeführer spricht gut Deutsch. Er absolvierte am 30.03.2017 das ÖSD Deutsch Zertifikat A2.

Der Beschwerdeführer war in den vergangenen zwei Jahren regelmäßig berufstätig. Seit 21.09.2020 geht er einer Vollzeitbeschäftigung XXXX nach.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.1.3. Zur aktuellen Situation im Falle einer Rückkehr des Beschwerdeführers in sein Heimatland:

Die allgemeine Sicherheitslage in XXXX des Beschwerdeführers, sowie in den weiteren Landesteilen Afghanistans hat sich seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an den Beschwerdeführer mit Bescheid vom 04.05.2016 und der Verlängerung dessen Aufenthaltsberechtigung mit Bescheid vom 02.05.2017 nicht maßgeblich geändert und keinesfalls verbessert.

Die persönlichen Umstände des Beschwerdeführers haben sich seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit Bescheid vom 04.05.2016 und der Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung mit Bescheid vom 02.05.2017 nicht maßgeblich geändert und keinesfalls verbessert.

Die XXXX Erkrankung des Beschwerdeführers hat sich seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit Bescheid vom 04.05.2016 und seit der Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung mit Bescheid vom 02.05.2017 nicht maßgeblich geändert und keinesfalls verbessert.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan liefe der Beschwerdeführer in seinem gesamten Heimatland Gefahr, insbesondere aufgrund seines Gesundheitszustandes in eine lebensbedrohende bzw. ausweglose Situation zu geraten. Er kann bei einer Rückkehr auch nicht mit der Unterstützung durch Familienangehörige rechnen.

1.2. Zum neuartigen Corona-Virus:

1.2.1. Informationen des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz:

„[…]

Umbenennung von Krankheit und Erreger

Am 11.02.2020 verlautbarte die WHO (World Health Organisation) einen offiziellen Namen für die Erkrankung: COVID-19 (coronavirus disease 2019, „Coronavirus-Krankheit 2019“).

Die Bezeichnung für den Erreger wurde von 2019-nCoV auf SARS-CoV-2 (severe acute respiratory syndrome coronavirus 2) geändert.

Übersicht

COVID-19 ist eine durch das Coronavirus SARS-CoV-2 verursachte Infektionskrankheit. Sie wurde erstmals 2019 in Metropole Wuhan (Provinz Hubei) beschrieben, entwickelte sich im Januar 2020 in der Volksrepublik China zur Epidemie und breitete sich schließlich zur weltweiten COVID-19-Pandemie aus. Die genaue Ausbruchsquelle ist derzeit noch unbekannt. Es wird angenommen, dass sich das Virus wie andere Erreger von Atemwegserkrankungen hauptsächlich durch Tröpfcheninfektion verbreitet.

[…]

Inhaltlicher Stand: 16. April 2020

[…]

Die COVID-19-Risikogruppe-Verordnung listet die medizinischen Gründe (Indikationen) für die Zugehörigkeit einer Person zur COVID-19-Risikogruppe. Auf Grundlage dieser Indikationen darf eine Ärztin/ein Arzt ein COVID-19-Risiko-Attest ausstellen.

Die medizinischen Hauptindikationen sind:

1. fortgeschrittene chronische Lungenkrankheiten, welche eine dauerhafte, tägliche, duale Medikation benötigen

2. chronische Herzerkrankungen mit Endorganschaden, die dauerhaft therapiebedürftig sind, wie ischämische Herzerkrankungen sowie Herzinsuffizienzen

3. aktive Krebserkrankungen mit einer jeweils innerhalb der letzten sechs Monate erfolgten onkologischen Pharmakotherapie (Chemotherapie, Biologika) und/oder einer erfolgten Strahlentherapie sowie metastasierende Krebserkrankungen auch ohne laufende Therapie

4. Erkrankungen, die mit einer Immunsuppression behandelt werden müssen

5. fortgeschrittene chronische Nierenerkrankungen

6. chronische Lebererkrankungen mit Organumbau und dekompensierter Leberzirrhose ab Childs-Stadium B

7. ausgeprägte Adipositas ab dem Adipositas Grad III mit einem BMI >= 40

8. Diabetes mellitus

9. arterielle Hypertonie mit bestehenden Endorganschäden, insbesondere chronische Herz- oder Niereninsuffizienz, oder nicht kontrollierbarer Blutdruckeinstellung.

Diese medizinischen Hauptindikationen werden in der Verordnung weiter unterteilt und genau beschrieben.

Daneben können auch andere, ähnlich schwere Erkrankungen mit funktionellen oder körperlichen Einschränkungen einen besonderen Schutz durch ein COVID-19-Risiko-Attest begründen.

(03.07.2020, 07:00)“

1.2.2. Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz über die Definition der allgemeinen COVID-19-Risikogruppe (COVID-19-Risikogruppe-Verordnung), BGBl. II Nr. 203/2020:

„Allgemeines

§ 1.

(1) Diese Verordnung regelt die Definition der allgemeinen COVID-19-Risikogruppe.

(2) COVID-19-Risiko-Atteste nach § 735 Abs. 2 ASVG bzw. § 258 Abs. 2 B-KUVG dürfen nur auf Grundlage der nach § 2 geregelten medizinischen Indikationen ausgestellt werden.

Medizinische Indikationen

§ 2. (1) Medizinische Indikationen für die Zuordnung zur COVID-19-Risikogruppe nach § 735 Abs. 1 ASVG bzw. § 258 Abs. 1 B-KUVG sind:

[…]

8. Diabetes mellitus

a) Typ I mit regelmäßig erhöhtem HBA1c > 7,5%,

[…]

§ 3. Diese Verordnung tritt mit 6. Mai 2020 in Kraft. COVID-19-Risiko-Atteste können erstmals mit Wirksamkeit ab diesem Zeitpunkt ausgestellt werden.“

1.3. Zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer:

Im Verfahren wurden folgende Quellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers herangezogen:

?        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 21.07.2020

?        UN-OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, 20.05.2020

?        EASO Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019

?        UNHCR-RICHTLINIEN zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018

1.3.1. Länderspezifische Anmerkungen COVID-19 (aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation):

„Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. Die hier gesammelten Informationen sollen die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung wiedergeben. Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert.

In 30 der 34 Provinzen Afghanistans wurden mittlerweile COVID-19-Fälle registriert (NYT 22.4.2020). Nachbarländer von Afghanistan, wie China, Iran und Pakistan, zählen zu jenen Ländern, die von COVID-19 besonders betroffen waren bzw. nach wie vor sind. Dennoch ist die Anzahl, der mit COVID-19 infizierten Personen relativ niedrig (AnA 21.4.2020). COVID-19 Verdachtsfälle können in Afghanistan aufgrund von Kapazitätsproblem bei Tests nicht überprüft werden – was von afghanischer Seite bestätigt wird (DW 22.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; NYT 22.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Auch wird die Dunkelziffer von afghanischen Beamten höher geschätzt (WP 20.4.2020). In Afghanistan können derzeit täglich 500 bis 700 Personen getestet werden. Diese Kapazitäten sollen in den kommenden Wochen auf 2.000 Personen täglich erhöht werden (WP 20.4.2020). Die Regierung bemüht sich noch weitere Testkits zu besorgen – was Angesicht der derzeitigen Nachfrage weltweit, eine Herausforderung ist (DW 22.4.2020).

Landesweit können – mit Hilfe der Vereinten Nationen – in acht Einrichtungen COVID-19-Testungen durchgeführt werden (WP 20.4.2020). Auch haben begrenzte Laborkapazitäten und -ausrüstung einige Einrichtungen dazu gezwungen Testungen vorübergehend einzustellen (WP 20.4.2020). Unter anderem können COVID-19-Verdachtsfälle in Einrichtungen folgender Provinzen überprüft werden: Kabul, Herat, Nangarhar (TN 30.3.2020) und Kandahar. COVID-19 Proben aus angrenzenden Provinzen wie Helmand, Uruzgan und Zabul werden ebenso an die Einrichtung in Kandahar übermittelt (TN 7.4.2020a).

Jahrzehntelange Konflikte in Afghanistan machen das Land anfällig für den Ausbruch von Krankheiten: nach wie vor ist Polio dort endemisch (als eines von drei Ländern weltweit) (WP 20.4.2020) außerdem ist das Gesundheitssystem fragil (AnA 21.4.2020; vgl. QA 16.4.2020; ARZ KBL 7.5.2020). Beispielsweise mangelt es an adäquaten Medikamenten für Patient/innen, die an COVID-19 erkrankt sind. Jedoch sind die wenigen Medikamente, die hierfür zur Verfügung stehen, kostenfrei (ARZ KBL 7.5.2020). Der landesweite Mangel an COVID-19-Testkits sowie an Isolations- und Behandlungseinrichtungen verdeutlichen diese Herausforderung (AnA 21.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Landesweit stehen 10.400 Krankenhausbetten (BBC 9.4.2020) und 300 Beatmungsgeräte zur Verfügung (TN 8.4.2020; vgl. DW 22.4.2020; QA 16.4.2020). 300 weitere Beatmungsgeräte plant die afghanische Regierung zu besorgen. Weiters mangelt es an geschultem Personal, um diese medizinischen Geräte in Afghanistan zu bedienen und zu warten (DW 22.4.2020; vgl. ARZ KBL 7.5.2020). Engpässe bestehen bei den PPE (personal protective equipment), persönlichen Schutzausrüstungen für medizinisches Personal; außerdem wird mehr fachliches Personal benötigt, um Patient/innen auf den Intensivstationen zu betreuen (ARZ KBL 7.5.2020).

Aufgrund der Nähe zum Iran gilt die Stadt Herat als der COVID-19-Hotspot Afghanistans (DW 22.4.2020; vgl. NYT 22.4.2020); dort wurde nämlich die höchste Anzahl bestätigter COVID-19-Fälle registriert (TN 7.4.2020b; vgl. DW 22.4.2020). Auch hat sich dort die Anzahl positiver Fälle unter dem Gesundheitspersonal verstärkt. Mitarbeiter/innen des Gesundheitswesens berichten von fehlender Schutzausrüstung – die Provinzdirektion bestätigte dies und erklärtes mit langwierigen Beschaffungsprozessen (TN 7.4.2020b). Betten, Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräte und Medikamente wurden bereits bestellt – jedoch ist unklar, wann die Krankenhäuser diese Dinge tatsächlich erhalten werden (NYT 22.4.2020). Die Provinz Herat verfügt über drei Gesundheitseinrichtungen für COVID-19-Patient/innen. Zwei davon wurden erst vor kurzem errichtet; diese sind für Patient/innen mit leichten Symptomen bzw. Verdachtsfällen des COVID-19 bestimmt. Patient/innen mit schweren Symptomen hingegen, werden in das Regionalkrankenhaus von Herat, welches einige Kilometer vom Zentrum der Provinz entfernt liegt, eingeliefert (TN 7.4.2020b). In Hokerat wird die Anzahl der Beatmungsgeräte auf nur 10 bis 12 Stück geschätzt (BBC 9.4.2020; vgl. TN 8.4.2020).

Beispiele für Maßnahmen der afghanischen Regierung

Eine Reihe afghanischer Städte wurde abgesperrt (WP 20.4.2020), wie z.B. Kabul, Herat und Kandahar (TG 1.4.2020a). Zusätzlich wurde der öffentliche und kommerzielle Verkehr zwischen den Provinzen gestoppt (WP 20.4.2020). Beispielsweise dürfen sich in der Stadt Kabul nur noch medizinisches Personal, Bäcker, Journalist/innen, (Nahrungsmittel)Verkäufer/innen und Beschäftigte im Telekommunikationsbereich bewegen. Der Kabuler Bürgermeister warnte vor "harten Maßnahmen" der Regierung, die ergriffen werden, sollten sich die Einwohner/innen in Kabul nicht an die Anordnungen halten, unnötige Bewegungen innerhalb der Stadt zu stoppen. Die Sicherheitskräfte sind beauftragt zu handeln, um die Beschränkung umzusetzen (TN 9.4.2020a).

Mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (WP 22.4.2020): Aufgrund der Maßnahmen sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen (TG 1.4.2020). Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (NYT 22.4.2020).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die International Organization for Migration (IOM) unterstützen das afghanische Ministerium für öffentliche Gesundheit (MOPH) (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020); die WHO übt eine beratende Funktion aus und unterstützt die afghanische Regierung in vier unterschiedlichen Bereichen während der COVID-19-Krise (WHO MIT 10.5.2020): 1. Koordination; 2. Kommunikation innerhalb der Gemeinschaften 3. Monitoring (durch eigens dafür eingerichtete Einheiten – speziell was die Situation von Rückkehrer/innen an den Grenzübergängen und deren weitere Bewegungen betrifft) und 4. Kontrollen an Einreisepunkten – an den 4 internationalen Flughäfen sowie 13 Grenzübergängen werden medizinische Kontroll- und Überwachungsaktivitäten durchgeführt (WHO MIT 10.5.2020; vgl. IOM 11.5.2020).

Taliban und COVID-19

Ein Talibansprecher verlautbarte, dass die Taliban den Konflikt pausieren könnten, um Gesundheitsbehörden zu erlauben, in einem von ihnen kontrollierten Gebiet zu arbeiten, wenn COVID-19 dort ausbrechen sollte (TN 2.4.2020; vgl. TD 2.4.2020). In der nördlichen Provinz Kunduz, hätten die Taliban eine Gesundheitskommision gegründet, die direkt in den Gemeinden das öffentliche Bewusstsein hinsichtlich des Virus stärkt. Auch sollen Quarantänezentren eingerichtet worden sein, in denen COVID-19-Verdachtsfälle untergebracht wurden. Die Taliban hätten sowohl Schutzhandschuhe, als auch Masken und Broschüren verteilt; auch würden sie jene, die aus anderen Gebieten kommen, auf COVID-19 testen (TD 2.4.2020). Auch in anderen Gebieten des Landes, wie in Baghlan, wird die Bevölkerung im Rahmen einer Informationsveranstaltung in der Moschee über COVID-19 informiert. Wie in der Provinz Kunduz, versorgen die Taliban die Menschen mit (Schutz)material, helfen Entwicklungshelfern dabei zu jenen zu gelangen, die in Taliban kontrollierten Gebieten leben und bieten sichere Wege zu Hilfsorganisationen, an (UD 13.3.2020).

Der Umgang der Taliban mit der jetzigen Ausnahmesituation wirft ein Schlaglicht auf den Modus Operandi der Truppe. Um sich die Afghanen in den von ihnen kontrollierten Gebieten gewogen zu halten, setzen die Taliban auf Volksnähe. Durch die Präsenz vor Ort machten die Islamisten das Manko wett, dass sie kein Geld hätten, um COVID-19 medizinisch viel entgegenzusetzen: Die Taliban können Prävention betreiben, behandeln können sie Erkrankte nicht (NZZ 7.4.2020).

Aktuelle Informationen zu Rückkehrprojekten

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer/innen im Rahmen der freiwilligen Rückkehr. Aufgrund des stark reduzierten Flugbetriebs ist die Rückkehr seit April 2020 nur in sehr wenige Län-der tatsächlich möglich. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei, wie bekannt, Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (IOM AUT 18.5.2020).

IOM Österreich bietet derzeit, aufgrund der COVID-19-Lage, folgende Aktivitäten an:

?        Qualitätssicherung in der Rückkehrberatung (Erarbeitung von Leitfäden und Trainings)

?        Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und Reintegration im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten (Virtuelle Beratung, Austausch mit Rückkehrberatungseinrichtungen und Behörden, Monitoring der Reisemöglichkeiten) (IOM AUT 18.5.2020).

Das Projekt RESTART III – Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems und der Reintegration freiwilliger Rückkehrer/innen in Afghanistan“ wird bereits umgesetzt. Derzeit arbeiten die österreichischen IOM-Mitarbeiter/innen vorwiegend an der ersten Komponente (Unterstützung des österreichischen Rückkehrsystems) und erarbeiten Leitfäden und Trainingsinhalte. Die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan ist derzeit aufgrund fehlender Flugverbindungen nicht möglich. IOM beobachtet die Situation und steht diesbezüglich in engem Austausch mit den zuständigen Rückkehrberatungseinrichtungen und den österreichischen Behörden (IOM AUT 18.5.2020)

Mit Stand 18.5.2020, sind im laufenden Jahr bereits 19 Projektteilnehmer/innen nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit ihnen, als auch mit potenziellen Projektteilnehmer/innen, welche sich noch in Österreich befinden, steht IOM Österreich in Kontakt und bietet Beratung/Information über virtuelle Kommunikationswege an (IOM AUT 18.5.2020).

Informationen von IOM Kabul zufolge, sind IOM-Rückkehrprojekte mit Stand 13.5.2020 auch weiterhin in Afghanistan operativ (IOM KBL 13.5.2020).

Quellen:

[…]“

1.3.2. Sicherheitslage (aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation):

„Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2019). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Nichtsdestotrotz, hat die afghanische Regierung wichtige Transitrouten verloren (USDOD 12.2019).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welcher Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens ist (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 8.11.2019-6.2.2020 verzeichnete die UNAMA 4.907 sicherheitsrelevante Vorfälle – ähnlich dem Vorjahreswert. Die Sicherheitslage blieb nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurden in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die alle samt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen waren in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gingen die Kämpfe in den Wintermonaten – Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans weiterhin schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mision (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindlich-initiierte Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen – speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu verstärkten Angriffen feindlicher Elemente von insgesamt 6% und effektiver Angriffe von 4% im Jahr 2019 im Vergleich zu den bereits hohen Werten des Jahres 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte – insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite – insbesondere der Taliban – sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direkten (25%) und indirekten Beschüssen (5%) verantwortlich – dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

[…]

Quellen:

[...]“

1.3.3. Zur Provinz Herat (aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation):

„Letzte Änderung: 22.4.2020

Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans und teilt eine internationale Grenze mit dem Iran im Westen und Turkmenistan im Norden. Weiters grenzt Herat an die Provinzen Badghis im Nordosten, Ghor im Osten und Farah im Süden (UNOCHA 4.2014). Herat ist in 16 Distrikte unterteilt: Adraskan, Chishti Sharif, Fersi, Ghoryan, Gulran, Guzera (Nizam-i-Shahid), Herat, Enjil, Karrukh, Kohsan, Kushk (Rubat-i-Sangi), Kushk-i-Kohna, Obe/Awba/Obah/Obeh (AAN 9.12.2018; vgl. PAJ o.D., PAJ 13.6.2019), Pashtun Zarghun, Shindand, Zendahjan. Zudem bestehen vier weitere „temporäre“ Distrikte – Poshtko, Koh-e-Zore (Koh-e Zawar), Zawol und Zerko (CSO 2019; vgl. IEC 2018) –, die zum Zweck einer zielgerichteteren Mittelverteilung aus dem Distrikt Shindand herausgelöst wurden (AAN 3.7.2015; vgl. PAJ 1.3.2015). Die Provinzhauptstadt von Herat ist Herat-Stadt (CSO 2019). Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans (PAJ o.D.).

Die CSO schätzt die Bevölkerung der Provinz für den Zeitraum 2019-20 auf 2.095.117 Einwohner, 556.205 davon in der Provinzhauptstadt (CSO 2019). Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen (PAJ o.D.). Herat-Stadt war historisch gesehen eine tadschikisch dominierte Enklave in einer paschtunischen Mehrheits-Provinz, die beträchtliche Hazara- und Aimaq-Minderheiten umfasst (USIP 2015). Umfangreiche Migrationsströme haben die ethnische Zusammensetzung der Stadt verändert. Der Anteil an schiitischen Hazara ist seit 2001 besonders gestiegen, da viele aus dem Iran rückgeführt oder aus den Provinzen Zentralafghanistans vertrieben wurden (AAN 3.2.2019). Der Grad an ethnischer Segregation ist in Herat heute ausgeprägt (USIP 2015; vgl. BFA Staatendokumentation 13.6.2019).

Die Provinz ist durch die Ring Road mit anderen Großstädten verbunden (TD 5.12.2017). Eine Hauptstraße führt von Herat ostwärts nach Ghor und Bamyan und weiter nach Kabul. Andere Autobahn verbinden die Provinzhauptstadt mit dem afghanisch-turkmenischen Grenzübergang bei Torghundi sowie mit der afghanisch-iranischen Grenzüberquerung bei Islam Qala (iMMAP 19.9.2017). Ein Flughafen mit Linienflugbetrieb zu internationalen und nationalen Destinationen liegt in der unmittelbaren Nachbarschaft von Herat-Stadt (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).

Laut UNODC Opium Survey 2018 gehörte Herat 2018 nicht zu den zehn wichtigsten Schlafmohn anbauenden Provinzen Afghanistans. 2018 sank der Schlafmohnanbau in Herat im Vergleich zu 2017 um 46%. Die wichtigsten Anbaugebiete für Schlafmohn waren im Jahr 2018 die Distrikte Kushk und Shindand (UNODC/MCN 11.2018).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Herat gehört zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen Afghanistans, jedoch sind Taliban-Kämpfer in einigen abgelegenen Distrikten aktiv und versuchen oft terroristische Aktivitäten durchzuführen (KP 19.5.2019; vgl. KP 17.12.2018). Je mehr man sich von Herat-Stadt (die als „sehr sicher“ gilt) und den angrenzenden Distrikten Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer wird der Einfluss der Taliban (BFA Staatendokumentation 13.6.2019).

Auch im Vergleich zu Kabul gilt Herat-Stadt einem Mitarbeiter von IOM-Kabul zufolge zwar als sicherere Stadt, doch gleichzeitig wird ein Anstieg der Gesetzlosigkeit und Kriminalität verzeichnet: Raubüberfälle nahmen zu und ein Mitarbeiter der Vereinten Nationen wurde beispielsweise überfallen und ausgeraubt. Entführungen finden gelegentlich statt, wenn auch in Herat nicht in solch einem Ausmaß wie in Kabul (BFA Staatendokumentation 13.6.2019).

Der Distrikt mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen ist der an Farah angrenzende Distrikt Shindand, wo die Taliban zahlreiche Gebiete kontrollieren. Wegen der großen US-Basis, die in Shindand noch immer operativ ist, kontrollieren die Taliban jedoch nicht den gesamten Distrikt. Aufgrund der ganz Afghanistan betreffenden territorialen Expansion der Taliban in den vergangenen Jahren sah sich jedoch auch die Provinz Herat zunehmend von Kampfhandlungen betroffen. Dennoch ist das Ausmaß der Gewalt im Vergleich zu einigen Gebieten des Ostens, Südostens, Südens und Nordens Afghanistans deutlich niedriger (BFA Staatendokumentation 13.6.2019).

Innerhalb der Taliban kam es nach der Bekanntmachung des Todes von Taliban-Führer Mullah Omar im Jahr 2015 zu Friktionen (AAN 11.1.2017; vgl. RUSI 16.3.2016; SAS 2.11.2018). Mullah Rasoul, der eine versöhnlichere Haltung gegenüber der Regierung in Kabul einnahm, spaltete sich zusammen mit rund 1.000 Kämpfern von der Taliban-Hauptgruppe ab. Die Regierungstruppen kämpfen in Herat angeblich nicht gegen die Rasoul-Gruppe, die sich für Friedensgespräche und den Schutz eines großen Pipeline-Projekts der Regierung in der Region einsetzt (SAS 2.11.2018). Innerhalb der Taliban-Hauptfraktion wurde der Schattengouverneur von Herat nach dem Waffenstillstand mit den Regierungstruppen zum Eid al-Fitr-Fest im Juni 2018 durch einen als Hardliner bekannten Taliban aus Kandahar ersetzt (UNSC 13.6.2019).

Auf Seiten der Regierung ist das 207. Zafar-Corps der ANA für die Sicherheit in der Provinz Herat verantwortlich (USDOD 6.2019; vgl. PAJ 2.1.2019), das der NATO-Mission Train, Advise, and Assist Command - West (TAAC-W) untersteht, welche von italienischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 6.2019; vgl. KP 16.12.2018).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Der folgenden Tabelle kann die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle bzw. Todesopfer für die Provinz Herat gemäß ACLED und Globalincidentmap (GIM) für das Jahr 2019 und das erste Quartal 2020 entnommen werden (Quellenbeschreibung s. Disclaimer, hervorgehoben: Distrikt der Provinzhauptstadt):

 

2019

2020 (bis 31.3.2020)

 

GIM

Vorfälle

ACLED

Vorfälle (>= 1 Tote)

GIM

Vorfälle

ACLED

Vorfälle (>= 1 Tote)

1.       Adraskan

 

8

 

1

2.       Chishti Sharif

6

8

9

5

3.       Enjil

 

2

 

1

4.       Fersi

2

6

 

 

5.       Ghoryan

5

13

 

4

6.       Gulran

4

11

1

3

7.       Guzera

 

7

 

2

8.       Herat

89

33

29

10

9.       Karrukh

 

4

 

 

10.      Koh-e-Zore*

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

11.      Kohsan

1

9

1

4

12.      Kushk

1

11

 

4

13.      Kushk-i-Koh

 

7

 

3

14.      Obe

 

23

 

7

15.      Pashtun Zarghun

13

23

1

3

16.      Poshtko*

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

17.      Shindand

17

61

2

13

18.      Zawol*

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

19.      Zendahjan

1

3

 

1

20.      Zerko*

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

Insg.

139

229

43

61

*temporäre Distrikte; sicherheitsrelevante Vorfälle in diesen Distrikten werden dem Distrikt Shindand zugerechnet. (ACLED 9.4.2020; ACLED 3.4.2020; GIM o.D.)

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 400 zivile Opfer (144 Tote und 256 Verletzte) in der Provinz Herat. Dies entspricht einer Steigerung von 54% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren improvisierte Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge), gefolgt von Kämpfen am Boden und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2020).

In der Provinz Herat kommt es regelmäßig zu militärischen Operationen (KP 16.6.2019; vgl. KP 28.9.2019, KP 29.6.2019, KP 17.6.2019, 21.5.2019). Unter anderem kam es dabei auch zu Luftangriffen durch die afghanischen Sicherheitskräfte (KP 16.6.2019; vgl. AN 23.6.2019). In manchen Fällen wurden bei Drohnenangriffen Talibanaufständische und ihre Führer getötet (AN 23.6.2019; vgl. KP 17.12.2018; KP 25.12.2018). Der volatilste Distrikt von Herat ist Shindand. Dort kommt es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen rivalisierenden Taliban-Fraktionen, wie auch zwischen den Taliban und regierungsfreundlichen Kräften (NYTM 12.12.2018; AJ 7.12.2018; AN 30.11.2018; KP 28.4.2018; VoA 13.4.2018). Regierungskräfte führten beispielsweise im Dezember 2018 (KP 17.12.2018) und Januar 2019 Operationen in Shindand durch (KP 26.1.2019). Obe ist neben Shindand ein weiterer unsicherer Distrikt in Herat (TN 8.9.2018). Im Dezember 2018 wurde berichtet, dass die Kontrolle über Obe derzeit nicht statisch ist, sondern sich täglich ändert und sich in einer Pattsituation befindet (AAN 9.12.2018). Im Juni 2019 griffen die Aufständischen beispielsweise mehrere Posten der Polizei im Distrikt an (AT 2.6.2019; vgl. PAJ 13.6.2019) und die Sicherheitskräfte führten zum Beispiel Anfang Juli 2019 in Obe Operationen durch (XI 11.7.2019). Außerdem kommt es in unterschiedlichen Distrikten immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften (KP 5.7.2019; vgl. PAJ 30.6.2019) wie z.B in den Distrikten Adraskan, Fersi, Kushk-i-Kohna, Obe, Rabat Sangi, Shindand und Zawol (PAJ 30.6.2019).

Auf der Autobahn zwischen Kabul und Herat sowie Herat und Farah werden Reisende immer wieder von Taliban angehalten; diese fordern von Händlern und anderen Reisenden Schutzgelder (ST 14.12.2018).

Anmerkung: Weitere Informationen zu Herat – u.a. zur Sicherheitslage – können der Analyse der Staatendokume

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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